Das Erbe Sardiniens
»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7
So beginnt die Geschichte von Maria Listru, ...
»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7
So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu ihrer Ziehmutter Bonaria Urrai kommt – gegen ein paar Eier und Petersilie. Es sind die 50er Jahre, in denen Maria in Soreni, einem fiktiven Ort im ländlichen Sardinien aufwächst. War Maria bisher nur das ungeliebte Anhängsel, so lernt sie allmählich, was es bedeutet, beschützt und geliebt zu werden. Vor allem hält Bonaria das Geschwätz der Leute von ihr fern, denen es suspekt ist, dass eine so alte Frau ein kleines Kind zu sich holt. Maria wird pflichtbewusst und mit Liebe erzogen, kann sogar im Gegensatz zu ihren leiblichen Schwestern die Schule länger als nur drei Jahre besuchen. Sie wird zu einem aufgeweckten, intelligenten Kind, das seine Umwelt aufmerksam beobachtet und so entgeht ihr auch nicht, dass Tzia Bonaria immer wieder nachts verschwindet. Und sie sieht, dass die Dorfbewohner die alte Schneiderin mit einer gewissen Distanz behandel. Erst viele Jahre später wird Maria verstehen, was ihre Ziehmutter in diesen Nächten getan hat.
Murgia zeigt uns in ihrem Roman ihre Heimat, die wenig mit den Urlaubsbildern und -vorstellungen eines Sardiniens zu tun hat, das wir vielleicht kennen. Die raue, archaische Lebensweise der Landbevölkerung, die oft ungebildet ist und an altem Aberglauben festhält, scheint fast stoisch ihr Schicksal zu ertragen.
Doch im Mittelpunkt steht der Dienst von Bonaria Urrai, denn sie ist eine Accabadora – eine Frau, die Sterbehilfe leistet. Es ist nicht gesichert, ob es solche Frauen tatsächlich gegeben hat oder ob sie nur Teil zahlreicher sardischer Legenden sind.
Maria ist erschüttert, als sie erkennt, was ihre Ziehmutter macht und es gibt einen harten Bruch in ihrer Beziehung, mehr möchte ich aber nicht verraten.
Laut einer sardischen Tradition ist es wichtig, nicht allein auf die Welt zu kommen, aber auch nicht allein zu gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Strebehilfe, die tief in der traditionellen Ansichten verwurzelt ist, sowie den daraus resultierenden Generationenkonflikt schildert Murgia auf sehr behutsame und einfühlsame Weise. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern überlässt es uns Leser*innen, die Gedanken weiterzuführen.
Das alles bettet sie in eine wunderbare Geschichte ein, in der geheiratet und gestorben wird, alte Bräuche und Legenden aufleben, Land gestohlen wird, Menschen am Leben verzweifeln, aber sich auch verlieben. Hin und wieder versüßt Murgia uns das Lesen mit pabassinos und capigliette – typisch sardischen Spezialitäten, die zu einer Hochzeit gebacken werden.
Ich bin Maria beim Erwachsenwerden gern gefolgt, auch wenn ich immer eine gewisse Distanz gespürt habe. Accabadora ist sicher kein romantisierendes Wohlfühlbuch, aber eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, die mich lange darüber nachdenken ließ, wie man mit Leben und Tod in unserer Gesellschaft umgeht.
Es war mein erstes Buch der Autorin, wird aber sicher nicht mein letztes sein. Leider starb Michela Mugia letztes Jahr im Alter von 51 Jahren.