Aktueller, als man denken mag...
Absolute Empfehlung für Leser, die gewillt sind, ein anspruchsvolles Buch mit viel Stoff zum Nachdenken zu lesen, sich auf einen ungewöhnlichen Schreibstil einlassen können und wollen und nicht nach einer ...
Absolute Empfehlung für Leser, die gewillt sind, ein anspruchsvolles Buch mit viel Stoff zum Nachdenken zu lesen, sich auf einen ungewöhnlichen Schreibstil einlassen können und wollen und nicht nach einer kurzweiligen Lektüre suchen. Besonders lohnenswert, wenn man "Gefangen - Der Fall K." gesehen hat.
Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich die Lesegeschmäcker unterscheiden - und nicht nur das; wie sie sich auch bei einem einzelnen Menschen verblüffend wandeln und verschieben können!
So bei diesem Titel, den ich 2014 im Rahmen des Englischunterrichts der 11. Klasse verpflichtend lesen musste - und nicht nur langweilig und zäh, sondern zudem auch als anstrengend geschrieben empfand (und mit nur 2/5 Ankern bewertete). Als ich nun im Zuge einer Sitzung zur Psychiatrie/ psychiatrischen Zwangsgewalt in einem meiner Seminare im Studium noch einmal zu diesem Buch griff, konnte es mich ingenau den Punkten überzeugen, in denen es mich ein paar Jahre zu vor genervt hat.
Allein voran der Schreibstil - Ken Kesey verpackt die Geschichte um Chief Bromden, McMurphy und all´ die anderen Psychiatrieinsassen beeindruckend bildgewaltig und wortreich in wunderbare Metaphern. Gerade die eher ereignisarmen Passagen, in denen die (Gedanken-) Welt des Protagonisten sich entfaltet, fesselte mich.
Denn Ken Kesey hat weitaus mehr als "nur" eine Kritik der Zustände in Psychiatrien geschrieben - Chief Bromdens Überlegungen zur Combine, zum Nebel und den Schläuchen und Drähten sind viel eher eine allegorische, unfassbar treffende und gar nicht so subtile Gesellschaftskritik.
Weiterhin begeistern konnte mich die schrittweise Charakterentwicklung Chief Bromdens. Selten hatte ich mehr das Gefühl, förmlich zuschauen zu können, wie sich eine Figur weiterentwickelt, stärker wird. Oder eben zu seiner alten Stärke wiederfindet. Und zugleich scheint diese Aufrichtung des Protagonisten die zunehmende Schwächung McMurphys zu bedeuten. Anders als beim ersten Lesen fand ich diese Entwicklung nicht mehr frustrierend, sondern berührend und emotional, zugleich aber auch überzeugend und stark.
Hatte ich 2014 noch das Gefühl, oftmals überhaupt gar nicht zu wissen, was passiert, bzw. was genau gemeint ist, da die Geschichte aus Sicht eines schizophrenen Insassen der Klinik erzählt wird, so kam ich beim erneuten Lesen perfekt klar. Vielleicht weil ich älter geworden bin, konnte ich erkennen, welcher Erzählstrang die eigentliche Handlung darstellt, und welcher die Gedankenwelt Chief Bromdens, die sinnbildlich Entwicklungen in der Außenwelt umschreibt. Und ein bisschen verhält es sich bei diesem Buch auch wie mit Harry Potter (und Dumbledore) - nur weil es im Kopf geschieht, heißt das, dass es nicht real ist?