Wunderbarer Vater-Sohn-Roman!
Antonio ist gerade 18, als er mit seinem Vater von Italien nach Marseille reist. Ein besonders fähiger Arzt soll den jungen Mann wegen seiner im Kindesalter aufgetretenen Epilepsie begutachten und diese ...
Antonio ist gerade 18, als er mit seinem Vater von Italien nach Marseille reist. Ein besonders fähiger Arzt soll den jungen Mann wegen seiner im Kindesalter aufgetretenen Epilepsie begutachten und diese bestenfalls neu bewerten. Dort angekommen erwartet die beiden ein ungewöhnlicher Auftrag. Sie sollen zwei Nächte wach bleiben, Antonios Körper so in einen Ausnahmezustand versetzt und auf seine Belastbarkeit hin überprüft werden. Überraschend sehen Vater und Sohn sich nun mit viel freier, gemeinsamer Zeit konfrontiert, einem Zustand, der ihnen auf Anhieb wenig geheuer ist. Denn wie plötzlich umgehen mit diesem fast fremden Menschen? Die Trennung der Eltern ist lange her, Vater und Kind sich lange schon nicht mehr vertraut. Sie lassen sich treiben, folgen anfangs noch zaghaft der Strömung der flirrenden Stadt, den Ratschlägen der Einheimischen und beginnen zunehmend Gefallen an der Sache zu finden, aneinander und am Zauber des Balikwas. „Das ist Tagalog, die Hauptsprache der Philippinen. Es ist schwer zu übersetzen. Es bedeutet so viel wie: unverhofft in eine neue Situation springen, den Blickwinkel ändern, die Dinge, die wir zu kennen glauben, in einem anderen Licht sehen.“ S. 171
Völlig ohne Kitsch und Pathos kommt diese Geschichte einer zarten Annäherung aus, die sich intensiv und atmosphärisch auf wenigen Seiten entfaltet, eine leichte Melancholie verströmend, die mich konstant umfangen hielt. Da steckt ganz viel Klugheit drin, Sanftheit, ein sicheres Gespür für Beziehungen und ihre Tücken, für Nähe und Distanz, und wie die eine die andere zu überwinden vermag in kleinen Momenten wahrer Intimität. Eine ganz zauberhafte, inspirierende Lektüre, die es auch schon als Taschenbuch gibt. Lesen bitte!
„Als mein Vater geendet hatte und dem Echo der beiden abschließenden, wehmütigen Tonfolgen nachsann, brandete warmherziger Beifall auf. Ich applaudierte ebenfalls und klatschte so lange, bis ich mir sicher war, dass er mich gesehen hatte, denn ich begann zu begreifen, dass es Missverständnisse gibt, und in diesem Moment sollte es keine geben. In den Jahren danach sollte ich noch jede Menge unterschiedlichsten Jazz hören. Ich sollte Begriffe kennenlernen, von denen ich in jener Nacht in Marseille nicht den leisesten Schimmer hatte: Variationen, Paraphrasen, Dissonanzen, Cluster, Chromatik, Wechselspiel, modale Improvisation, Free Jazz. Doch alles - sei es viel oder wenig -, was ich wirklich über Jazz weiß, habe ich in jener Nacht gelernt.“ S. 114