wortgewaltig und unterhaltsam
Purity, genannt Pip, hadert mit sich und der Welt. Sie ist ohne Vater aufgewachsen. Ihre Mutter weigert sich, ihrer Tochter auch nur den kleinsten Hinweis zu geben. Das führte seit Pips Kindheit zu einem ...
Purity, genannt Pip, hadert mit sich und der Welt. Sie ist ohne Vater aufgewachsen. Ihre Mutter weigert sich, ihrer Tochter auch nur den kleinsten Hinweis zu geben. Das führte seit Pips Kindheit zu einem Kleinkrieg mit der Mutter, der sich in einem ständigen Hin und Her zwischen Hass und Liebe zeigt.
Pip arbeitet im Direktmarketing bei einer Firma, die „Lösungen“ anbietet. Schwerpunkte sind Klimawandel, Energieressourcen und andere ökologische Themen. Doch schon bald merkt sie, dass sie mit ihrer telefonischen Akquise die Menschen in Verträge drückt.
Das entspricht so gar nicht ihrer eigenen Lebensauffassung. Da lernt sie die Deutsche, Annagret, kennen. Die vermittelt Pip einen Job bei dem als Hacker und Whistleblower bekannten Andreas Wolf. Bevor Pip nach Bolivien, dem geheimen Unterschlupf von Wolfs Unternehmen, reist, startet sie einen letzten Versuch bei ihrer Mutter, etwas über ihren Vater zu erfahren und droht ihr, zu Andreas Wolf zu gehen, der ihr bei der Suche nach dem Vater helfen wird.
So weit der erste Teil des Romans „Unschuld“ vom sehr gut deutsch sprechenden Jonathan Franzen. Der zweite Teil liest sich wie ein eigenständiger Roman. Der Leser lernt Andreas Wolf kennen, der in der DDR aufgewachsen ist. Sein Nachname lässt erkennen, dass er zum großen Familienclan der „Wolfs“ gehört. Friedrich Wolf war ein überaus bekannter Schriftsteller, Konrad Wolf ein sehr guter Filmregisseur und dessen Bruder Markus Wolf war Chef der Auslandsspionage bei der Staatssicherheit der DDR. Vor diesem Hinterghrund erhielt die Figur des Whistleblowers und Dissidenten einen Vater, der Mitglied des Zentralkomitees der SED war. In diesem Teil erfährt der Leser auch von der Liebesbeziehung zwischen Annagret und Andreas Wolf, ohne jedoch allzusehr in das Romantische zu verfallen.
Im dritten Teil wird von Leila berichtet, die investigativ recherchiert und Pip bei sich aufgenommen hat. Pip arbeitet inzwischen bei der Organisation Andreas Wolfs, spielt in diesem Teil eine eher untergeordnete Rolle. Viel spannender sind Leilas Recherchen und die Machenschaften der kriminellen und/ oder politischen Elemente.
Obwohl Franzen auch diesen Roman wieder wortgewaltig und unterhaltsam (subtile Ironie lässt er selten vermissen) schreibt, übertrifft er in meinen Augen nicht seinen Roman „Die Korrekturen“. Auch, wenn es erneut um eine Familiensaga geht. Immer wieder stößt man auf langwierige Passagen, die der Lust am Lesen entgegenstehen. Hätte ich nicht schon andere Romane des Schriftstellers und diesen Klappentext, der mir bereits verrät, wohin die Geschichte gehen soll, gelesen, hätte ich wahrscheinlich nach spätestens fünfzig Seiten abgbrochen und mir das darauffolgende Lesevergnügen versagt. Indem ich das nicht tat, wurde ich belohnt mit eines faszinierenden Lebensgeschichte verschiedener Figuren. Denn hier gibt es nicht nur einen Protagonisten, jede der Figuren ist facettenreich und höchst interessant.
Erstaunlich fand ich den Abschnitt um Andreas Wolf in der Zeit von den 1960er Jahren bis zur Wendezeit 1989/1990. Sehr gut recherchiert kommt Franzen dem tatsächlichen Geschehen verdammt nahe, was nicht zuletzt an der Unterstützung von Thomas Brussig gelegen haben mag, der ja bekanntlich sehr erfolgreiche „DDR-Romane“ schreibt.
Trotz zwischenzeitlicher Überlängen hat mich dieser Roman gefesselt. Wie auch bei seinen anderen Romanen werden die Protagonisten in separaten Teilen vorgestellt. In komplexen Situationen gibt er den Figuren Raum, um sich den Lesern zu präsentieren. Nur selten erfolgen unmittelbare Rückgriffe auf die anderen Teile, was alleine schon wegen der nicht chronologisch verlaufenden Teile schwierig sein dürfte. Erst im Großen und Ganzen werden die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Figuren aufgelöst und sichtbar. Mit jeder Seite, die man liest, fügt sich ein Rädchen ins andere, und man kommt in den Rhythmus der Gesamthandlung. Diese außergewöhnliche Komposition der einzelnen Teile, die jeder in einer andreen Zeit zu spielen scheinen, hat mich stark beeindruckt.
Weiterhin beeindruckt hat mich die Genauigkeit, mit der Franzen die Stimmung und Verhältnisse in der DDR wiedergibt. Von der oberflächlichen Arbeitsweise der Amerikaner keine Spur. Außerdem hat mir die leise Ironie gefallen, mit der der Autor beispielsweise die Naivität der Jugend in ihrem Drang nach „etwas bewegen wollen“, oder auch den Aufstieg eines DDR-Bürgers zum Whistleblower, oder das schwierige Verhältnis zweier sich Liebender, beschreibt. Schließlich setzte ich mich am Ende des Romans in meinem Sessel zurück, atmete durch und dachte: Was für eine Geschichte.
© Detlef Knut, Düsseldorf 2015