Von zwei Frauen, einem tiefen Schlaf und dem Warten auf Rettung
Eine junge Prinzessin sticht sich an einer Spindel und fällt in einen langen Schlaf. Auch ihr Königreich, das von hohen Dornenhecken bewacht wird, ereilt in ›Der Fluch der Spindel‹ das gleiche Schicksal. ...
Eine junge Prinzessin sticht sich an einer Spindel und fällt in einen langen Schlaf. Auch ihr Königreich, das von hohen Dornenhecken bewacht wird, ereilt in ›Der Fluch der Spindel‹ das gleiche Schicksal. So weit, so bekannt?
An einem anderen Ort lebt eine junge, bildschöne Frau mit schwarzen Haaren, der Zwerge mit Rat und Tat zur Seite stehen. Eine Frau, die selbst einmal in einen tiefen Schlaf gefallen war und deren Hochzeit nun kurz bevorsteht. Klingt das ebenfalls bekannt?
Wer nun glaubt, es lediglich mit einer Kombination der Märchen Dornröschen und Schneewittchen zu tun zu haben, der irrt sich. Als die junge Frau mit dem schwarzen Haar vor der Prinzessin hört, die durch eine Spindel in einen tiefen Schlaf gefallen ist, zieht sich diese kurzerhand ihr Kettenhemd an. Geheiratet werden kann später, eine Prinzessin gerettet werden jedoch nicht. Und warum sollte stets auf einen Mann gewartet werden, der den Kuss der Erlösung bringt?
»Eigentlich war es das Nachbarreich der Königin, aber die Berge, die sich an der Grenze auftürmten, waren so hoch, dass selbst die Vögel sie nicht überwanden, geschweige denn Menschen. Die Berge galten als unpassierbar.«
Selbst ist die Frau in ›Der Fluch der Spindel‹, ohne Männern jedoch vorteilhafte Eigenschaften abzusprechen. Verstecken müssen sie sich hinter diesen jedoch nicht. Doch nicht nur in der Kombination der beiden Märchen und in der Figur der Retterin unterscheidet sich dieses Buch von den Märchengrundlagen. Um die in einen tiefen Schlaf gefallene Prinzessin ranken sich weitere Geheimnisse.
Obwohl ›Der Fluch der Spindel‹ nur 72 Seiten lang ist, steckt in diesen Seiten jede Menge Fantasie und Schönheit. Eine faszinierende Protagonistin, zahlreiche atmosphärische und wunderschöne Illustrationen und eine fesselnde Geschichte, die trotz der vertrauten zugrundeliegenden Geschichten überraschen kann.
»An jenem Tag erwachte die Königin zur führen Stunde. ›Heute in einer Woche‹, sagte sie laut zu sich selbst, ›heute in einer Woche bin ich verheiratet.‹«
›Der Fluch der Spindel‹ ist wunderschön und passend durch Chris Riddell illustriert worden. So wird jede Seite in doppelter Hinsicht zu einem wahren Schatz und zu einem Lesevergnügen. Nicht nur das Cover ist ein Augenschmaus, die zahlreichen Illustrationen sind voller Details und wunderbar einzigartig. Da lohnt sich doch ein Blick darauf, was Chris Riddell bislang noch so illustriert hat, darunter weitere Bücher von Neil Gaiman oder beispielsweise von Terry Pratchett.
Dass Neil Gaiman ein Händchen für die Neuerzählung von Märchen, Mythen oder Legenden hat, konnte der Autor bereits in ›Nordische Mythen und Sagen‹ zeigen. Einen Hang zur Phantastik wird auch in seinen weiteren Werken sichtbar, wie in ›Der Ozean am Ende der Straße‹. Ich bin jedenfalls gespannt, noch viele weitere Werke von diesem wunderbaren Autor zu lesen und habe mir bereits einige auf meine Leseliste gesetzt.
»Sie ließ sich ihr Schwert bringen.
Sie ließ die Taschen mit Proviant füllen und ihr Pferd satteln.
Und dann ritt sie aus dem Palast davon Richtung Osten.«
›Der Fluch der Spindel‹ ist ein wahrer Bücherschatz. Leider konnte ich das Buch nur noch antiquarisch erhalten, es war es aber auf jeden Fall wert, danach zu suchen und zu warten. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass es bald wieder leichter zugänglich wird, damit es noch viel mehr Lesern und Leserinnen bekannt wird. Es ist ein wunderbares Zusammenspiel aus bekannten Märchenelementen, modernen Ideen und charakteristischen Illustrationen, das ich sehr empfehlen kann. Nicht nur für Liebhaber von Schneewittchen und Dornröschen ist dieses Buch definitiv einen näheren Blick wert.