Wichtiges Zeitdokument aus Sicht eines Wehrmachtssoldaten
Dieses Buch aus der Reihe „Memoria – Erinnerungen an das 20. Jahrhundert“ wollte ich unbedingt lesen, da ich mich sehr für den 2. Weltkrieg und v. a. Einzelschicksale aus dieser Zeit interessiere. Bislang ...
Dieses Buch aus der Reihe „Memoria – Erinnerungen an das 20. Jahrhundert“ wollte ich unbedingt lesen, da ich mich sehr für den 2. Weltkrieg und v. a. Einzelschicksale aus dieser Zeit interessiere. Bislang hatte ich allerdings fast nur Biographien von jüdischen Holocaustopfern gelesen, dies war also mein erster Bericht aus Sicht eines Soldaten.
Raffeiner gerät als Frontsoldat und später als Gefangener natürlich in sehr viele lebensbedrohliche Situationen, die er mit einer Mischung aus handwerklichem Geschick, viel Glück und Zufall meist unbeschadet übersteht. Er berichtet nur sehr wenig über die Gefechte, in die er verwickelt ist, sondern mehr über das „Drumherum“. Dem Leser bleiben dadurch sicherlich viele Grausamkeiten erspart. Raffeiner ist von Anfang jemand, der das Töten meidet, wenn es möglich ist. Er erwähnt auch nie, dass er einen feindlichen Soldaten getötet hat, was aber sicherlich in den Gefechten unvermeidbar gewesen sein muss, selbst wenn er in erster Linie für die technische Wartung der Panzer zuständig war. Als er den Befehl erhält, russische Gefangene zu töten, schafft er es, dass der „Auftrag“ an einen Kameraden geht. Auch als Raffeiner erfährt, was mit den Juden passiert, ist er betroffen, doch er hat keine Zeit, sich darüber weiter Gedanken zu machen.
Denn trotz all seiner Menschlichkeit: Es ist Krieg, und man will das eigene Überleben sichern. Anfangs ist Raffeiner noch interessiert an den Lebensumständen der Einheimischen, verbringt gerne Zeit mit ihnen, scherzt und lacht. Doch bald weicht seine Empathie dem Lebenserhaltungstrieb, er stumpft immer mehr ab.
„In den Holzhütten [der Einheimischen] gab es häufig kleine einfache Holzkamine, die je nach Jahreszeit auch nur mit Steppengras befeuert wurden. Der Ofen spendete für unsere Truppe häufig zu wenig Wärme. Deshalb schürten wir mit allem, was wir finden konnten, nach. So manches Mal kam es auch vor, dass wir damit die ganze Holzhütte in Brand setzten und aus der Behausung flüchten mussten. Wir waren nun mal keine Heiligen. Auf dem Vormarsch nicht und schon gar nicht jetzt beim Rückzug. Vor allem dann nicht, wenn wir Hunger hatten und unsere 'Fresskiste' mit Verpflegung auffüllen mussten, weil unsere eigene Verpflegung bei Weitem nicht reichte. Dann mussten wir uns etwas 'organisieren', wie wir damals sagten. Einmal überfielen wir ein kleines Dorf und schlachteten Hennen, Enten und anderes Vieh. Wir drangen in die Hütten ein, beuteten die Keller aus und suchten im Lehmboden nach Spuren von vergrabenem Essen. Was sollten die Dorfbewohner auch machen? Es waren ja nur Frauen, Kinder und Alte – die Männer waren im Einsatz. Natürlich haben sie geweint, wenn wir ihnen das Vieh weggenommen haben. Schuldgefühle hatte ich aber keine. In dieser Welt war das normal, das war kein Verbrechen, auch wenn das in der heutigen Welt nicht verstanden wird. Das war Krieg, das gehörte dazu, es ging ums Überleben.“ (S. 100)
Hitler hatte den Soldaten angeordnet, sich „aus dem Lande zu ernähren“, d.h. sie mussten für ihr Überleben die Einheimischen ausplündern, da es keinen bzw. nur unzureichenden Nachschub gab. Außerdem sollten sie bei Rückzügen verbrannte Erde hinterlassen. Raffeiner tut dies irgendwann ohne jegliche Schuldgefühle. Sie oder ich, so lautet das Motto des Krieges. Er entschuldigt sich nicht dafür, er legt schlicht die Fakten dar. Er versucht sich seine Menschlichkeit zu erhalten, doch irgendwann verbieten es die äußeren Umstände. Oder wäre es doch möglich gewesen? Ich will mir kein Urteil darüber erlauben.
Der Schreibstil ist lebendig und lässt sich sehr flüssig lesen. Die Kriegserlebnisse sind meist ohne Wertung und eher unemotional geschildert. Raffeiner war kein Nationalsozialist, er hat einfach gekämpft, wie es viele Soldaten taten, die gegen ihren Willen an die Front geschickt wurden. Er äußert keine Ressentiments gegen Juden, feindliche Soldaten oder andere „Staatsfeinde“, auch dann nicht, als er in russische Kriegsgefangenenschaft gerät und fast an den Strapazen stirbt.
Aufgewertet wird das Buch durch zahlreiche s/w-Fotos, die Raffeiner während seiner Soldatenzeit selbst geschossen hat. Allerdings sind hier nur die "idyllischen" Fotos erhalten geblieben. Raffeiner hat durchaus auch die Gräueltaten der Wehrmacht und der Russen dokumentiert, jedoch wurden diese Bilder vermutlich von einem nationalsozialistisch gesinnten Cousin, der sie aufbewahrte, entsorgt. Immerhin müssen empfindliche Leser hier nicht befürchten, auf schockierende oder eklige Bilder zu stoßen.
Wie in allen Bänden der Memoria-Reihe wird die eigentliche Erzählung von einem (kurzen) Vorwort und einem langen Nachwort (inkl. Fußnoten) durch einen Historiker abgerundet. Das über 30 Seiten lange Nachwort von Hannes Heer ergänzt, analysiert und korrigiert gegebenenfalls auch Raffeiners Erzählungen. Dem Leser werden nochmal zahlreiche Zahlen und Fakten genannt. Im Vergleich zu den Zeitzeugen-Berichten ist das Nachwort wissenschaftlich gehalten und meist ziemlich trocken. Für meinen Geschmack hätte es etwas straffer sein dürfen. Aber für diejenigen, die sich noch tiefer in die Materie einlesen wollen, sind diese Ausführungen sicherlich sehr interessant.
„Wir waren keine Menschen mehr“ ist ein weiterer wichtiger Zeitzeugenbericht über den 2. Weltkrieg. Fast wollte ich schreiben, dass wir hier diesmal die Täterseite kennenlernen. Doch wenn man richtig nachdenkt, so glaube ich, dass Raffeiner nicht nur Täter, sondern auch gleichzeitig Opfer der kranken Politik Hitlers war. Auch wenn es mittlerweile viele solcher Berichte gibt, ist jeder einzelne von ihnen wichtig, damit wir nicht die Augen verschließen vor dem, was damals geschah, und aus der Geschichte lernen.