Ungewöhnliche, tief beeindruckende Island-Saga
REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón ...
REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson (59). Es ist eine bewegende Erzählung gegen das Vergehen und Vergessen, eine kompakte Island-Saga, die aus der Gegenwart weit über 120 Jahre bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht und am Beispiel einer bäuerlichen Familie und ihres Umfelds über sechs Generationen den Wandel dieser einst überwiegend von armen Schafzüchtern und Fischern fernab jeder Bildung und Kultur bewohnten kargen Insel „am nördlichen Ende der Welt“ zu einem heute extravaganten Ausflugsziel internationaler Touristen beschreibt.
„Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis“ lautet die Inschrift eines verwitterten Grabsteins auf dem uralten Friedhof an einem entlegenen Fjord, der noch älter als die kleine Kirche ist, in der Stefánssons namenloser Erzähler mit totalem Gedächtnisverlust erwacht. Hinter ihm sitzt ein geheimnisvoller alter Mann, der sich dem Erzähler nicht zu erkennen gibt – ist es Gott, der Teufel, das personifizierte Schicksal? –, ihn aber auf seiner Spurensuche begleiten wird. Auf dem Friedhof trifft der Erzähler Rúna, die ihm die Geschichte ihrer Familie zu erzählen beginnt und ihn zu ihrer Schwester Sóley schickt, Betreiberin des kleinen Dorfhotels am Ufer des Fjords.
Mit Hilfe dieser und anderer Geschichten über Familie, Nachbarn und Freunde in Gegenwart und Vergangenheit setzt der Erzähler eine faszinierende Island-Saga zusammen, geleitet vom geheimnisvollen Alten, dem bärtigen „Busfahrer mit der Lizenz, mich zwischen den Welten und Zeiten, den verschiedenen Bühnen des Lebens hin und her zu kutschieren.“ Wir lernen die Vorfahren des Musikers Eiríkur kennen, der als junger Mann Island verlassen hat und 40 Jahre später auf Drängen seines Vaters Hálldor nach Nes zurückkehrt. Seine Familiengeschichte reicht bis zur Ururgroßmutter Guðríður zurück: „… alles geschah, weil Pétur und Guðríður vor hundertzwanzig Jahren nach Stykkishólmur ritten.“
Aus einzelnen Erzählungen („Manche Leben scheinen so ereignislos zu verlaufen, dass sie sich kaum beschreiben lassen.“) baut sich eine großartige Familiengeschichte auf, in der nicht nur Guðríður und Pétur einst der „Kompassnadel ihres Herzens“ gefolgt sind, sondern auch ihre Nachkommen auf jeweils eigene Art, waren sie sich doch trotz wandelnder Zeiten in Charakter und Mentalität ähnlich: »Die Vergangenheit lebt ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst.«
Jón Kalman Stefánsson springt in seinen Roman von Figur zu Figur, von Geschichte zu Geschichte, durch Zeiten und Generationen scheinbar beliebig hin und her, so dass man die Übersicht verlieren und sich in den Generationen leicht verirren kann. „Manche nennen es den Spaß der Götter. Karten und Leben durcheinanderzuwirbeln, zu ihrem Vergnügen Knoten zu schürzen, irgendwo eine unerwartete Kurve einzubauen, eine Brücke einzureißen, unsere Herzen in Wallung zu versetzen und dem Dasein einen Stups zu geben, um alles, was fest und sicher scheint, auf den Kopf zu stellen.“ Dann empfiehlt es sich, den Rat des Erzählers anzunehmen: „Halldór und Páll Skúlason. Merk dir die Namen, aber halte dich vorerst nicht länger mit ihnen auf, denn kaum erwähnen wir sie, treten sie auch schon wieder zurück wieder zurück in den Schatten, …. und treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.“ Es sind die kleinen schicksalhaften, wahrhaftigen und berührenden Geschichten, die jede für sich allein schon einem Kurzroman gleicht. Aus dem Gesamtbild aller Einzelschicksale ergibt sich schließlich die literarisch ungewöhnliche Island-Saga, die nicht nur in ihren Menschen- und Landschaftsbeschreibungen atmosphärisch beeindruckt, sondern auch sprachlich – auch ein Verdienst des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig. Für Stefánsson Roman gilt, was dort über den Brief der Großmutter an Eiríkur zu lesen ist: „… zwischen den Zeilen schimmerten Wärme und Zuneigung durch, flossen wie eine mächtige Strömung unter den Sätzen.“ Es ist schon ein paar Jahre her, dass mich ein Schriftsteller mit seinem Buch derart begeistert hat, tief berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.