„Das Volk der Bäume“ ist das ursprünglich im Jahre 2013 veröffentlichte Debüt der Autorin Hanya Yanagihara, das jedoch erst nach dem Erfolg ihres monumentalen Meisterwerks „Ein wenig Leben“ auch in Deutschland veröffentlicht wurde. Inhaltlich stand nach eigenen Angaben der Aufstieg und Fall des Virologen Dr. Daniel Carleton Gajdusek Modell für den Wissenschaftler Dr. Norton Perina, der vor allem eins ist: ein überaus fähiger Erzähler.
Worum geht’s?
Der Roman liest sich wie eine Biografie, die von Nortons Freund und Mitarbeiter Dr. Kubodera behutsam bearbeitet und durch Fußnoten ergänzt wurde. Norton berichtet von seiner Kindheit, seinen Anfängen in medizinischen Laboren und schließlich von seiner Reise nach Ivu'ivu, die sein Leben grundlegend verändern sollte. Gemeinsam mit seinem Mentor, dem Anthropologen Paul Tallent, entdeckt er auf der mikronesischen Insel eine Gruppe von Menschen, die körperlich nicht altern, was sie dem Verzehr einer bisher unbekannten Schildkrötenart verdanken. Doch anders als sein Mentor tritt Norton mit diesem Wissen an die Öffentlichkeit und eröffnet so den Weg zur systematischen Ausbeutung und allmählichen Vernichtung des zuvor unberührten Inselvolks. Ebenso rasch wie der Aufstieg Nortons, der für die „Entdeckung des ewigen Lebens“ später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird, zeichnet sich jedoch auch sein Untergang ab, als er Jahre später vor Gericht seinen eigenen Adoptivkindern gegenübersteht und schließlich, des Kindesmissbrauchs bezichtigt, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird.
Inhaltlich wird all das bereits zu Beginn des Buches in einem Zeitungsartikel offenbart, weshalb diese Informationen keine „Spoiler“ darstellen. Umso verwunderlicher ist es, dass mit dieser Zusammenfassung tatsächlich alle wichtigen Ereignisse abgedeckt sind und darüber hinaus nichts grundlegend Bedeutsames geschieht. Wie schafft es die Autorin also, dem Leser einen Charakter, dessen menschliche Abgründe und Grausamkeit von Beginn an bekannt sind, nahe zu bringen?
Der Erzähler:
Es sei vorab noch einmal klargestellt: Dr. Norton Perina ist keine Identifikationsfigur. Er ist genau der überhebliche und nach Anerkennung lechzende Mann, den der Klappentext verspricht. Und doch muss ich gestehen, dass er mich durch seinen Erzählstil mitgenommen hat, in die kargen Labore der medizinischen Fakultät, in die aus grünen Schattierungen bestehenden Wälder Ivu'ivus und schließlich in die Mitte seiner Familie, wenn man sie denn als solche bezeichnen darf. Der Schreibstil schafft mit einer unvergleichlichen Feinfühligkeit den Spagat zwischen deskriptiver Ausführlichkeit und behutsamen Kürzungen, um die Handlung voranzutreiben. Hinzu kommt ein Wortschatz, der so reich ist, dass ich mich glücklich schätzen dürfte, könnte ich mich jemals derart gewählt ausdrücken. Und so muss ich ganz ohne Scham gestehen, dass ich wie hypnotisiert war von der Art des Erzählens, in den Bann gezogen von einem Charakter, für den ich noch vor dem Einlegen der CD nichts als Verachtung empfunden hatte.
Doch immer genau dann, wenn ich Nortons Gedanken zu verstehen glaubte und beinahe einen Anflug von Verständnis verspürte, riss mich die geballte Abscheulichkeit der Handlung, insbesondere Nortons eigener Anteil daran, zurück in die Realität. „Das Volk der Bäume“ ist kein angenehmes Buch, das sich zwischendurch lesen bzw. hören lässt. Es ist in erster Linie ein Buch über menschliche Abgründe und lässt dabei nur wenig aus. Es spiegelt den Zwiespalt von Wissenschaft und Ethik wider, über vor langer Zeit faktisch nicht vorhandene Rechte der für Versuchszwecke herangezogenen Tiere und Menschen. Nicht zuletzt ist es auch eine unterschwellige, aber klare Kritik an der Überheblichkeit westlicher Kulturen über indigene Völker, die sich scheinbar mit jeder Entdeckung eines unberührten Naturvolks wiederholt. Und vor allem ist es ein Buch über krankhafte Obsession und was daraus erwachsen kann, wenn man nicht damit umzugehen lernt.
Ich habe viele Rezensionen gelesen, die an genau dieser Stelle der Autorin vorwerfen, sie selbst würde mit diesem Buch die Tierquälerei, Frauenfeindlichkeit und ganz besonders den Missbrauch Minderjähriger rechtfertigen, ja sogar unterstützen. Doch wer dies behauptet, hat sich wohl selbst vom Erzähler hypnotisieren lassen und vergessen, wer dort eigentlich zu uns spricht. „Das Volk der Bäume“ ist vordergründig die versuchte Rehabilitation eines Wissenschaftlers, ein Schriftstück „in eigener Sache“ sozusagen, um die in Verruf geratene Reputation wiederherzustellen. Aus diesem Grund vermag ich diesen Vorwurf nicht zu teilen, auch wenn ich gestehen muss, dass auch ich stellenweise vergaß, dass ich gerade dem Täter zuhörte. Die Autorin selbst kommt nicht zu Wort und wertet das Geschehen nicht, sodass es dem Leser selbst überlassen bleibt, sich seine Meinung zu bilden.
Darüber hinaus habe ich des Öfteren gelesen, dass die Wendung am Ende des Buches für einige Leser überraschend kam. Was diese Wendung beinhaltet, werde ich aus offensichtlichen Gründen nicht verraten, aber nur so viel: ich hätte es der Autorin übel genommen, wenn sie uns die Antwort auf diese Frage schuldig geblieben wäre, selbst wenn ich insgeheim längst wusste, wie sie lauten würde.
Insgesamt bleiben dennoch viele kleine Fragen offen, sodass ich jedem empfehlen würde, sich nach dem Lesen oder Hören mit jemandem über dieses Buch auszutauschen. Die Autorin lässt gerade so viel Freiraum für Spekulationen, um dem Leser seine eigenen kleinen Theorien zu ermöglichen, ohne dabei Norton zu heroisieren. Genau diese Feinfühligkeit, dieser Anspruch ist es, den ich Tag für Tag in zahlreichen anderen Büchern zu finden hoffe und dabei meist enttäuscht werde. Es ist eine Kunst, gerade so viel zu sagen, um alles Wesentliche begreifbar zu machen, und gerade so viel zu verschweigen, um mich zum Nachdenken anzuregen. Auch wenn das Buch gerade im zweiten Drittel einige kaum merkliche Längen offenbart, dienten diese rückblickend dazu, um auch den Nebenfiguren genügend Raum zur Entfaltung zu bieten und dem Leser Gelegenheit zum Aufstellen weiterer Theorien zu geben. Und um vorsichtig eine meiner ganz persönlichen Theorien zu äußern, spielt die gezielte Unterdrückung homosexueller Neigungen eine nicht zu unterschätzende Rolle in den Interaktionen der Figuren. Aber das ist, wie gesagt, nur meine ganz persönliche Auffassung.
Letztlich bleibt es dem Leser selbst überlassen, welche Antwort er auf die zentrale Frage des Romans findet. Ist ein großartiger Wissenschaftler, der Abscheuliches getan hat oder getan haben soll, tatsächlich großartig?
Die Sprecher:
Zunächst war ich etwas überrascht, dass sich der Hörbuch Hamburg Verlag bei einer derart bekannten Autorin nicht für die „üblichen Verdächtigen“ der Hörbuchbranche, zum Beispiel für einen Herrn Nathan oder einen Herrn Jäger, entschieden hat. Stattdessen übernehmen die Schauspieler Gunter Schoß als Dr. Norton Perina und Matthias Bundschuh als Dr. Ronald Kubodera die Hauptrollen, die mir bis dahin nahezu unbekannt waren. Aber bereits nach der ersten halben Stunde lernte ich diese Entscheidung zu schätzen, da man sich für zwei stimmlich stark kontrastierende, aber gleichermaßen fähige Sprecher entschieden hat, die ihre Rollen mit einer Feinfühligkeit vertonen, die der des Erzählstils allemal gerecht wird. Ihr einmaliges Gespür für Zwischentöne und Implikationen machen das Hörbuch zu einem anspruchsvollen, aber ungemein fesselnden Hörerlebnis.
Fazit:
„Das Volk der Bäume“ ist genau das, was man von Hanya Yanagihara erwartet: eine schonungslose Charakterstudie über menschliche Abgründe, so grausam und abstoßend, dass man vermutlich weghören würde, wäre da nicht der unvergleichlich betörende, hypnotische Schreibstil, der auch über kleine Längen hinwegtäuscht und einen eigenen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann. Ebenso brillant ist die Vertonung geraten, die mit zwei Sprechern aufwartet, die mit der nötigen Seriösität, aber auch Feinfühligkeit den Charakteren ihre Stimme leihen. Ein Hörbuch, das mich schockiert zurückgelassen, aber ungemein anspruchsvoll unterhalten hat. Mein bisheriges Jahreshighlight!