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Veröffentlicht am 16.08.2022

Enemy-to_lover done the right way

I Kissed Shara Wheeler
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“Coming of age in a rural, conservative-leaning town of 500 is in itself no easy feat. Growing up queer in such an environment is much harder. Supporting queer youth, regardless of one’s own political ...

“Coming of age in a rural, conservative-leaning town of 500 is in itself no easy feat. Growing up queer in such an environment is much harder. Supporting queer youth, regardless of one’s own political and religious beliefs, is crucial.
I was raised in a religious family, in a small town with minimal diversity, in terms of race, political affiliation, and, least of all, sexual orientation and gender identity. Most of my town consisted of straight, white, Christian, cisgender, working-class people, with the majority identifying as politically conservative. Queerness felt like a taboo, something rarely talked about aside from the occasional hushed rumors: “I heard so-and-so is gay!”
There were a small handful of “out” members of the LGBTQ+ community in my town and at my high school, but those who were open about their sexuality and gender identities were visibly excluded socially and, more often than not, judged for their divergence from the status quo. With minimal representation in my hometown and in the media, I grew up hiding my queerness and internalizing toxic misconceptions about gender and sexuality that, to this day, I am still unlearning.” Growing Up Queer in a Small Town (thenation.com)

Das ist ein Text von Hannah Reynolds, die darüber schreibt als queere Person in einer amerikanischen Kleinstadt aufzuwachsen. Sie spricht über den Anpassungsdruck der ständig auf sie wirkte und über die Angst zu vereinsamen.
So wie Hannah geht es vielen queeren Menschen, die sich aus Angst vor Ausgrenzung und Gewalt verstellen und verstecken müssen, ehe sie endlich als Erwachsene ihre Heimat verlassen können, um woanders als der Mensch leben zu können, der sie wirklich sind.
Wir können uns gar nicht vorstellen wie es ist sich jahrelang zu verstellen, aufzupassen was man sagt und mit wem man etwas teilt, nur weil man nicht so ist wie andere es wollen.
Wir können uns nicht die unterdrückten Gefühle und Talente, die anerzogenen Schuldgefühle und Trauma vorstellen, die man erleidet wenn man nicht-hetero ist.
Und wozu das alles? Damit unreflektierte Menschen nicht an ihrem Weltbild arbeiten müssen? Das ist unfair.
“I kissed Shara Wheeler” ist ein Jugendroman von Casey McQuiston der genau darauf eingeht und zeigt, was aus Jugendlichen wird, die ständig für ihre Identität kämpfen müssen.
Unsere Protagonistin ist Chloe Green, die Enemy-to-Lover-Geschichten verschlingt, im Theater und der Hektik drum herum aufblüht, verdammt ehrgeizig ist und schnell wegen Kleinigkeiten aufbraust. Außerdem ist sie selbst bisexuell und hat das Gefühl in der protestantischen Kleinstadt zu ersticken, nachdem sie dort aus Los Angeles mit ihrer Familie hinziehen musste, um sich um ihre Großmutter zu kümmern.
Ihr einzigen Hoffnungslichter sind ihre Theaterfreunde, die Vorfreude darauf für die Uni wegzuziehen und die Auseinandersetzung mit ihrer höchstpersönlichen und überperfekten Nemesis Shara Wheeler, deren Vater auch der Direktor der christlichen Privatschule ist die Chloe besucht.
Kurz vor dem heiß ersehnten Schulabschluss verschwindet Shara aber und damit Chloes Chance endlich zu beweisen, dass sie die bessere ist. Deswegen sieht sich Chloe gezwungen Shara zu finden, um ihren Titel als Schulbeste genießen zu können.
Auf der Suche lernt Chloe aber schnell, dass sie von ihren Vorurteilen über die Kleinstadt geblendet wurde und ihre “normalen” Mitschüler*innen doch mehr verbergen, als sie dachte - unter anderem auch, dass sie von den konservativen Normen ihrer Heimat genauso sehr wie Chloeunterdrückt werden.
“I kissed Shara Wheeler” thematisiert, was passiert wenn man von klein auf in einer Welt aufwächst, in der man sich verstellen muss, um überleben zu können.
Was das konkret für die Jugendlichen heißt wird gerade an den polaren Gegensetzen Chloe und Shara deutlich: Während Shara das perfekte, angepasste weiße hetero-christian-Dreamgirl mit blonden Haaren spielt, ist Chloe der gothic-Rebell der ständig Unruhe stiftet.
Als vorzeige-Modell ist Shara der Star am Himmel, zu dem jeder aufschaut. Das blonde Haar ist perfekt, keinmal wurde sie mit abgesplitterten Nagellack gesehen und sie hat tausend Ehrenämter, während sie regelmäßig zu den besten Parties geht. Und natürlich ist sie eine makellose Christin, die auch in ihrer Freizeit in der Schulkapelle anzutreffen ist.
Erst als Shara untertaucht und Chloe nach und nach mehr über Shara lernt merkt sie, dass Chloe nicht die einzige ist die sich ein Schutzschild zulegen musste, um in dieser Kleinstadt zu überleben. So lernt sie auch, dass nicht alle ihre queeren Freunde die Kleinstadt unbedingt verlassen wollen und nicht alle Sportler-Nerds hirnlose und dumpfe Machos sind, sondern sie auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Identität und Gender hinterfragen.
Chloe hat das alles nie erahnt - sie war zu sehr damit beschäftigt sich und ihre Freundesgruppe vor den Vorurteilen und Mikroaggressionen zu schützen, dass sie selbst Mensch Stereotypisierte und dauergereizt wurde. So hatte sie oft das Gefühl sich noch mehr behaupten zu müssen und reagierte schnell aufbrausend bei Kritik.
Aber auch Shara wird durch Chloes Suche unerwarteterweise mit sich selbst konfrontiert: Erst als Chloe Shara sucht, lernt Shara, dass sie selbst Raum einnehmen darf und dass es Menschen gibt, die sie unterstützen werden auch wenn sie nicht mehr perfekt ist. Aber weil Shara ihr leben lang eine Rolle spielte muss sie erst herausfinden, wer sie überhaupt ist und wie der Raum aussieht, den sie einnehmen will.
Insgesamt zeigt “I kissed Shara Wheeler” wie sich Menschen verhalten, wenn ihnen Normen und eine Moral auferzwungen wird, ohne Raum für ihre eigene Identität zu haben - entweder verbirgt man sich oder tickt aus, ohne genau zu wissen, wogegen man die eigene Wut richten soll.
Den queeren Kindern wurde nämlich ständig klar gemacht, dass sie fehlerhaft waren - so wurden lesbische Schülerinnen von der Schule geschmissen, wenn es das Gerücht gab, dass sie miteinander rumgemacht haben und auf die richtige Verwendung von Pronomen wurde gar nicht geachtet.
Der (christliche) Direktor versuchte ständig, die Jugendlichen zu unterdrücken, damit das Image der Schule und sein eigenes Prestige unangefochten bleibt.
Darunter litten aber nicht nur die queeren Jugendlichen, sondern auch jene die sich uneingeschränkt ihrer anerzogenen geschlechtlichen Rollen entfalten wollten - so gab es einen Sportler, der nur mit sehr viel Mühe den Mut aufbringen konnte im Schulmusical aufzutreten und einen anderen der sich durch “gender affirming” Handeln (Handlungen, mit denen man absichtlich in seiner Geschlechterrolle festigt) an seine Männlichkeit zu klammern statt zu ergründen, wieso er sich doch nicht immer männlich fühlt.
Systematisch wurden so die Jugendlichen eingeschränkt - und vielen ist das nicht einmal aufgefallen. Das was den Alltag bestimmte wurde als normal und natürlich gegeben angesehen, ohne die Idee aufkommen zu lassen, dass es auch anders gehen könnte. Dieses System besteht nämlich schon seit Jahrzehnten (wenn nicht sogar Jahrhunderten), wie Chloes Mutter es zeigte.
Sie selbst kam aus dieser Stadt und ging zu gleichen Schule, wo sie selbst erleben musste, was es bedeutet ausgegrenzt und unterdrückt zu werden, ehe sie Freiheit in Los Angeles und in der Kunst finden durfte.
Deswegen fande ich es auch so beeindrucken, als sich Chloes beste Freundin (welche lesbisch ist) dazu entschied in der Kleinstadt zu bleiben, statt nach New York zur Uni zu gehen. Sie hat sich dazu entschieden die Stadt zu verändern, um diese strikten Fesseln die die Jugendlichen ersticken zu lösen, statt wie die anderen zu fliehen.
Insgesamt ist “I kissed Shara Wheeler” ein Enemy-to-Lover-Roman der durchgehend unterhaltsam und einfühlsam zeigt, wie es ist als queere Person in einer Kleinstadt aufzuwachsen.
Man lebt in ständiger Alarmbereitschaft ohne die Möglichkeit zu haben die eigenen Interessen und Bedürfnisse ausleben zu können. Der einzige Weg zum Glück ist die Flucht in Städte die durch die vielen Subkulturen und hohe Anonymität toleranter sind, ohne neue Einflüsse in die alte Stadtgemeinschaft zu bringen und so Veränderungen zu ermöglichen.
Die Menschen die sich in diese (heteronormativen) Strukturen einfügen können haben das Glück eine Gemeinschaft zu haben, die sie unterstützt und die Macht über die zu entscheiden, die nicht reinpassen - auch Menschenverachtendes Handeln wird dann damit gerechtfertigt, dass die Person einfach “unnormal” ist und sich hätte “anpassen” können.
Ich finde es aber schade, dass Sharas Glaube nicht mehr thematisiert wurde: Bis zum Schluss bleibt es offen, ob sie ihren Glauben mit ihrer Identität vereinbaren konnte. Gerade aber diese Frage ist richtig spannend, weil ich oft das Gefühl habe, dass der Glaube gerade in Jugendromanen bei Konflikten mit der eigenen Identität das Erste ist was abgelegt wird. Wie komplex Glaube tatsächlich ist wird dabei nicht genug reflektiert und für mich fühlt es sich oft so an, als würde Jugendlichen unterstellt werden, keine ernsthaften Positionen zu etwas so “erwachsenem” wie Glauben haben zu können.
Auf der positiven Seite fande ich McQuistons Schreibstil fantastisch - sie ließ Subtil Chloes Gefühle in die Beschreibung von Situationen und Handlungen einfließen und zeigte so auch die Subjektivität von Chloes Wahrnehmung ohne jemals einen auf die Nase zu binden, dass die ihre Wahrnehmung subjektiv ist. Auch konnte man Chloe so dabei begleiten wie sich ihre Meinungen und Positionen veränderten.
Auch zeigte McQuiston schonungslos welche Konsequenzen Chloes Handeln hatte, denn auf ihrer Suche nach Shara vernachlässigte sie ihre Freunde die sie brauchten und ihre Schuldverpflichtungen, obwohl auch die letzten Noten noch wichtig waren. Dazu wurden aber keine emotionalen Debatten benötigt, den McQuiston ließ dann die Reaktionen und beschriebenen Mimiken von Chloes Freunden für sich selbst sprechen.
Und nur mal kurz am Rande - ich liebe es, dass der Titel des Buches nicht eingedeutscht wurde! Das klappt nämlich selten gut.
“I kissed Shara Wheeler” ist ein Buch, das ich allen empfehle, die humorvolle, aufgeladene und queere Enemy-to-Lover-Geschichten lieben, die nebenbei auch gesellschaftskritisch sind.
Das Buch ist queer, macht Spaß und ist durchgehend spannend ohne sparsam mit Überraschungen zu sein, weswegen es ein toller Roman für zwischen durch oder eine tolle Grundlage für tiefe Gespräche sein kann.
Ich liebe es!

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Veröffentlicht am 19.04.2022

Ein Krimi wie jeder andere

Viral. Blutrausch
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Bevor ich eine Rezension schreibe, lasse ich immer ein paar Tage verstreichen - um mich zu sammeln, meine Gedanken zu ordnen und mich zu fragen, welchen Eindruck das Buch in mir hinterlassen hat.
Normalerweise ...

Bevor ich eine Rezension schreibe, lasse ich immer ein paar Tage verstreichen - um mich zu sammeln, meine Gedanken zu ordnen und mich zu fragen, welchen Eindruck das Buch in mir hinterlassen hat.
Normalerweise kommen mir dann ganz gute Gedanken, um meine Rezensionen zu beginnen, und mir fallen im Nachhinein Dinge auf, die ich fast übersehen hätte.
Aber dieses Mal? Nichts ist hängengeblieben.

“Viral. Blutrausch” ist ein Krimi von Mark Benecke, der 2022 durch den Beneveto-Verlag veröffentlicht wurde und den Privatdetektiv Sebastian Becker bei der Lösung eines medial und politisch aufgeladenen Falls begleitet.

Berlin gerät durch eine Mordserie in Aufruhr: Das Besondere an diesem Fall? Zwei schöne junge Frauen wurden bis auf den letzten Tropfen ausgeblutet, doch ihre Wunden sind kaum zu sehen.
Der ex-Polizist Sebastian Becker, gefolgt von seiner Assistenz Janina Funke, werden von der Polizei als Beratung angeheuert und Becker muss sich wieder strengen Regeln und starren Hierarchien entgegenstellen, die ihn schon einmal daran gehindert haben, ein Leben zu retten.
Der Fall selbst bestimmt bald die Medien und die Politik: Querdenker stürzen sich gierig auf diesen sonderbaren Mord, die Medien wittern einen Titelseiten füllenden Fall und werden noch wilder, als die BDSM- und Vampirismusszene in das Visier der Ermittlungen geraten. Auch die Politik versucht sich verzweifelt aus einer Schlinge zu winden, die sie sich durch Sparmaßnahmen und Druck auf die Beamten selbst geknüpft hat.
In diesem Durcheinander verliert die tatsächliche Lösung des Falls und das Leid der betroffenen Familien an Bedeutung.

So gewinnt auch der Titel des Krimis im Verlauf des Buches immer mehr Bedeutung, denn nicht nur ist das Interesse an diesem Fall für so viele unterschiedlichen Gruppen ansteckend - vielmehr scheinen die Leute in einen Blutrausch zu verfallen, indem es um die eigenen Interessen geht und die Wahrheit keine Rolle mehr spielt.

Währenddessen müssen Becker und die Polizistin XXX mit ihren eigenen inneren Dämonen kämpfen, während für beide durch den Fall vieles auf dem Spiel steht.

Dieser Krimi ist ein Mix auf Medienkritik, Politikanalyse, forensischen Insiderwissen und die eine oder andere Selbstreflexion.

Der Cast selbst ist dabei bunt gemischt: Wir haben den traumatisierten Detektiven, der dringend Therapie benötigt, weil er eine schrecklich dunkle Vergangenheit hat, sowie seinen Sidekick, die genauso kompetent ist, aber eben nicht die gleichen Chancen bekommt (und natürlich gab es eine Szene, in der sie heißer als sonst aussah, um eine Undercover-Mission zu erledigen). Demgegenüber steht die pflichtbewusste und regelkonforme Hauptkommissarin, die dennoch versucht unserem Helden so viel Freiheit wie Möglich zu verschaffen, während sie von dem Polizisten-Wunderkind unterstützt wird (die natürlich ebenfalls eine tragische Geschichte hat, welche sie zu noch mehr Perfektionismus antreibt).
Also insgesamt der typische Krimicast.

Die Handlung selbst war interessant und blieb durchgehend auf die Lösung des Falles konzentriert - Dinge, die die Figuren persönlich betrafen, wurden nur nebenbei angeschnitten, wobei sich solche persönlichen Momente doch nachhaltig auf die Figuren ausgewirkt haben.
Wendepunkte waren überraschend, aber sie wirkten nie wie aus dem Nichts herausgegriffen, weswegen ich das Gefühl hatte, miträtseln zu können und genug Infos zu erhalten, um selbst auf den Täter kommen zu können.

Insgesamt handelt es sich bei “Viral.Blutrausch” um ein Bilderbuchkrimi, an dem sich gerade unerfahrene Autoren wunderbar orientieren können.

Was ist dann mein Problem?

Das Buch war zu ordentlich.

Diesen Krimi war für mich so, als würde ich eine Folge aus einem Fernsehkrimi sehen: Die Folge war durchaus interessant und unterhaltsam, aber ich könnte sie nicht von anderen Folgen oder sogar anderen Serien unterscheiden, da die Figuren, die Opfer und die Fälle ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr einzigartig oder besonders sind.

Denn grundlegend folgen Krimis doch alle dem gleichen Rezept:

Opfer (junge, schöne Frau) + Detektiv (psychisch durch und tragische Geschichte) + blutiger, ausgefallener Mordfall (Pluspunkte, wenn der Mörder irgendwie ausgefallen ist) = Krimi

Und das ist vollkommen in Ordnung so - jedes Genre hat ein Grundgerüst, dass es auszeichnet und diese Grundstruktur erlaubt es Krimis zu einem Genre zu machen, in dem man sich immer schnell und leicht zurechtfinden kann, wenn man unterhalten werden will.

Aber weil “Viral. Blutrausch” all die Marker, die einen Krimi ausmachen so gut getroffen hat, ohne beispielsweise Elemente aus anderen Genres zu entnehmen oder die Figuren aus dem gewohnten Schema ausbrechen zu lassen, ist es für mich ein Buch von vielen, ohne für mich herauszustechen. Denn obwohl die politische und mediale Ebene interessant waren und auch mit dem Fall zu tun hatten, waren sie doch nicht so wichtig und tragend für die Geschichte, dass das Buch nicht ohne sie ausgekommen wäre.

Trotzdem möchte ich “Viral. Blutrausch” an alle weiterempfehlen, die Krimis lieben, denn es ist ein ordentlich geschriebenes Buch mit einem interessanten Fall, der auch die Frage stellt, welche Bedeutung die Suche nach der Wahrheit tatsächlich hat. Nur alle, die wie ich mit der klassischen Krimi-Formel nichts anfangen können, oder mehr Abwechslung in diesem Genre suchen, sollten von diesem Buch die Finger lassen.

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Veröffentlicht am 28.02.2022

Eine Krankheit mit vielen Vorurteilen

Als ich aus der Zeit fiel
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Für mich ist Mental Health ein wichtiges Thema, da ich davon ausgehe, dass mein Handeln davon abhängt, wie ich die Welt um mich herum wahrnehme.
Und das auch wortwörtlich, wie es Jens Jüttner mit seinem ...

Für mich ist Mental Health ein wichtiges Thema, da ich davon ausgehe, dass mein Handeln davon abhängt, wie ich die Welt um mich herum wahrnehme.
Und das auch wortwörtlich, wie es Jens Jüttner mit seinem Buch “Als ich aus der Zeit fiel” gezeigt hat.

“Als ich aus der Zeit fiel” von Jens Jüttner ist ein Sachbuch, welches 2020 durch den Pinguletta-Verlag veröffentlicht wurde und Jütters Umgang mit der eigenen Schizophrenie thematisiert.

Dabei ist Jüttners Herangehensweise interessant: Während Jüttner seine Erfahrungen und den Umgang mit seiner Schizophrenie teilt, ergänzt er seine Erfahrungsberichte mit allgemeinen Erklärungen und versucht so, seine Krankheit zu entstigmatisieren.
So macht Jüttner schnell klar, dass Schizophrenie kein Schicksalsschlag ist, den man hinnehmen muss, sondern es sich auch bei der Schizophrenie um eine Krankheit handelt, gegen die gekämpft werden kann.
Die Ursachen für das Auslösen dieser Krankheit sind nicht eindeutig bestimmbar - zu den Auslösern können traumatische Erlebnisse, aber auch Drogenkonsum, fallen. Klar ist aber, dass die Betroffenen in einer Welt gefangen sind, die sich nur um sie dreht und aus der es nur schwer ein Entkommen gibt.
Aber Jüttner zeigt, dass es ein Entkommen geben kann: Der Weg ist steinig und beginnt mit der Feststellung, dass man krank ist, ehe man mit der Suche nach den richtigen Medikamenten und der richtigen Therapie richtig Fahrt aufnimmt. Dieser Weg setzt aber auch voraus, dass man mit sich selbst und den Menschen um einen herum ehrlich ist - zu schnell kann es passieren, dass man aus Scham oder Stolz nicht die Hilfe in Anspruch nimmt, die man so dringend benötigt.

Besonders Jüttners persönliche Perspektive fand ich verdammt spannend: Psychische Krankheiten werden noch immer stigmatisiert oder klein geredet - so hat man keine Depression, sondern ist einfach faul und vegetiert vor sich hin. Und es gibt kein ADHS, sondern nur schlechte Erziehung. Auch Trauma bedeutet nur, dass man verweichlicht ist und Triggerwarnungen sind nur dazu da, dass man nicht mehr alles sagen darf. Das Outing als psychisch krank kann somit einen beruflich und sozial ins Aus führen - wenn das Outing überhaupt ernst genommen wird.

Durch Jüttners persönliche Erfahrungen, die er selbstreflektiert teilt, wird klar: Nein, psychische Krankheiten bedeuten nicht, dass man verrückt oder sozialer Dreck ist. Psychisch krank zu sein bedeutet, dass man sich selbst sein größter Gegenspieler ist und man sich ständig fragt, wieso man nicht das Gleiche kann wie alle anderen auch. Das wird dadurch gesteigert, dass man psychische Krankheiten nicht sehen kann, weswegen das Umfeld nur eingeschränkt unterstützen kann und es auch den Betroffenen selbst schwer fällt, sich ihre Krankheit einzugestehen und therapieren zu lassen.

Deswegen ist “Als ich aus der Zeit fiel” für mich ein wertvolles Buch, das ich weiterempfehlen will - nicht nur, weil sich Jüttner präzise und authentisch artikuliert und schwierige Konzepte niedrigschwellig erklären kann, sondern auch um das Verständnis für Mental Health zu fördern.

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Veröffentlicht am 20.02.2022

Eine neue Perspektive?

Europäische Identität
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Wie kann die Zukunft eines Systems aussehen, das sich vehement vor Veränderungen scheut?

“Europäische Identität: Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums” ist ein Buch von Wolfgang Sander, ...

Wie kann die Zukunft eines Systems aussehen, das sich vehement vor Veränderungen scheut?

“Europäische Identität: Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums” ist ein Buch von Wolfgang Sander, welches 2022 durch die Evangelische Verlagsanstalt GmbH veröffentlicht wurde. Sanders widmet sich mit diesem Buch der Frage, auf welchem Grund die Zukunft der Europäischen Union gebaut werden soll.

Dabei gliedert sich das Buch in mehrere Abschnitte: Zunächst wird eine Bestandsaufnahme darüber gemacht, was denn überhaupt eine europäische Identität wäre und welchen Problemen sich die Europäische Union stellen muss, ehe Annahmen über das Christentum und geschichtliche Ereignisse geklärt werden und ein Bild für ein mögliches zukünftiges christliches Europa gezeichnet wird.

Sander bietet eine gut argumentierte Perspektive auf die Bedeutung des Christentums für Europa: Darunter gehört die geschichtliche Relevanz des Christentums für die Entstehung Europas, aber auch die Werte des Christentums, die aus der Bibel herausgelesen werden können (darunter die Akzeptanz des eigenen Ichs, da man ein Ebenbild Gottes ist und mit einer gewissen Absicht geschaffen wurde. Daraus soll auch die Akzeptanz von Vielfalt und alternativen Lebenswegen resultieren, da das Geschaffensein nach Gott und die bedingungslose Liebe Gottes die Menschen eint). Wenn die christlichen Werte als Konstrukt für die Europäische Union akzeptiert werden, kann nach Sander eine starke Wertegemeinschaft entstehen, die sich gegenseitig unterstützt und stabil bleibt. Wie wichtig diese Art von Einigung ist, zeigt sich durch Entwicklungen in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Russland und China, die die Menschenwürde ihrer Bürger immer aggressiver angreifen.

Durch diese Annahme werden aber auch die Probleme mit dieser Argumentation deutlich: Sie ist eben eine konservative Perspektive, welche sich auf eine vermeintliche Vergangenheit bezieht, ohne die momentane Entwicklungen zu beachten. Diese Perspektive unterscheidet sich stark von meiner und zunächst wusste ich nicht wieso.

Sanders Ideen bauen darauf auf, dass Glaube notwendig ist, damit Menschen Werte entwickeln und entsprechend handeln.
So schreibt Sander, dass eine humanistische Ethik und der gesunde Menschenverstand nicht Grundlage genug sind, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, in dem die Würde des Menschen immer das oberste Ziel und nie ein Zweck ist. Das begründet Sander damit, dass es keinen Grund oder inhärenten Zwang gibt, ohne Gott ethisch zu handeln. Außerdem betont Sander, dass durch die historische Entwicklung Europas die Grundlage für ein christliches Europa gegeben sind - gerade weil die Werte und Symbole noch immer Teil unseres Alltags sind.

Diese Argumentation kann aus einer konservativen und gutbürgerlichen Perspektive zutreffen, aber sie übersieht, dass Christ sein und eine christliche Erziehung alleine niemanden zu einem solidarischen und an der Gemeinschaft interessierten Bürger machen und Werte sich mit neu aufkommenden Generationen verändern.

Gegen eben diesen Wertewandel positioniert sich Sander: Er sieht in der Moderne einen individualistischen Wertewandel, den er als eine Ursache für den mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt und Identitätspolitik betrachtet.

Dieser aus dem Wertewandel entstehende Individualismus zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen sich fragen, wer sie sind und was sie sein wollen - unabhängig anerzogenen Normen, die unter anderem noch durch Nachkriegstrauma geprägt sind (darunter gehört der Wunsch nach materieller Absicherung und auch die Angst davor, nicht Teil der Norm zu sein). Diesen Wandel betrachtet Sander kritisch, da er davon ausgeht, dass diese gesellschaftlichen Veränderungen zu Egozentrismus führen und der gemeinschaftliche Zusammenhalt verloren geht. Dabei übersieht Sanders, dass gerade dieser Wertewandel und Individualismus die Grundlage für eine stabile europäische Gemeinschaft begründen kann.

Für Menschen, die nicht vom Wertewandel abgeholt worden sind, scheinen diese modernen Entwicklungen selbstsüchtig und wertelos zu wirken - sinkende Vereinsmitgliederzahlen, Kirchenmitgliederzahlen und sinkende Parteimitgliedschaften scheinen diese Annahmen auf den ersten Blick zu bestätigen. Was aber übersehen wird, ist gewaltig: Zum einen hat sich durch das Internet eine neue Ebene von Gemeinschaft gebildet, welche nicht an Orte oder einen Status gebunden ist, was dafür sorgt, dass immer mehr Kinder millieuübergreifend miteinander sozialisiert werden. Durch das Internet wachsen die Kinder auch in einem Umfeld auf, dass durch Empathie, Verständnis und Toleranz geprägt ist - unter anderem, weil so viele unterschiedlichen Lebensperspektiven und auch die eigenen Probleme und Schwierigkeiten öffentlich geteilt werden. Auch wird immer wieder öffentlich bekannt, wie toxisch gerade Vereins- und Kirchenstrukturen sein können.
Zum anderen wachsen die jungen Generationen in einer globalisierten Welt mit globalen Problemen auf, welche so zu einem anderen Selbstverständnis über die eigene Position führen - man wächst mit dem Bewusstsein auf, dass das eigene Dorf doch nicht der Nabel der Welt ist.
Dieser neue Individualismus, welcher dazu motiviert sich selbst und die Strukturen um einen herum zu hinterfragen, führt dazu, Gemeinschaften nicht durch anerzogenen Götterglaube und Selbstwert durch Götterliebe gefördert wird, sondern auf dem Verständniss, dass man einfach ein Mensch ist und man mit anderen mitfühlen kann. Und dass andere Lebenswege einen selbst nicht bedrohen oder ersetzen. Darauf aufbauend ist es möglich, entsprechend einer humanistischen Ethik zusammenzuleben und geteilte gemeinsame Erfahrungen oder zumindest Empathie für einander als ausschlaggebenden Grund nennen zu können.

Trotz allem ist Sanders Perspektive relevant: Die Ideale, die Sander vertritt sind grundlegend, um ein ethisches Zusammenleben sicherstellen können - diese Werte müssen aber eben nicht aus dem religiösen Glauben gezogen werden. Seine Perspektive macht er durch einen klaren Schreibstil und logisch aufeinander folgenden Argumenten klar - das führt auch dazu, dass man ohne viel Vorwissen nachvollziehen kann, was Sander beschreibt.

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Begegnung bedeutet Veränderung

Kleine Philosophie der Begegnung
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Das Buch ist das, was Philosophie sein soll: Prägnant, niedrigschwellig und lebensnah.
„Kleine Philosophie der Begegnung“ ist ein Buch von Charles Pépin, welches 2022 durch den Carl Hanser Verlag veröffentlicht ...

Das Buch ist das, was Philosophie sein soll: Prägnant, niedrigschwellig und lebensnah.
„Kleine Philosophie der Begegnung“ ist ein Buch von Charles Pépin, welches 2022 durch den Carl Hanser Verlag veröffentlicht wurde und sich mit der Frage beschäftigt, was Begegnungen ausmacht.
Dabei argumentiert Pépin auf mehreren Ebenen: Wenn Begegnungen am Anfang des Buches noch das offene aufeinander zugehen waren nimmt seine Argumentation im Verlauf des Buches an philosophischer Tiefe zu, ehe sich Pépin Hegels Hermeneutik widmet und dabei durch Erfahrungsberichte den Realitätsbezug nicht verliert.
Das wundervolle an diesem Buch ist, dass kein Vorwissen benötigt wird, um gleich Anschluss zum Thema zu finden. Dieser Zugang wird durch Pépins präzise und klare Schreibweise erleichtert weswegen er auch komplexe Themen leicht verständlich vermittelt. Dabei schildert Pépin Erfahrungen, die man aus dem eigenen Alltag kennt: Sei es das wie-von-selbst entstandene Gespräch mit einer zuvor fremden Person, bei dem man sich fühlt, als würde man gerade tatsächlich gesehen werden oder wenn man mit einer Person an einem Projekt arbeitet, das überraschenderweise so viel mehr wurde.
Dabei zeigt Pépin geschickt auf, was Begegnungen mit uns machen. Oder auf Philosophendeutsch: Er zeigt, dass Begegnungen ein hermeneutischer Zirkel sind.
Denn Begegnungen führen zu Veränderungen: Veränderungen in uns und Veränderungen in der Art und Weise, wie wir die Welt betrachten. Oder konkreter: Begegnungen zwingen uns dazu unsere Stereotypen und Vorurteile zu hinterfragen und auf die Probe zu stellen. So können wir nicht mehr sagen, dass Kunst wertlos ist, wenn uns gezeigt wurde, dass Kunst erlebt werden kann. Wir können nicht mehr sagen, dass die Jugend verdorben ist, wenn wir sehen, dass Kinder mit anderen Werten aufwachsen. Wir können nicht mehr sagen, dass Frauen gleichberechtigt sind, wenn wir sehen, wie Frauen noch immer an veralteten Rollenidealen bemessen werden.
Diese Veränderungen gehen auch nicht in uns verloren, denn sie werden auch in unserer Welt wirksam – gerade dann, wenn wir anders auf Menschen zugehen und neue Möglichkeiten erkennen, uns selbst zu verwirklichen. Das passiert dann, wenn wir uns selbst durch Kunst verwirklichen, obwohl wir sie vorher geächtet haben, Jugendliche fördern, statt sie zu verurteilen oder für Frauenrechte einstehen, anstatt Frauen mangelnde Mündigkeit vorzuwerfen.
Deswegen ist dieses Buch eine Begegnung, die ich allen empfehlen kann. Es ist eines der wenigen Bücher, die mich geprägt haben und dazu führte, dass ich mehr Vorfreude im Alltag auf das Außergewöhnliche empfinden wollte. „Kleine Philosophie der Begegnung“ ist ein Buch für die Menschen, die Neugier an allem Neuen haben und es lieben in jedem neuen Kontakt Potenzial für neue Erfahrungen zu sehen.

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