Tolstois Zeigefinger
Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine ...
Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine Gesellschaftskritik, seine Lehre verkünden. Das tut er auch und zwar leider mit schwer erträglicher Penetranz. Der erhobene Zeigefinger fuchtelt dem Leser die ganze Zeit vor den Augen herum und läßt diesen die Geschichte kaum noch erkennen.
Die Grundgeschichte – inspiriert von einem tatsächlichen Gerichtsfall – ist interessant und berührend. Der Adlige Nechljudow wird als Geschworener mit einer für ihn schon fast vergessenen Jugendsünde konfrontiert und erkennt, welche gravierenden Auswirkungen diese für die junge Katjuscha Maslowa hatte. Er hat sie Jahre zuvor verführt, dann sein komfortables Leben weitergeführt. Katjuscha wurde schwanger, von der Gesellschaft verstoßen, stürzt ab, wird zur Protituierten und steht nun wegen eines vermeintlichen Tötungsdeliktes vor Gericht. Die Geschichte dieser beiden, die unterschiedlichen Gefühle, Lebenswelten und Auswirkungen einer Nacht werden berührend geschildert, Katjuscha ist dem Leser sehr nahe, ist eine beeindruckende Persönlichkeit, deren Seelenleben einen kaum kalt lassen kann. Auch Nechljudows Wandlung vom unschuldigen, ehrlich verliebten Jüngling zu einem jungen Mann, der sich zu leicht von seinem gesellschaftlichen Umfeld korrumpieren läßt und gar nicht richtig versteht, was er Katjuscha antut, liest sich gut, wenn seine Motivationen auch ab und an etwas zu ausführlich erklärt werden.
Beeindruckend ist, wie farbig das Gerichtsverfahren beschrieben wird, mit welch guter und spitzer Beobachtungsgabe Tolstoi seine Charaktere darstellt. Der Einblick ins Justizsystem des zaristischen Russland ist aufschlußreich, umfaßt im weiteren Verlauf des Buches noch Beschreibungen vom Gefängnisalltag, Gefangenentransporten nach Sibirien, Einblicke in die Organisation des Strafvollzuges. Sehr schön aufgezeigt ist ebenfalls, wie sehr menschliche Schwächen juristische Entscheidungen beeinflussen können und wie viel man erreichen konnte, wenn man nur die richtigen Leute kannte. Soweit die Stärken des Buches.
Wie anfangs erwähnt, ging es Tolstoi nicht um das Unterhalten, sondern um seine Botschaft. Er nutzt hier Nechljudow, der durch das Schicksal Katjuschas nicht nur sein eigenes Fehlverhalten erkennt und gutmachen möchte, sondern eine radikale abrupte (und dadurch unglaubwürdige) 180-Grad-Wendung vom gedankenlosen Adligen zum Social Justice Warrior macht. Man bekommt den Eindruck, Nechljudow möchte im Alleingang das Justizsystem verändern, er erinnerte mich ein wenig an die ???-Bücher meiner Kindheit. ("Wir übernehmen jeden Fall!") Uns werden nun zahlreiche, kaum noch auseinanderhaltende Schicksale präsentiert, und Nechljudow will ihnen allen helfen, denn natürlich sind sie alle unschuldig. Der zweite Teil des Buches besteht aus sich sehr ähnlichen Beschreibungen von Nechljudow, der einflußreiche Menschen aufsucht und sie um Intervention zugunsten von Strafgefangenen ersucht. Das ist für den Leser, der mit Namen, äußerlichen Beschreibungen und Fallgeschichten geradezu überschwemmt wird, viel zu viel.
Hinzu kommt, daß Tolstoi, eigentlich ein begnadeter Erzähler, sich hier in plumper schwarz-weiß-Malerei ergeht und dies auch noch mit ungeschickten Erzählmitteln. Das vermittelte Weltbild ist von schmerzhafter Schlichtheit: alle Reichen sind böse, hartherzig, unehrlich und etwas beschränkt. Alle Inhaftierten sind unschuldig. Die Armen sind ehrlich, gutherzig und edel. Etwas Differenzierung hätte Tolstois Botschaft, die im Grunde ja gut und sinnvoll ist, stärker gemacht. So tut er das, was er den Reichen im Buch vorwirft: er ergeht sich in Pauschalurteilen. Das ist anstrengend, verkauft den Leser für dumm und schwächt die Botschaft.
Im dritten Teil widmet sich das Buch wieder etwas mehr der Kerngeschichte zwischen Nechljudow und Katjuscha, wird auch an vereinzelten Stellen ein (klein) wenig differenzierter. Das Ende dieser Geschichte ist gut konzipiert. Das Ende des Buches ist leider zum politisch-religiösen Flugblatt (inklusiver extensiver Bibelzitierung) geworden.
Hätte Tolstoi sich auf seine Kerngeschichte konzentriert, eventuell noch ein oder zwei weitere Nebenschicksale eingebaut, hätte er seine Aussage differenzierter und weniger platt vorgebracht, wäre dies ein bemerkenswertes Buch mit wichtigen Überlegungen zu Justiz, Menschlichkeit, Macht und Gerechtigkeit geworden. So ging es einem leider zum Großteil auf die Nerven.