Wenn Genius mit Gewissenlosigkeit gepaart ist...
Auch der dritte Psychothriller der New Yorker Erfolgsautorin Mary Higgins Clark zeichnet sich durch Hochspannung von Anfang bis Ende aus – und das, obwohl der Mörder dem Leser der aus unterschiedlichen ...
Auch der dritte Psychothriller der New Yorker Erfolgsautorin Mary Higgins Clark zeichnet sich durch Hochspannung von Anfang bis Ende aus – und das, obwohl der Mörder dem Leser der aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Geschichte von Beginn an bekannt ist!
Genau das ist der Hauptkritikpunkt, den viele Leser anbringen und der sie dazu verleitet, den Krimi „The Cradle Will Fall“ als minderwertig einzustufen! Doch – wie war das damals mit der Fernsehserie um den immer etwas ungepflegten und leicht vertrottelt daherkommenden, in Wirklichkeit aber blitzgescheiten Inspektor Columbo? Wer der jeweilige Täter war, wussten die Zuschauer bereits zu Beginn! Minderte das die Spannung? Nicht doch! Im Gegenteil war es immer ein Hochgenuss und ein Vergnügen besonderer Art, den Gedankengängen und der unbezwingbaren Logik des dunkelgelockten, später zunehmend grauer werdenden Detektivs im abgewetzten Trenchcoat zu folgen, bis er seinen Mörder da hatte, wo er ihn wollte: in der Falle!
Nun, was für den kalifornischen Ermittler gilt, gilt auch für vorliegenden Thriller, der, wie die meisten Romane der „Queen of Suspense“, an der Ostküste der Vereinigten Staaten, vorzugsweise in New York und Umgebung, spielt und dessen Handlung, wie in einigen weiteren Mary Higgins Clark–Romanen, in der Welt der Medizin angesiedelt ist, wie auch, im Hintergrund, in der des amerikanischen Justizsystems.
Katie DeMaio, die Protagonistin – zugegebenermaßen die schwächste von Mary Higgins Clarks für gewöhnlich starken, einprägsamen Frauentypen -, ist eine junge Staatsanwältin und zum Zeitpunkt, als der Leser ihr zum ersten Mal begegnet, in gesundheitlich geschwächter Form, die nicht nur von einigen schon länger existierenden medizinischen Problemen herrührt, sondern verstärkt wird durch einen minderschweren Autounfall auf eisiger Straße, den sie zu Beginn der Handlung erleidet und der sie direkt in die Westlake-Klinik bringt. Nun hat Katie aber eine regelrechte Todesangst vor Krankenhäusern, seitdem nicht nur ihr geliebter Vater, sondern auch ihr Ehemann, Richter DeMaio, an einem solchen Ort verstorben sind! In der Nacht, die sie gezwungenermaßen in der Klinik verbringt, beobachtet sie, halb unter dem Einfluss eines Betäubungsmittels, vom Fenster aus, wie jemand eine tote Frau in den Kofferraum eines Autos legt, tut diese Beobachtung später jedoch, obwohl sie weiter an ihr nagt, als Albtraum ab, was er freilich nicht ist. Denn in der Tat hat sie gesehen, wie der Arzt, der am kommenden Wochenende eine Operation bei ihr durchführen wird, die Leiche seiner Patientin Vangie Lewis des Nachts abtransportiert hat, um den Mord, den er an ihr verübt hat, als Selbstmord zu tarnen! Und der Arzt, ein allseits verehrter Gynäkologe und erklärter Spezialist für Risikoschwangerschaften, weiß, dass Katie ihn gesehen hat – was das Todesurteil für die junge Frau sein soll....
Dr. Highley ist wild entschlossen: im Namen der Forschung, die er mit Größenwahn, gepaart mit äußerster Gewissenlosigkeit, betreibt und mit deren Resultaten er als Bahnbrecher der In-vitro-Fertilisation in die medizinischen Annalen einzugehen gedenkt, muss jeder sterben, der sich ihm in den Weg stellt! Und das sind neben Vangie Lewis, an der er seine verbrecherischen Experimente durchführte, die aber kurz davor stand, ihn zu entlarven, auch seine Vorzimmerdame Edna Burns, die zuviel weiß und unter Alkoholeinfluss geschwätzig wird, und Vangies alter Arzt, Dr. Emmet Salem. Ungeplante Morde, aber diesem skrupellosen Mann mit dem kranken Hirn, der im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht und dessen dunkle Vergangenheit unbedingt verborgen bleiben muss, notwendig erscheinend, damit sein Genie, über das er unzweifelhaft verfügt, der Welt erhalten bleibt....
Ja, wir lernen ihn gut kennen, den mörderischen Arzt mit dem eiskalten Blick, der wohl dereinst, davon muss man ausgehen, wie alle Vertreter seiner Zunft den Eid des Hippokrates geschworen hat und dem schon sehr lange kein Menschenleben mehr heilig ist! Wir verfolgen Schritt für Schritt seine, wie er meint, ausgeklügelten und unfehlbaren Pläne, die im Mord an Katie DeMaio gipfeln sollen, und ebenfalls verfolgen wir die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und die davon unabhängigen des Gerichtsmediziners Richard Carroll, dem als erstem gewisse Unstimmigkeiten bezüglich des vermeintlichen Selbstmordes von Vangie Lewis auffallen und der sich gleichzeitig immer mehr sorgt um die junge Staatsanwältin, die er liebt und für sich zu gewinnen hofft.
Ein regelrechtes Katz-und-Maus-Spiel ist das, was die Schriftstellerin so raffiniert ersonnen hat, ein Roman der verpassten Chancen, denn eigentlich – auch das wurde vielfach negativ vermerkt! - wusste jede der handelnden Personen etwas Wichtiges, das, hätten sie die Gelegenheit gehabt es offenzulegen oder ihr Wissen richtig eingeordnet, zwar nicht Vangies Tod aber doch die Morde an den beiden anderen Opfern hätte verhindern können und vor allem Katie nicht in die Fänge des gewissenlosen Genies Highley geraten lassen.
Aber – dann wäre der Thriller bereits nach den ersten fünfzig Seiten zu Ende gewesen, nicht wahr? Also ist diese eine wirklich nicht ernst zu nehmende Kritik, wie auch die an der Anhäufung der „unwahrscheinlichen Zufälle“! Da wir es hier nicht mit einem Tatsachenbericht zu tun haben sondern mit einem Werk der Fiktion, sind auch die unwahrscheinlichsten Zufälle erlaubt – vor allem dann, wenn sie von einer solchen Könnerin ihres Fachs, wie es Mary Higgins Clark ohne jeden Zweifel ist, dazu genutzt werden, einen so schnellen und atemlos spannenden Roman zu produzieren wie diesen, der im Jahre 1980 erstveröffentlicht wurde und dessen Charaktere weder blass noch langweilig sind, wie weitere Nörgler finden, die, so ist zu mutmaßen, nur die Oberfläche sehen anstatt sich von der Schriftstellerin dazu einladen zu lassen, hinter die Fassade zu blicken. Genau das nämlich muss man schon tun bei ihr – und genau das ist es auch, was so faszinierend an ihren Charakteren ist! Man erfährt gerade genug von ihnen, um sie begreifen, visualisieren, nachvollziehen zu können. Andeutungen anstelle von plakativen Beschreibungen bedeuten auch, den Leser ernst zu nehmen, ihm Freiraum zu lassen für seine eigenen Bilder! Ich kenne kaum Schriftsteller der Spannungsliteratur, außer Dame Agatha natürlich, die das Subtile so meisterhaft beherrschen wie die Amerikanerin mit den irischen Wurzeln!
Und nun komme ich zum letzten Punkt meiner Ausführungen, nämlich zu dem Kritikpunkt, wir hätten es hier mit einem „simplen medizinischen Thriller“ zu tun. Weit gefehlt auch das! Zuallererst müssen wir uns das Erscheinungsjahr des Romans vergegenwärtigen: 1980, zwei Jahre nachdem im englischen Oldham der erste In-vitro gezeugte Mensch geboren wurde – Louise Brown, die als „Retortenbaby“ in die Geschichte einging. Das, was heute, gut vierzig Jahre später, Normalität ist – über acht Millionen Retortenbabys wurden inzwischen geboren! -, war damals eine Sensation. Und es war für den behandelnden Arzt, den Genetiker und Pionier auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin, Robert Edwards, nicht nur der Durchbruch, sondern brachte ihm dreißig Jahre später auch den Nobelpreis für Medizin ein.
Mary Higgins Clarks Dr.Highley versucht sich genau auf diesem, 1980 noch in den Kinderschuhen steckenden Gebiet – und zwar so, wie es auf keinen Fall gemacht werden darf.... Ein negatives Pendant also zu Robert Edwards, von dessen Forschungen sich die Autorin jedoch mit Sicherheit hat inspirieren lassen – eine Vorgehensweise, die typisch für sie ist, da sie die aktuellen Nachrichten bis auf den heutigen Tag mit akribischer Genauigkeit verfolgt, um sich für ihre Bücher inspirieren zu lassen! Die Ergebnisse können sich sehen lassen, damals, wie heute!