Cover-Bild Accabadora
Band 768 der Reihe "Wagenbachs andere Taschenbücher"
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13,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Wagenbach, K
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Erzählende Literatur
  • Seitenzahl: 176
  • Ersterscheinung: 13.03.2017
  • ISBN: 9783803127686
Michela Murgia

Accabadora

Julika Brandestini (Übersetzer)

Wie Mutter und Tochter leben Bonaria Urrai und die sechsjährige Maria in einem sardischen Dorf zusammen. Die alte Schneiderin hat das Mädchen zu sich genommen und zieht es groß, dafür wird Maria sich später um sie kümmern.
Als vierte Tochter einer bitterarmen Witwe war Maria daran gewöhnt, »die Letzte« und eine zu viel zu sein. Nun hat sie ein eigenes Zimmer in dem großen reinlichen Haus Bonarias, wo alle Türen offen stehen und sie jeden Raum betreten darf.
Doch ein Geheimnis umweht die stets schwarz gekleidete, wortkarge Frau, die mitunter nachts, wenn Maria schlafen soll, Besuch erhält und dann das Haus verlässt. Es scheint, als würde Bonaria in zwei Welten leben. Das Mädchen spürt, dass sie nicht danach fragen darf. Erst sehr spät entdeckt sie die ganze Wahrheit. Michela Murgia erzählt in einer schnörkellosen, poetischen Sprache aus einer scheinbar fernen, doch kaum vergangenen Welt. Von zwei Generationen, zwei Frauenleben, von einem alten, lange verschwiegenen Beruf.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.12.2023

Das Erbe Sardiniens

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»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, ...

»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu ihrer Ziehmutter Bonaria Urrai kommt – gegen ein paar Eier und Petersilie. Es sind die 50er Jahre, in denen Maria in Soreni, einem fiktiven Ort im ländlichen Sardinien aufwächst. War Maria bisher nur das ungeliebte Anhängsel, so lernt sie allmählich, was es bedeutet, beschützt und geliebt zu werden. Vor allem hält Bonaria das Geschwätz der Leute von ihr fern, denen es suspekt ist, dass eine so alte Frau ein kleines Kind zu sich holt. Maria wird pflichtbewusst und mit Liebe erzogen, kann sogar im Gegensatz zu ihren leiblichen Schwestern die Schule länger als nur drei Jahre besuchen. Sie wird zu einem aufgeweckten, intelligenten Kind, das seine Umwelt aufmerksam beobachtet und so entgeht ihr auch nicht, dass Tzia Bonaria immer wieder nachts verschwindet. Und sie sieht, dass die Dorfbewohner die alte Schneiderin mit einer gewissen Distanz behandel. Erst viele Jahre später wird Maria verstehen, was ihre Ziehmutter in diesen Nächten getan hat.

Murgia zeigt uns in ihrem Roman ihre Heimat, die wenig mit den Urlaubsbildern und -vorstellungen eines Sardiniens zu tun hat, das wir vielleicht kennen. Die raue, archaische Lebensweise der Landbevölkerung, die oft ungebildet ist und an altem Aberglauben festhält, scheint fast stoisch ihr Schicksal zu ertragen.
Doch im Mittelpunkt steht der Dienst von Bonaria Urrai, denn sie ist eine Accabadora – eine Frau, die Sterbehilfe leistet. Es ist nicht gesichert, ob es solche Frauen tatsächlich gegeben hat oder ob sie nur Teil zahlreicher sardischer Legenden sind.

Maria ist erschüttert, als sie erkennt, was ihre Ziehmutter macht und es gibt einen harten Bruch in ihrer Beziehung, mehr möchte ich aber nicht verraten.
Laut einer sardischen Tradition ist es wichtig, nicht allein auf die Welt zu kommen, aber auch nicht allein zu gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Strebehilfe, die tief in der traditionellen Ansichten verwurzelt ist, sowie den daraus resultierenden Generationenkonflikt schildert Murgia auf sehr behutsame und einfühlsame Weise. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern überlässt es uns Leser*innen, die Gedanken weiterzuführen.
Das alles bettet sie in eine wunderbare Geschichte ein, in der geheiratet und gestorben wird, alte Bräuche und Legenden aufleben, Land gestohlen wird, Menschen am Leben verzweifeln, aber sich auch verlieben. Hin und wieder versüßt Murgia uns das Lesen mit pabassinos und capigliette – typisch sardischen Spezialitäten, die zu einer Hochzeit gebacken werden.

Ich bin Maria beim Erwachsenwerden gern gefolgt, auch wenn ich immer eine gewisse Distanz gespürt habe. Accabadora ist sicher kein romantisierendes Wohlfühlbuch, aber eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, die mich lange darüber nachdenken ließ, wie man mit Leben und Tod in unserer Gesellschaft umgeht.

Es war mein erstes Buch der Autorin, wird aber sicher nicht mein letztes sein. Leider starb Michela Mugia letztes Jahr im Alter von 51 Jahren.

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Veröffentlicht am 02.10.2018

Archaische Bräuche …

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Sardinien in den 50er Jahren. Bittere Armut zwingt die Witwe Listru dazu, ihre jüngste Tochter, die 6jährige Maria, an die kinderlose Schneiderin Bonaria Urrai abzugeben. Diese wird das Mädchen wie eine ...

Sardinien in den 50er Jahren. Bittere Armut zwingt die Witwe Listru dazu, ihre jüngste Tochter, die 6jährige Maria, an die kinderlose Schneiderin Bonaria Urrai abzugeben. Diese wird das Mädchen wie eine eigene Tochter aufziehen und Maria wird sich dafür, wenn Bonaria alt ist, um sie kümmern. Maria fühlt sich sehr wohl bei ihrer liebevollen Pflegemutter, wohnt sie doch jetzt in einem großen Haus und darf sogar zur Schule gehen. Die Jahre vergehen, Maria ist schon beinahe erwachsen, als sie Bonarias schreckliches Geheimnis entdeckt – sie ist eine Accabadora, sie leistet Sterbehilfe. Maria will nur noch weg von Bonaria, sie geht aufs Festland und nimmt in Turin eine Stelle als Kindermädchen an …

„Accabadora“ ist der erste Roman der italienischen Schriftstellerin Michela Murgia. Er wurde in 25 Sprachen übersetzt und auf Deutsch über 150.000 Mal verkauft. Murgia wurde 1972 in Cabras auf Sardinien geboren, studierte Theologie und unterrichtete zunächst Religion, bevor sie begann, Geschichten über Sardinien zu schreiben. Nach einigen Jahren in Mailand lebt sie heute wieder auf Sardinien.

Altes überliefertes Brauchtum, das bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts auf Sardinien noch teilweise praktiziert wurde, hat das Buch zum Inhalt. So war es üblich, dass kinderlose Frauen ein „Kind des Herzens“, meist ein Mädchen aus armen Verhältnissen, adoptierten. Sie gewährten ihr eine gute Erziehung und Bildung, dafür hatte das Mädchen die Ziehmutter dann im Alter zu versorgen. Ebenso seltsam mutet heute die Tätigkeit als Accabadora an, der unsere Protagonistin Bonaria des Nachts nachgeht. Sie hilft, meist mit Wissen der Angehörigen, als ‚Akt der Barmherzigkeit‘ Sterbenden über die Schwelle vom Leben zum Tod.

Michela Murgia erzählt hier in einer kraftvollen schnörkellosen Sprache nur so viel, wie zum guten Verständnis unbedingt nötig ist, dennoch empfindet man die Geschichte als sehr poetisch und manchmal sogar melancholisch. Zwei Frauen aus zwei verschiedenen Generationen, altes Brauchtum und abergläubische Rituale treffen auf die Neuzeit – entstanden ist ein ergreifender, aufwühlender Roman mit einem unglaublich guten, genau passenden Ende.

Absolut lesenswert!