Hätte ich auch gelogen?
Der Roman “Die Lügen der Frauen” von Ljudmila Ulitzkaja wurde 2003 durch den Carl Hanser Verlag im Deutschen veröffentlicht und stellt die Frage, wieso Frauen lügen.
Dabei verfolgen wir die Figur Shenja, ...
Der Roman “Die Lügen der Frauen” von Ljudmila Ulitzkaja wurde 2003 durch den Carl Hanser Verlag im Deutschen veröffentlicht und stellt die Frage, wieso Frauen lügen.
Dabei verfolgen wir die Figur Shenja, der sich durch ihr offenes Ohr immer wieder Menschen anvertrauen und sie so auch mit vielen Lügen konfrontieren.
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, habe ich mich aber eine Sache gefragt: War es denn überhaupt schlimm, dass diese Frauen logen? Denn beim Lesen habe ich mich immer wieder bei der Frage erwischt, ob ich wirklich anders als die Figuren gehandelt hätte.
Die Handlung beginnt mit einem Urlaub, in dem Schenja mit scheinbar beeindruckenden Frauen konfrontiert wird, ehe weitere Erlebnissen mit ihrer Familien und Freunden folgen, in denen wir mit unterschiedlichen Lebensrealitäten von Frauen in Berührung kommen. Darunter gehören Interviews mit Prostituierten, Gespräche mit Mentorinnen, aber auch die selbstgefälligen Illusionen von Freundinnen.
Die Geschichte endet damit, dass Schenja mit ihrer eigenen Lüge konfrontiert wird: Dass sie doch nicht so viel leisten kann, wie sie angenommen hat.
Während sich die Geschichten entfalten erleben wir Shenja mal schockiert, mal resigniert und manchmal gar ungläubig, denn sie kann nicht verstehen, wie sie sich in den entsprechenden Situationen wiedergefunden hat und wieso die Frauen lügen mussten.
Dabei wird schnell klar, dass die Frauen alle das gleiche Ziel verfolgten: Sie wollten als die Frauen betrachtet werden, die sie selbst gerne wären.
Die Handlungen der unterschiedlichen Figuren selbst gingen flüssig ineinander über und stellten Präzise die unterschiedlichen Facetten der Figuren dar. Gerade dieser Aspekt ist für das Buch wichtig, da die Geschichte sich um die Figuren und ihre Bedürfnisse und Ziele drehte, um die Antriebe der titelgebenden Lügen zu erkunden.
Deswegen erzählten die Lügen selbst viel über die Lebensrealitäten der Frauen und erlaubten Annahmen darüber, was sie wohl als Idealbild und erstrebenswert in ihrem Umfeld oder der Gesellschaft insgesamt empfanden.
Sie wollten sich als leidende und aufopferungsvolle Mutter, zukünftige ehrenvolle Braut, Powerfrauen mit Work-Life-Balance oder Heilige darstellen.
Diese Frauen schienen es zu genießen so behandelt zu werden, als wären sie diese Idealbilder die sie vorgaben zu sein. Sie wurden respektiert oder bemitleidet, schienen die tragischen Heldinnen ihrer Geschichten spielen zu wollen.
Die Lügen und Erzählungen der Figuren hatten durch den Schreibstil der Autorin immer wieder etwas gemeinsam: Sie projizierten eine schwermütige und selbstgefällige Ausstrahlung, die ja oft vielen russischen Autoren nachgesagt wird.
Trotzdem sind die Gespräche dynamisch geblieben und sorgten dafür, dass ich gespannt an den Zeilen hing - ich wollte unbedingt erfahren, wie sich die Gespräche entwickeln werden und welche Wendungen mich auf der nächsten Seite erwarteten.
Aber meine Frage bleibt offen: War es denn schlimm, dass die Frauen gelogen haben? In den meisten Fällen war es kein Problem, aber hin und wieder wurde deutlich, dass die Konsequenzen sich langsam anschlichen: Während manche sich zu Alkoholikerinnen entwickelten wurden andere, welche selber ihre eigenen Lügen geglaubt haben, bloßgestellt, und manchmal wurde nebenbei fast eine Ehe zerstört
Aber gerade wegen dieser Frage überzeugt das Buch. Es war weder urteilend noch überheblich während es sensible Themen wie Hoffnungslosigkeit, den Wunsch nach Anerkennung und Liebe thematisiert hat. Zu keiner Zeit wurden die Frauen gewertet, denn die Erlebnisse wurden so geschildert, dass man sich selbst immer in ihnen wiederfinden konnte.
Da das Buch so von den Figuren getragen wird überzeugt es nicht durch spannende Handlungen oder raffinierte Wendungen - es ist ein Buch, welches von den Lügen lebt und so zeigt, welche Gründe und Auswirkungen sie haben können. Dabei konnte ich nicht vermeiden mich in die unterschiedlichen Frauen und ihre Leben hineinzuversetze, denn ich musste mich fragen, ob ich so viel anders in ihren Situationen gehandelt hätte.
Deswegen kann ich das Buch jeder Person empfehlen, die gerne die Beweggründe von unterschiedlichen Figuren nachvollziehen will und Wert auf authentische Gespräche legt.