REZENSION – Eine von der norwegischen Autorin und Filmemacherin Grethe Bøe (51) unbeabsichtigte Aktualität erhielt ihr bereits 2021 im Original veröffentlichter Politthriller „Puls der Arktis“, der erst jetzt im Januar beim Heyne Verlag in deutscher Übersetzung erschien. Zwar hatte Russland bereits im Frühjahr 2014 die ukrainische Halbinsel Krim widerrechtlich annektiert, doch die heutige Gefahr einer konkreten militärischen Konfrontation zwischen Russland und den in der NATO verbündeten Ländern war zum damaligen Zeitpunkt, als die Autorin ihren Roman abschloss, noch nicht absehbar. Umso erschreckender liest sich nun der norwegische Bestseller angesichts des Ukraine-Krieges und der akuten Sorge vieler Menschen vor einem ungewollten Kriegseintritt der NATO.
Am nördlichsten Ende unserer Zivilisation, außerhalb des üblichen Blickfeldes der politisch interessierten Öffentlichkeit, beginnt die NATO im norwegischen Bodø nahe der Grenze zu Russland ein großangelegtes Wintermanöver. Ausgerechnet jetzt wird ein Versorgungshubschrauber der Norweger auf einem Routineflug zwischen einer Bohrinsel und dem Festland von einem russischen Jagdflugzeug bedrängt. Ein NATO-Jäger mit der samischen Pilotin Ylva Nordahl und ihrem Ausbilder, dem aus nordafrikanischem Kriegseinsatz traumatisiert heimgekehrten US-Piloten John Evans, wird zum Schutz des Helikopters geschickt. Beim Zusammentreffen beider Jagdflugzeuge kommt es zu einer verhängnisvollen Berührung der Maschinen. Der NATO-Flieger dringt manovrierunfähig in russisches Gebiet ein, das Flugzeug geht nahe einem Atomkraftwerk zu Bruch, Trümmer verursachen Tote und Verletzte, und beide Piloten landen an ihren Fallschirmen angetrieben weit im Osten. Die Russen sehen im Eindringen des NATO-Fliegers einen gezielten Angriff auf das Atomkraftwerk, lassen Truppen an der Grenze aufmarschieren und setzen Spezialkräfte auf die beiden Piloten an, die zu Fuß über die weite Schnee- und Eislandschaft im arktischen Winter die norwegische Grenze zu erreichen versuchen. Es ist für beide ein Kampf ums Überleben, ein Kampf gegen die Zeit und die unwirtliche Natur. Russland stellt dem Westen ein dreitägiges Ultimatum zur Aufklärung des Zwischenfalls. Die NATO-Führung glaubt ihrerseits, durch den russischen Flieger provoziert worden zu sein. Die Situation scheint aus dem Ruder zu laufen. Nicht nur im Westen, auch in Russland fürchtet man, an der Schwelle zum dritten Weltkrieg zu stehen.
In Grethe Bøes Thriller liest man Szenen und Sätze, die uns heute erschreckend aktuell erscheinen, hören wir sie doch fast täglich in den Nachrichten: „Ein Angriff auf eines der Mitglieder der Organisation [NATO] wäre ein Angriff auf alle 29 Mitgliedsländer und würde einen Weltkrieg auslösen, den Russland niemals überleben würde.“ Auch der Blick auf den russischen Präsidenten – an keiner Stelle fällt der Name Putin, doch ist er zweifellos gemeint – zeigt inzwischen oft Gehörtes: „Das Volk in der kollektiven Angst vor einem äußeren Feind zu einen, war ein wohlbekannter Trick, weshalb er den Westen und die USA als Feind auserkoren hatte. … Indem das Volk, die Masse, sich von einem äußeren Feind bedroht fühlte, gab es schnell seine individuelle Freiheit auf, es verwarf seine Fähigkeit zum kritischen Denken und seine persönliche Verantwortung.“
Die Autorin lässt uns in ihrem spannenden Thriller Schritt für Schritt die militärischen und politischen Entscheidungen miterleben, die jede weitere Eskalation verhindern sollen – Fragen, die sich Politik und Militär gerade jetzt stellen, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine geht: Wie können wir vermeiden, dass der Konflikt eskaliert? Wie vermeiden wir, dass sich die Angelegenheit zu einem Krieg entwickelt? Auch im Roman steht der Westen vor der Frage: Würde Russland wirklich Krieg gegen die NATO führen?
Grethe Bøe zeigt in ihrem mitreißenden Thriller „Puls der Arktis“ nachvollziehbar und aus wechselnder Perspektive beider Seiten objektiv, wie leicht eine scheinbar unbedeutende Begegnung zweier Flugzeuge gegnerischer Mächte eskalieren und – von der Politik beider Seiten unbeabsichtigt – einen Weltkrieg auslösen kann. Dabei macht nicht allein die Handlung ihren Roman zu einem fesselnden Pageturner. Auch die ungewöhnliche und für die meisten Leser wohl unbekannte Landschaft des Polarkreises, in der sich die mehrfach preisgekrönte Filmemacherin bestens auskennt, trägt ihren Teil zur Atmosphäre und Spannung bei.