Commonwealth
Die Mapothers sind die Reichste Familie des Commonwealth Countys. Doch die Eltern wollen für ihren John noch mehr. Und so kandidiert dieser für das Amt des Repräsentantenhauses im kleinstädtisch geprägten, ...
Die Mapothers sind die Reichste Familie des Commonwealth Countys. Doch die Eltern wollen für ihren John noch mehr. Und so kandidiert dieser für das Amt des Repräsentantenhauses im kleinstädtisch geprägten, fünften Kongressbezirk. Doch John ist überfordert, mit der Unterschicht umzugehen, die den größten Teil der Wählerschaft ausmacht. Da kommt den Mapothers Blue Gene gerade recht. Der verlorene Sohn der Familie hat sich vor Jahren von Reichtum und Elite losgelöst und führt seitdem ein Leben der amerikanischen Arbeiterklasse. Nun holen sie ihn ins Wahlkampfboot. Er soll richten, was John nicht hinbekommt. Doch nicht jeder im Commonwealth County ist so manipulativ, wie es anfangs scheint.
Ich erwartete mir einen recht anspruchsvollen, politischen und kritischen Roman, wurde einerseits komplett überrascht, habe dennoch in diesem Buch gefunden, was ich gesucht habe. Die erste große Überraschung war zunächst einmal Joey Goebels Schreibstil. Der lässt sich leicht und locker weglesen, ist kaum träge und gibt der Geschichte wirklich pageturner-Potenzial. Dennoch finden sich ständig versteckte Details, die einen zum Schmunzeln bringen. So ist der Schreibstil wenig poetisch, passt sich gerade aber damit hervorragend an das kleinstädtische Milieu an, in dem der Roman angesiedelt ist. Und gerade dieses kleinstädtische Milieu ist es, das der Autor hervorragend ausgestaltet hat. Die Beschreibungen davon, wie sich die Stadt in den letzten Jahrzehnten verändert hat, wie sich die Menschen verändert haben, wirken sehr authentisch und geben Bashford, so heißt die Stadt unserer Handlung, ein scheinbar einzigartiges Antlitz, dass sich bei genauerer Betrachtung als tausendfache Kopie herausstellt. Denn Joey Goebel beschreibt eine Stadt in einem Landstrich, die sich überall im Mittleren Westen befinden könnte. Und gerade diese Anonymität gibt dem Buch seine Universalität. Denn Pickups, Wrestling, Monstertrucks und qualmende Geringverdiener - die wahren Patrioten - gibt es zwischen Ost- und Westküste überall. Doch der aufmerksamen Leserschaft, die sich dazu noch ein wenig mit den USA auseinandergesetzt hat, springen einige Dinge ins Auge, die die geografische Zuordnung in groben Maßen dennoch zulässt. Da wäre zunächst einmal der Herbst, der immer noch warm genug ist, um mit T-Shirt draußen rumzulaufen. Der Norden fällt also schon einmal weg. In Johns Wahlbezirk liegt ein County namens Dixie County. Wir befinden uns also im Süden. Die Mapothers haben einen Tabakkonzern - Kentucky - und der Vater eines der Protagonisten war im Bergbau tätig. Demnach würde ich auf Ostkentucky tippen. Sicherlich kein Zufall, dass der Schriftsteller auch in dieser Region aufgewachsen ist. Es finden sich aber auch noch andere Eastereggs. So finde ich den Namen Commonwealth County sehr ironisch, wenn man bedenkt, dass dies in etwa "Gemeinwohl" bedeutet, und sich gerade hier die Gräben zwischen Arm und Reich deutlich zeigen.
Das Buch hat mich aber auch entsetzt und schockiert. Es schwappt ja immer wieder etwas herüber nach Europa, von den "Amerikanischen" Zuständen. Dieser Roman war dann allerdings wieder ein ganz anderes Kaliber. So gehören Homophobie, Rassismus und Sexismus zum normalen Umgangston, sowohl bei den Rednecks als auch bei den gehoberen Schichten. Von diesen Auswüchsen des menschlichen Egoismus ist auch unser Hauptprotagonist Blue Gene nicht befreit. Hinzu kommt der Stellenwert von Kirche, Glaube, Patriotismus und den Streitkräften. Aus europäischer Sicht nicht mehr als ein Kopfschütteln wert.
Joey Goebel vermag es aber auch, seine Charaktere trotz einiger moralischer Fehler sehr sympathisch zu gestaltet. Zwar haben wir auch hier mit Henry Mapother einen klassischen Bösewicht, doch dieser ist kaum an den Haaren herbeigezogen und fügt sich perfekt in den Roman ein. Dazu kommt, dass die Protagonisten sehr facettenreich gestaltet sind, sich selbst, die anderen und auch die Leser:innen immer wieder überraschen. Und auch macht der Großteil von ihnen eine enorme Charakterentwicklung während der 700 Seiten durch. Und gerade an der Lebhaftigkeit und der Nahbarkeit des Figurensets liegt es auch, dass sich kritisierende und unterhaltsame Aspekte des Buches in einer Wage halten, sodass sich eine perfekt Mischung ergibt.
Insgesamt also ein Meisterwerk, lehrreich und unterhaltsam, dass trotz seiner Stärke von etwa 700 Seiten niemals langweilig wird. Auf mich hat das Buch definitiv einen bleibenden Eindruck hinterlassen.