Nicht ganz fundiertes Zeitreisebuch
Liebe Daisy,
hier kommt meine Rezension zu Michael Englers Lea und das Labyrinth der Zeit, das diese Woche bei Boje erschienen ist. Ich durfte es im Rahmen einer Leserunde von Lesejury.de schon vorab ...
Liebe Daisy,
hier kommt meine Rezension zu Michael Englers Lea und das Labyrinth der Zeit, das diese Woche bei Boje erschienen ist. Ich durfte es im Rahmen einer Leserunde von Lesejury.de schon vorab lesen und freue mich, meine Leseeindrücke mit dir zu teilen.
Inhalt
Die Geschichte folgt Lea, die gerade Schulferien hat. Doch entgegen ihrer Erwartungen und Hoffnungen, kann sie diese nicht mit ihrer besten Freundin zuhause verbringen und an der Eröffnung des neuen Jugendclubs teilnehmen. Nein, sie muss zu ihrer Tante und ihrem Onkel in ein klitzekleines Dorf aufs Land fahren. Auf diese ländliche Einöde hat sie so gar keine Lust. Doch dann reiht sich ein merkwürdiges Ereignis an das nächste. Was steckt hinter den scheinbar simplen Landeiern und welche Schatten verbergen sich im Wald, der das Dorf umgibt?
Falls du mit dem Buch bekannt bist, wird dir auffallen, dass sich meine Inhaltsangabe stark vom Klappentext unterscheidet. Das ist Absicht. Ich finde leider, dass dieser sehr viel vorwegnimmt, was erst nach weiten Teilen des Buches passiert. Liest man ihn, nimmt man dem Buch etwas von seinem Zauber, was ich sehr schade finde.
Schreibstil
Die Geschichte eröffnet mit einem Prolog, der sich sprachlich stark vom Rest abhebt (S. 15) und einen mystischen Märchencharakter hat. Anschließend gehen wir direkt in eine Erzählung in der dritten Person über, die unserer Protagonistin Lea folgt. Apropos Lea: Ich muss zugeben, dass ich bis zum Schluss kein klares Bild von ihr im Kopf hatte. Sie wird einfach nicht beschrieben. Auch dass das Buch in Deutschland spielt, wurde erst nach einiger Zeit und auch da nur indirekt erwähnt (S. 52).
Was dafür um so atmosphärischer beschrieben war, waren Eindrücke der Landschaft. Ich hatte direkt das Gefühl, selbst dort zu sein (z.B.: S. 28). Auch Leas Gefühle, z.B.: ihre Angst auf Seite 33, waren toll beschrieben und greifbar, so dass sie mich beim Lesen direkt mitgerissen haben. Besonders schön war auch die Sequenz zu Träumen (S. 156).
Nicht ganz so gut gefallen haben mir dafür die Dialoge (z.B.: S. 116). Diese fühlten sich oft unnatürlich an und die einzelnen Repliken bezogen sich nicht wirklich aufeinander, so dass ich beim Lesen ins Stocken kam und die Sequenzen mehrfach lesen musste, um den Bogen zu verstehen (z.B.: S. 52–54). Ich glaube, der Autor ist sich bewusst, dass indirekte Erzählungen eher seine Stärke sind: An mehreren Stellen wurde auf die direkte Rede verzichtet und Lea hat stattdessen im Nachhinein von den Gesprächen berichtet (z.B.: S. 42, S. 43, S. 65). Wenn die Dialoge doch ausgeschrieben wurden, zog es sich leider durch das ganze Buch, dass die Gedankensprünge zu groß waren (z.B.: 223).
Sprachlich mochte ich das Buch ganz gerne, mir sind bloß einige Kleinigkeiten aufgefallen. Leas Sprache klingt teilweise etwas hochgestochen, z.B.: „Das führt zu weit“ (S. 263) ist etwas umständlich. An einer Stelle (S. 104) häuften sich Variationen des Wortes „Ekel“. Ich verstehe, dass dieses Gefühl betont werden sollte, aber vielleicht hätte sich da das eine oder andere Synonym finden lassen. Ansonsten findet sich bloß versehentlich eine Präsensform („So entstehen Verschwörungstheorien“) auf S. 122, es fehlt ein Konjunktiv auf S. 157 („die Sonne aufgeht“), ein falsches Demonstrativpronomen hat sich eingeschlichen („Dies Jahr haben wir schon Probleme genug.“ (S. 164)) und der der Beginn von Kapitel 17 (S. 222) fällt etwas aus dem Rest der Erzählung, weil er von einem extrinsischen Erzähler zu stammen scheint. Manchmal war ich etwas verwirrt, zum Beispiel, wenn Lea über „halb nackte goldene Jungen“ (S. 40) nachdenkt – keine der Figuren ist gold. Oder meint sie hier gebräunt? Oder aber bei Gedanken wie: „Es klang nicht mehr bedrohlich. Es klang wie eine Warnung“ (S. 123). Ein Satz, bei dem ich mich gefragt habe, ob der Sinn von Warnungen nicht darin liegt, bedrohlich zu sein. Oder wie Leas Stimme zu zittern beginnen kann, wenn sie gar nicht spricht (S. 187). Schön fand ich dafür die Meta-Ebene, wenn Lea etwa die Tatsache, dass der Fremde genau zur richtigen Zeit – wie im Film– aufgetaucht ist, hinterfragt (S. 56).
Wertevermittlung
Ich möchte an dieser Stelle positiv hervorheben, dass der Klimawandel und dessen verschiedene Auswirkungen mehrfach (u.a. S. 23) erwähnt wird. Keine Sorge, es ist immer gut in die Erzählung eingeflochten und kein Wink mit dem Zaunpfahl. Es hat mir auch gefallen, dass LeugnerInnen aufgegriffen und durch wissenschaftliche Information dazu gebracht wurden, diese Haltung zu hinterfragen (S. 64/S. 70). Ich hatte große Freude daran, eine Protagonistin zu haben, die sensibel ist, was diese Problematik angeht und die auch die Gesellschaft infrage stellt: „Aber wer informiert sich hier schon?“ (S. 28). Zudem finde ich es gelungen, dass sozialkritische Thematiken immer wieder Einzug in die Erzählung fanden, z.B.: „Containern“ (S. 259).
Das Labyrinth der Zeit
Klasse fand ich zudem, wie in diesem Buch immer wieder wissenschaftliche Theorien eingebaut wurden. Die haben Lea in meinem Kopf zwar älter gemacht als die 14 Jahre, die sie sein hätte sollen, haben der Geschichte aber auch eine spannende Facette hinzugefügt (z.B.: S. 91). Insbesondere das Doppelspaltexperiment findet hier Beachtung: „David Deutsch, das ist ein berühmter Physiker, hat mal Photonen, also Lichtteilchen, durch zwei schmale Spalte geschickt.“ (S. 134). Es gefällt mir ausgezeichnet, wie dieses Experiment aufgegriffen wird, um die übernatürlichen Elemente in der Erzählung zu versuchen zu erklären; wobei ich anmerken möchte, dass Photonen eben keine Lichtteilchen sind. Das Experiment hat ja genau gezeigt, dass Licht Welle und Teilchen gleichzeitig ist. Aber das nur am Rande.
Bezüglich Mittel zur Zeitreise war ich zugegeben etwas verwirrt. Mal abgesehen davon, dass sich die Zeitreisen in dieser Erzählung eher nach Doctor Who anfühlten (worauf sogar angespielt wird (S. 192)), habe ich die Art, auf die Moritz reist, nicht verstanden. Wenn er sich jedes Mal ein Labyrinth bauen muss, wie war er denn dann „auf Eisplaneten, wo es so kalt war, dass dir das Blut innerhalb einer Sekunde erfrieren würde“ (S. 190)?
Lea
Ich mag Leas kecke Art und ihren Humor (z.B.: S: 19). Manchmal kippt er leider in Beleidigungen, zum Beispiel, wenn sie die Landbevölkerung als „mental ausbaufähig“ (S. 19) beschreibt. Wobei es die Vielzahl an Vorurteilen, die sie hat (z.B.: „Das ganze Leben besteht hier aus dummen Sprichwörtern und blöden Bauernregeln“ (S. 28)) womöglich braucht, um ihr zu erlauben, diese im Lauf der Geeschichte zu überkommen. Ihre Einstellung zu den DorfbewohnerInnen wird nämlich definitiv zunehmend weniger vorurteilsbelastet; etwa, wenn sie deren Verschwiegenheit ihr gegenüber reflektiert (S. 64) oder deren Einstellung zu Tieren (S. 65).
Ganz allgemein fand ich Lea authentisch geschrieben. Etwa ihre Sorge über das Funkloch (S. 20) oder dass sie darüber nachdenkt, ihre Erlebnisse als Video zu posten (S. 50). Dazu passend, fand ich ihre Suche nach ihrem ganz persönlichen HeldInnen Epos auch sehr amüsant (z.B.: S. 84), bzw. ihre Ambitionen als berühmte Wissenschaftlerin gefeiert zu werden (z.B.: S. 138). Auch wenn es mir dabei die Nackenhaare aufgestellt hat, fand ich den Anglizismus „Superprank“ (S. 144) ebenfalls sehr passend für einen modernen Teenager.
Sympathisch war Lea besonders am Anfang der Erzählung. Für mich konnte sie unter anderem damit punkten, dass sie bodenständige Hobbies hat, wie Teil eines Jugendclubs zu sein (S. 17) oder schwimmen zu gehen (S. 22), und keinesfalls nur rumsitzen möchte (S. 22). Auch, dass sie ziemlich schlau zu sein scheint (S. 24), Dokumentationen schaut (S. 27) und einen starken „Forschergeist“ (S. 26) hat, fand ich sympathisch. Sie ist vorausschauend, indem sie erst überlegt, was sie brauchen könnte, anstatt sich direkt in eine Wanderung zu stürzen (S. 29/S. 71). Allgemein ist sie ziemlich reflektiert (z.B.: S. 37) – ein gutes Vorbild. Gefallen hat mir auch, wie sie versucht, das Mysterium zu lösen. Sie wirkt wie eine meisterliche Detektivin (z.B.: S. 49).
Nach einiger Zeit trifft Lea jedoch auf drei Jungs aus dem Dorf. Ihr Umgang mit diesen hat mich leider einiges an Respekt für sie verlieren lassen, weil sie ungeheuer vorurteilsbelastet und unfreundlich ist (S. 74/76). Nicht, dass diese besonders freundlich ihr gegenüber wären, aber dafür, dass sie sich ihnen erhaben fühlt, hätte ihr Verhalten anders aussehen müssen. Etwas irritiert war ich auch, als Lea fragte „Wohin hast du mich verschleppt?“ (S. 213), nachdem sie selbst vorangegangen war.
Nach einiger Zeit häuften sich in Leas Gedankenstrom leider Instanzen, die sich gelesen haben, als hätte sie eine gespaltene Persönlichkeit, z.B.: „Fort von der Mühle, hin zum Wald. Quatsch! Doch! Etwas leitet dich. Und wie soll Etwas das hinkriegen, bitte schön?“ (S. 90). Ich verstehe, was hier vermittelt werden sollte, aber ich hätte mir gewünscht, dass sich die Darstellung des inneren Konfliktes besser in die Erzählform des restlichen Buches fügt. Besonders irritierend fand ich, als ihre eigenen Gedanken sie stutzig machen, weil sie Dinge gedacht hat, die sie nicht wissen konnte: „Das Andere ist nicht hier, dachte Lea. Noch nicht. Kurz stutzte sie. Das Andere?“ (S. 186). Gleichzeitig passt dieses Verhalten bis zu einem gewissen Grad auch zu ihren sprunghaften Stimmungswechseln (z.B.: S: 265).
Leas Beziehung zu anderen Figuren
Leas Beziehung zu dem Unbekannten im Wald blieb für mich leider durchgehend merkwürdig. Die beiden schleichen über weite Strecken des Buches umeinander herum. Erst bevormundet sie ihn (z.B.: S. 55), bevor sie dazu übergeht, ihm konsequent vorzuwerfen, ihr nichts zu sagen – obwohl er es tut (z.B.: S. 188). Und dann schwärmt sie plötzlich wie verrückt für ihn, ohne dass man weiß, woher diese Gefühle kommen (S. 214) – oder ist das eine Schockreaktion? Ich wusste bei den beiden jedenfalls nie wirklich woran ich bin.
Auch Leas Beziehung zu Lennard war etwas unnachvollziehbar, weil in der Entwicklung viele Sprünge waren, z.B.: auf S. 94, wenn sie plötzlich ganz vertraut miteinander umgehen, obwohl er kurz davor enttäuscht von ihr von dannen gezogen ist. Sie verhält sich ihm gegenüber unfassbar unhöflich über weite Strecken des Buches (z.B.: S. 118), so dass ich mich gefragt habe, ob sie ihn überhaupt mag und was er an ihr findet. Dann aber, denkt sie wieder darüber nach, nur noch mit ihm und nicht mehr alleine in den Wald gehen zu wollen (S. 133), um kurz darauf berechnend zu beschließen, Lennard zu manipulieren (S. 134). Soll das nun als Freundschaft gewertet werden? Es fühlte sich nicht so an.
Der Spannungsbogen
Nach einem packenden Auftakt, der mich völlig gefesselt hat, hat das Buch nach etwa einem Drittel leider an Zug verloren. Besonders die Szenen zwischen Lea und Moritz hatten für mich nicht die Dringlichkeit, die sie entsprechend der Ereignisse, die sich überschlagen, haben müssten (z.B.: S. 145, S. 152, S. 191, S. 262, S. 276). Wobei Dringlichkeit generell etwas ist, das in dem Buch zu kurz gekommen ist für mein Verständnis: Quasi von Anfang an wird davon gesprochen, dass es gefährlich für Lea ist, das Haus zu verlassen. Und dennoch tut sie eben das nach Lust und Laune, ganz ohne Probleme; auch, dass sie zum Schützenfest geht, steht nie in Frage. Sollte man eine derartige Veranstaltung nicht verschieben, wenn das gesamte Dort in Aufruhr wegen einer Gefahrenquelle ist?
Das Buch hat dann im letzten Drittel durchaus nochmal Spannung aufgenommen (besonders S. 258) und ich war wieder mit Feuereifer dabei. Es gab weiterhin einige Ungereimtheiten (z.B.: Warum ein Nachrichtensender etwas von vor zwei Wochen ausstrahlen sollte (S. 243)), aber auch einige richtig tolle atmosphärische Instanzen (z.B.: S. 267)
Das Ende war dann aber leider dennoch unzufriedenstellend. Es fühlte sich nicht an, als wären alle losen Enden verknüpft worden; ich hatte vielmehr das Gefühl, dass mich das Buch mit lauter Fragezeichen zurückgelassen hat. Leas Beziehungen zu den verschiedenen anderen Figuren fühlen sich allesamt an als wären sie in der Schwebe. Die Mystik, die der Prolog aufgeworfen hat, wird leider in keinen Kontext gebracht, so dass ich ihn bis zum Schluss nicht ganz einordnen konnte (oder ist das besagtes quitt sein, von dem der Bösewicht spricht (S. 279)?). Ich frage mich auch noch immer, woher das Amulett kommt. Und wieso Lea, wenn sie zurückkehrt, um die Vergangenheit zu ändern, Dinge ändert, die davor so nicht passiert sind (S. 272). Und wieso der Bösewicht sie in ihr Zimmer gesperrt hat, wo es doch in seinem Interesse gelegen haben müsste, dass sie im Wald unterwegs ist. Fragen über Fragen...
Fazit
Du merkst es schon, ich stehe dem Buch mit gemischten Gefühlen gegenüber. Es hatte für mich einen tollen Start, sowohl was Spannung als auch die Figuren anging. Leider nahm beides nach einer Weile ab. Obwohl die Spannung am Schluss wieder aufkam, hat mich das Buch mit unzähligen offenen Fragen zurückgelassen. Leider. Womöglich haben jüngere LeserInnen ab 10 trotzdem Spaß an dem Buch; aktuell ist es jedenfalls. Aber mich als alten Hasen in dem Genre konnte es leider nicht ganz überzeugen.
Deine Daffy