Leben und Sterben im rechtsfreien Raum
In Jennifer Clements Roman “Gebete für die Verstorbenen“ berichtet die 14jährige Ich-Erzählerin Ladydi Garcia Martinez aus ihrem Leben in einem Dorf auf einem Berg in der Provinz Guerrero, ...
In Jennifer Clements Roman “Gebete für die Verstorbenen“ berichtet die 14jährige Ich-Erzählerin Ladydi Garcia Martinez aus ihrem Leben in einem Dorf auf einem Berg in der Provinz Guerrero, die als die gefährlichste in Mexiko gilt. In diesem Dorf leben nur Frauen, denn die Männer sind entweder auf der Suche nach Arbeit in die USA gegangen oder längst tot. In diesem Dorf werden nur Jungen geboren. Auch Ladydis Mutter Rita nennt ihre Tochter “Junge“ , kleidet sie als Junge und lässt sie bewusst hässlich aussehen, damit sie nicht von den Drogenbossen und ihren Helfern geraubt wird. Die Frauen haben in ihren Gärten sogar Erdlöcher gegraben, in denen sich die Mädchen verstecken, wenn sie die schwarzen Limousinen der Drogenbarone den Berg hinauffahren hören. Ladydis beste Freundin Paula, das schönste Mädchen der Gegend, entgeht ihrem Schicksal nicht. Sie wird entführt, und als sie wider Erwarten nach einem Jahr zurückkommt, ist sie physisch und psychisch für immer gezeichnet. Für Ladydi scheint sich eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, als sie einen Job als Hausmädchen in Acapulco angeboten bekommt. Ihr Cousin bringt sie in das Haus der abwesenden reichen Familie, lässt sie jedoch unterwegs im Auto warten, um noch etwas zu erledigen. Wie sich später zeigt, hat er in einem Haus mehrere Morde begangen. Da er Ladydi als Entlastungszeugin nennt und bei ihr ein Päckchen mit Drogen versteckt, wird sie in diese üble Geschichte hineingezogen und kommt ins Frauengefängnis in Mexico City.
Jennifer Clement zeigt, dass ein Menschenleben, vor allem ein Frauenleben, nicht viel zählt in Mexiko. Schöne Mädchen leben hier gefährlich. Sie werden entführt, missbraucht, weitergereicht, an Bordelle verkauft und sind letztlich eine lohnendere Ware als Drogen, die man nur einmal verkaufen kann. Niemand interessiert sich für das Schicksal von Hunderttausenden, die für immer verschwinden oder irgendwann verstümmelt und ermordet wieder auftauchen wie vor zwei Jahrzehnten im berüchtigten Ciudad Juarez. Korruption reicht in die höchsten Ränge von Polizei und Regierung. Die Kartelle haben das Sagen im Land.
Die Autorin hat den größten Teil ihres Lebens in Mexiko gelebt. Sie hat über zehn Jahre lang recherchiert und Hunderte von Frauen interviewt. Ihr enormes Faktenwissen präsentiert sie als Fiktion – alles andere wäre zu gefährlich gewesen für die Betroffenen und für sie selbst. Entstanden ist ein gut lesbarer berührender Roman, in dem es nicht nur immer wieder Beispiele für die alltägliche Gewalt, sondern auch für den Mut, die Widerstandskraft und Solidarität der Frauen gibt sowie heitere Episoden und Humor. Mir gefällt die lakonische, teilweise aber auch ausgesprochen poetische Sprache. Man kann nur hoffen, dass sich der Wunsch der Autorin erfüllt, die fest daran glaubt, dass Literatur die Welt verändern kann. Ein außergewöhnliches Buch.