Ein schwungvolles, zorniges und anschauliches "Nicht-Geschichtsbuch"
"Bevor wir anfangen, sollten wir etwas klären: Das ist kein Geschichtsbuch. Ich wiederhole, das ist kein Geschichtsbuch." Dies gleich vorweg klarzustellen ist Jugendbuchautor Jason Reynolds sehr wichtig. ...
"Bevor wir anfangen, sollten wir etwas klären: Das ist kein Geschichtsbuch. Ich wiederhole, das ist kein Geschichtsbuch." Dies gleich vorweg klarzustellen ist Jugendbuchautor Jason Reynolds sehr wichtig. Denn mit "Stamped" unternimmt er den Versuch, Ibram X. Kendis ausführliche Zusammenstellung der Geschichte des Rassismus in seinem preisgekrönten Roman "Gebrandmarkt", Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen. Um das zu erreichen, schlendert er aufgeteilt in fünf Zeitabschnitte vom ersten Rassisten der Welt über die Anfänge des jungen Amerikas bis zur heutigen Zeit und stellt dabei wichtige PolitikerInnen, AktivistInnen und Entwicklungen sprachlich lebendig und gut verständlich vor. Das vorliegende Buch ist also eine Art schwungvollerer, zorniger und anschaulicher Remix von Kendis 600-Seiten-schwerem "Gebrandmarkt" und kommt meiner Meinung nach genau zur richtigen Zeit.
Wenn Jason Reynolds schreibt "Dies ist kein Geschichtsbuch", meint er, die typischen Schulbücher mit ihrer oft leblosen Aneinanderreihung von Jahreszahlen und Namen, die sich keiner merken kann und denen eine Verbindung zum eigenen Leben fehlt. Natürlich geht es in "Stamped" auch um Geschichte - ganz vordergründig sogar. Diese ist jedoch durch Querbezüge zur Jetzt-Zeit, anschauliche Analogien, viele direkte Ansprachen des Lesers und Erinnerungshilfen sowohl sprachlich als auch konzeptionell lebendig gemacht worden, sodass beim Lesen zu jedem Zeitpunkt klar wird, wie das Vergangene mit dem zusammenhängt, was wir heute erleben und beobachten. "Stamped" ist also ein modernes Kein-Geschichtsbuch, das sich als Buch über die Gegenwart versteht, durch das wir die Tradition des Rassismus und die sich immer wiederholenden Fehler der Vergangenheit kennenlernen, um aktuelle Probleme besser verstehen und auch angehen zu können. Die deutsche Journalistin und Autorin Alice Hasters ("Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten"), von der das Vorwort zur deutschen Ausgabe stammt, formuliert es so: "Stamped" ist quasi die "Was bisher geschah"-Zusammenfassung für die gegenwärtigen politischen Diskussionen um Rassismus."
Dass Jason Reynolds es versteht, ein jugendliches Publikum pointiert, authentisch und mit treffenden Beobachtungen mitzureißen, hat er schon in seinen zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern bewiesen, von denen ich mittlerweile auch schon einige gelesen habe ("Ghost", "Asphalthelden", "Die Sache mit dem Glücklichsein"). Kein Wunder, dass es ihm auch in diesem Sachbuch gelingt, seine LeserInnen trotz des komplexen und entmutigenden Themas zu fesseln und Kampfgeist und Hoffnung in ihnen zu wecken. Auch ich war ganz hin und weg von seiner charmanten Art, die Geschichte seines Landes neu zu erzählen und habe das Buch in wenigen Stunden inhaliert. Dabei war ich immer wieder geschockt, dass mir einige wichtige Namen (z.B. Angela Davis) komplett fremd, mir die rassistischen Hintergründe von einigen Film- und Buchklassikern (z.B. "Tarzan" oder "Planet der Affen") nicht klar und meine Wissenslücken in manchen Teilen der amerikanischen Geschichte doch deutlich größer als gedacht waren. Vor "Stamped" hatte ich mir eingebildet, ich wüsste einiges über Rassismus ... ich habe mich offensichtlich geirrt und während der 256 Seiten nicht nur einiges dazugelernt, sondern auch zu vielen Themen meinen Standpunkt angepasst. Besonders Jason Reynolds Nachwort und Dank haben mich dabei sehr berührt und mir Energie gegeben, im Alltag, aber auch politisch weiterhin für Gerechtigkeit die Stimme zu erheben!
„Das ist kein Buch, das alles weiß und für alles eine Lösung parat hat. Es ist auch keine komplette Mahlzeit. Es ist mehr so ein Appetithappen. Zur Vorbereitung auf das kommende Festmahl. Damit man voller Vorfreude seinen Platz - den richtigen Platz - am Tisch einnimmt."
Meiner Meinung nach ist "Stamped" trotz (oder gerade wegen) der sehr lebendigen und einfachen Sprache auch für Erwachsene gut geeignet. Wer mehr wissen will und sich auf noch komplexerer Ebene mit dem Thema auseinandersetzen will, der sei an das Original "Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika" verwiesen, auf dem "Stamped" ja inhaltlich basiert. Um bei speziellen Themen weiterlesen zu können, sind in "Stamped" auch ausführliche Quellen, weiterführende Lesetipps und ein Wortregister vorhanden. Zusätzlich zum toll aufbereiteten Inhalt, den ich ja nun schon zu Genüge gelobt habe, ist auch die Gestaltung der deutschen Ausgabe des dtv Verlags ein Volltreffer. Sehr nahe am Original gehalten sieht man die schwarze Silhouette eines jungen afroamerikanischen Menschens, welcher auch auf "Gebrandmarkt" abgebildet ist, umgeben von roten Streifen auf weißem Grund, welche im Zusammenhang mit dem blauen Titel den Eindruck der amerikanischen Flagge ergeben. Von mir gibt es also eine absolut uneingeschränkte Leseempfehlung!
Fazit:
"Stamped" ist eine beeindruckende Reise durch die Geschichte der USA mit Fokus auf Rassismus, Antirassismus und deren Auswirkungen auf die heutige Zeit. Jason Reynolds schwungvollerer, zorniger und anschaulicher Jugendbuch-Remix von Kendis "Gebrandmarkt" informiert, motiviert und gibt den Leserinnen und Lesern somit eine optimale Bewertungsgrundlage für aktuelle Diskussionen.