Berührend, authentisch, erschütternd - ein wunderbares Buch!
Sieht das Cover nicht wunderhübsch aus? Also bei mir war es hier Coverliebe auf den ersten Blick. Da mich auch der Klappentext auf Anhieb überzeugen konnte, stand für mich sofort fest: Die 10-jährige ...
Sieht das Cover nicht wunderhübsch aus? Also bei mir war es hier Coverliebe auf den ersten Blick. Da mich auch der Klappentext auf Anhieb überzeugen konnte, stand für mich sofort fest: Die 10-jährige Annie und ihre Großfamilie möchte ich unbedingt kennenlernen. Ich ließ das Buch also nur zu gerne bei mir einziehen.
Massachusetts, 1985: Die 10-jährige Antoinette Elisabeth Bianchi, genannt Annie, wohnt zusammen mit ihrer Familie in der Snow Lane Nummer 17 in Ashcroft. Annie ist ziemlich klein und dünn für ihr Alter, sie hat ein riesiges Lächeln und sie ist Legasthenikerin. Was Annie auch noch ist: Sie ist die jüngste von neun Geschwistern. Sie hat sieben große Schwestern und einen großen Bruder und wer jetzt denkt, dass es doch bestimmt toll ist, in so einer großen Familie aufzuwachsen, man hat so schließlich immer jemanden zum Spielen, dem sei gesagt: In Annies Familie geht es nicht gewöhnlich zu. Bei den Bianchis läuft eine Menge verkehrt. Der Vater hat drei Jobs und ist daher so gut wie nie zu Hause, die Mutter kriegt kaum was auf die Reihe, vernachlässigt ihre Kinder und müllt das Haus mit unnötigen Dingen zu und die jüngeren Bianchis müssen sich vor den Drohungen und Prügelattacken der größeren Geschwister fürchten. Für Annie ist all das aber ganz normal. Und wenn es ihr doch mal zu viel wird, zählt sie einfach. Das hilft immer. Irgendwann merkt Annie aber, dass es überhaupt nicht normal ist, wenn Gewalt und Armut den Alltag bestimmen. Annies Familie braucht Hilfe, dringend!
Dass es sich bei „Annies Welt“ um kein Gute-Laune-Kinderbuch handelt, hatte ich mir anhand des Klappentextes schon gedacht, allerdings hatte ich dann doch mit einer etwas fröhlicheren Story gerechnet. Vermutlich aufgrund des Titels und der farbenfrohen Aufmachung. Ich persönlich frage mich ja, warum man das Buch so bunt gestaltet hat. Das Cover sieht zwar wunderschön aus, passt in meinen Augen nur irgendwie so gar nicht zu dem, was einem im Inneren erwartet. Und warum man den Untertitel „3 x 3 Gründe, glücklich zu sein“ gewählt hat, habe ich ehrlich gesagt auch nicht so ganz verstanden.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, beschert einem wenig glückliche Momente. Es gibt zwar auch ab und an mal etwas zum Schmunzeln, aber insgesamt habe ich das Buch als zu traurig und hart für ein Kinderbuch ab 10 Jahren empfunden. Meiner Ansicht nach ist „Annies Welt“ eher ein Roman für Jugendliche und Erwachsene.
So, ehe ihr jetzt den Eindruck gewinnt, dass mir das Buch gar nicht gefallen hat, klingt ja schon irgendwie ziemlich negativ, was ich da gerade geschrieben habe – doch, mir hat „Annies Welt“ gefallen, sehr sogar! Ich finde das Buch wundervoll und habe es quasi in einem Rutsch durchgelesen. Auf mich konnte die Handlung von den ersten Seiten an die totale Sogwirkung ausüben, der mich kaum mehr entziehen konnte. Das Einzige, was mich eben nur stört, ist die verspielte Gestaltung und die Altersempfehlung. Unsere Protagonistin Annie ist zwar erst 10 Jahre alt, nur bin ich einfach der Meinung, dass die Geschichte für jüngere Kinder eher ungeeignet ist.
Ich, als Erwachsen, habe tolle Lesestunden mit dem Buch verbracht. Ich greife total gerne zu Büchern, die mich schockieren, berühren und nachdenklich stimmen. „Annies Welt“ war daher genau mein Ding, denn das, was ich hier zu lesen bekommen habe, ist mich stellenweise richtig erschüttert. Das Buch ist definitiv nicht ohne. In Annies Familie läuft eine Menge verkehrt. Der Vater ist nie da, weil er nur am Arbeiten ist, die Mutter ist mit allem völlig überfordert und kümmert sich kaum um ihre Kinder, die größeren Geschwister müssen sich daher um die jüngeren kümmern und das war erst der Anfang. Neben der großen Vernachlässigung vonseiten der Eltern bestimmen auch Verwahrlosung, Armut und Gewalt den Alltag der Bianchis. Mich hat es entsetzt zu sehen, wie es in Annies Familie zugeht. Einige der älteren Geschwistern bedrohen und verprügeln die jüngeren und auch die Mutter wird gerne mal handgreiflich. Schlimm, oder? Noch heftiger wird das Ganze, wenn man sich das Nachwort der Autorin der durchliest, in welchem hervorgeht, dass wohl recht viel Autobiographisches in diesem Buch steckt und Josephine Angelini selbst keine schöne Kindheit erleben durfte.
Aber keine Sorge, zu bedrückend wird die Geschichte nicht. Durch die kindlich-naive und recht humorvolle Erzählweise wird das Ganze, finde ich, sehr gut aufgelockert. Mir hat dieser krasse Gegensatz total gut gefallen: Die ungeschönten Dingen, die sich in Annies Familie abspielen und dazu dann dieser recht heitere, warmherzige Erzählton.
Wir erfahren alles aus der Sicht von Annie in der Ich-Perspektive und meinem Empfinden nach, ist Josephine Angelini diese kindliche Betrachtungsweise erstklassig gelungen. Die Art, wie Annie uns von ihrem Alltag erzählt, ist absolut authentisch und unheimlich einfühlsam. Ich, als Erwachsene, konnte mich jederzeit problemlos in unsere 10-jährige Buchheldin hineinversetzen und ihr Denken, Handeln und Fühlen vollkommen nachvollziehen.
Annie habe ich sofort ganz fest in mein Herz geschlossen. Man muss sie einfach lieben - sie ist ein super sympathisches, aufgewecktes und kluges junges Mädchen.
Bei Annie habe ich mich die ganze Zeit über gefragt, ob sie an einer Form des Autismus leidet. Das Wort Autismus wird zwar nie genannt, es wird nur erwähnt, dass Annie Legasthenikerin ist, aber vom Verhalten her kam es mir schon so vor, als ob sie Autistin wäre. Sie ist auf jeden Fall ein hochsensibler Mensch und anders als andere Kinder in ihrem Alter.
Josephine Angelini ist mit „Annies Welt“ in meinen Augen ein ganz besonderes Buch gelungen, welches wohl nicht jedermanns Sache sein wird, welches mir aber ein fabelhaftes Leseerlebnis beschert hat. „Annies Welt“ zeigt auf, dass vieles ganz anders ist, als es nach außen hin oft wirkt. Die Bianchis versuchen immerzu den Schein zu wahren, dass alles bei ihnen in Ordnung ist und sie eine ganz gewöhnliche, große Familie sind. Sie gehen regelmäßig zur Kirche (die Bianchis sind strenge Katholiken) und sie empfangen niemals Besuch, damit niemand sieht, wie es bei ihnen Zuhause aussieht. Annie hat gelernt, mit all dem klarzukommen. Wenn es zu schrecklich wird, beginnt sie zu zählen, denn Zahlen lenken sie ab. Irgendwann beginnt Annie aber Dinge zu hinterfragen und sie merkt, dass bei ihr Zuhause alles andere als normale Zustände herrschen.
Ob sich in der Snow Lane Nummer 17 schließlich noch etwas ändern wird, ob sich Annies Familie Hilfe holen wird oder nicht, das werde ich hier nicht verraten, da müsst das Buch schon selber lesen. Nur so viel: Ein Happy End hat das Buch irgendwie nicht. Hat mich aber nicht gestört. Ich finde, dass das Ende perfekt zur Geschichte passt.
Fazit: Berührend, erschütternd, authentisch – ein wunderbares Buch voller Schmerz, Hoffnung und traurig-schöner Momente! Mich konnte das erste Kinderbuch von Josephine Angelini hellauf begeistern. Annies Geschichte hat in mir die verschiedensten Gefühle hervorgerufen. Ich habe Wut, Trauer und Entsetzen empfunden, ich war am Schmunzeln und habe mitgehofft und mitgelitten. Für jüngere Kinder ist das Buch in meinen Augen zu traurig und schonungslos ehrlich, allerdings spreche ich da natürlich nur für mich. Ich persönlich würde das Buch jedenfalls erst am 12 und nicht ab 10 Jahren empfehlen. Wer gerne Bücher liest, die zum Nachdenken anregen und unter die Haut gehen, dem kann ich „Annies Welt“ sehr ans Herz legen. Von mir gibt es sehr gute 4 von 5 Sternen!