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Veröffentlicht am 26.03.2025

Komplett drüber

Greta & Valdin
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Greta und Valdin sind Geschwister und führen ein mehr oder weniger normales Leben in Auckland. Sie teilen sich eine Wohnung, beide sind in ihren 20ern, queer und unglücklich in ihren Nicht-Beziehungen: ...

Greta und Valdin sind Geschwister und führen ein mehr oder weniger normales Leben in Auckland. Sie teilen sich eine Wohnung, beide sind in ihren 20ern, queer und unglücklich in ihren Nicht-Beziehungen: Während Valdin seine Angststörungen in den Griff zu bekommen versucht und seinem deutlich älteren Freund Xabi nachtrauert, der die Flucht ergriffen hat und nach Argentinien gezogen ist, himmelt Greta aus der Ferne ihre Kollegin Holly an und fragt sich, ob es nicht vielleicht einfacher wäre, es doch nochmal mit Männern zu probieren. Die Perspektive wechselt mit jedem Kapitel zwischen den beiden Geschwistern.

Ich mochte den Roman sehr und fand ihn gleichzeitig ziemlich anstrengend. Ich liebe es, dass nahezu jede der (für einen Roman dieses Umfangs recht vielen) Figuren queer ist. Ich liebe Gretas und Valdins Familie, weil sie so wunderbar chaotisch und liebevoll ist, und würde sie wirklich gerne alle mal bei einem Abendessen persönlich kennenlernen. Die Figuren und auch die Story an sich sind wirklich komplett drüber und alles ist irgendwie ziemlich aufgedreht, was das Lesen manchmal wirklich anstrengend macht (meistens aber auf eine komisch positive Art und Weise) – man muss für diesen Roman wohl selbst in genau der richtigen Lebenssituation sein, sonst findet man ihn vermutlich ziemlich überdreht. Ich kann mir außerdem vorstellen, dass „Greta & Valdin“ vor allem für ein Zielpublikum in den (frühen?) 20ern interessant ist und dass es außerhalb dieses Bereichs schwieriger sein könnte, sich in den Roman und seine Figuren einzufühlen – ohne das jetzt pauschalisieren zu wollen. Was sich auf jeden Fall sagen lässt, ist, dass der Schreibstil wunderbar locker ist und diese Familie voller Exzentriker und sympathischer Sonderlinge immer wieder unerwartet zum Lachen bringt.

Queerness ist hier ein ganz großes Thema, aber, und das ist das Besondere: ohne explizit ein großes Thema zu sein. Es ist einfach komplett normal, und das ist toll. Auch Valdins Angststörung wird feinfühlig und humorvoll wie die normalste Sache der Welt beschrieben, ebenso das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten und die sich umeinanderschlingenden Wurzeln der maori-russisch-katalanischen Familie. Diejenigen, die in anderen Romanen vielleicht eher als Randfiguren auftauchen, um doch noch eine Prise Vielfalt und Diversität mit reinzubringen, stehen hier im Zentrum.

Besonders in der 2. Buchhälfte schleicht sich leider die ein oder andere Länge ein; auch, den Überblick über die Figuren zu behalten, ist manchmal nicht ganz einfach. Besonders im Bekannten- und Beziehungskreis der Eltern muss man da häufiger mal auf das Personenregister zurückgreifen (oder einfach stoisch weiterlesen).

Insgesamt ist „Greta & Valdin“ ein bunter, lebendiger Roman, in dessen Welt man manchmal liebend gerne eintauchen wollen würde und der dann doch wieder echt „viel“ ist. Vielleicht auch „zu viel“, das wäre absolut nachvollziehbar – dieser Roman ist sicherlich nicht für jede*n etwas; unter den richtigen Umständen kann man ihn aber auch wirklich großartig finden und die Lesezeit sehr genießen. Von daher eine warme Leseempfehlung unter Vorbehalt!

Veröffentlicht am 24.03.2025

Wichtiger und aktueller Roman

Unter Grund
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Hals über Kopf flüchtet Franka in ihr Heimatdorf in der fränkischen Povinz, nachdem sie mit ihrer Klasse in München eine Gerichtsverhandlung des NSU-Prozesses besucht hat. Viele Jahre war sie nicht mehr ...

Hals über Kopf flüchtet Franka in ihr Heimatdorf in der fränkischen Povinz, nachdem sie mit ihrer Klasse in München eine Gerichtsverhandlung des NSU-Prozesses besucht hat. Viele Jahre war sie nicht mehr hier, hat die Ereignisse ihrer Jugend verdrängt, deretwegen sie sich schon einmal in einem Gerichtssaal wiedergefunden und ihre Mutter sie auf ein Internat geschickt hat. Nun kommt alles wieder hoch: Die Sommertage mit Leon am Weiher, während die halbe Welt im WM-Taumel ist. Die Treffen der NPD in der örtlichen Dorfkneipe, von denen jeder weiß, aber jeder so tut, als wisse er nichts. Patrick und Janna, die ein paar Jahre älter sind und eine merkwürdige Anziehung auf die fünfzehnjährige Franka ausüben, weil sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Weil sie rebellieren. Weil sie auch mal handeln und nicht bloß immer nur reden.

Nun, zurück auf dem Land, zurück im "Fuchsbau" - dem Haus ihrer Großmutter, die von allen stets nur "die Fuchsin" genannt wurde und um die man lieber einen Bogen gemacht hat -, muss Franka sich endlich damit auseinandersetzen, wie das war, damals, als sie langsam aber sicher immer weiter in die rechte Szene hineingerutscht ist. Und auch damit, warum jeder im Dorf weiß: Man muss aufpassen, wenn der Fuchs umgeht.

Franka ist keine ganz einfache Protagonistin. Besonders ihre Eigenschaft, Schuld grundsätzlich nicht bei sich zu suchen, sich selbst als jemanden zu betrachten, der ohne viel eigenes Zutun in alles hineingezogen wird, kann beim Lesen manchmal anstrengen - trotzdem finde ich genau das auch irgendwie wieder passend, weil es vermutlich den Kern des Problems recht gut trifft: Man hält sich selbst nie für schuldig, man reagiert nur auf das, was das Umfeld vorgibt. Obwohl das beim Lesen also vielleicht etwas stört, finde ich diese Eigenschaft in Frankas Charakter druchaus glaubwürdig und gelungen.
Das Ende des Romans dagegen war mir etwas zu überhastet; gerne hätte ich mehr darüber erfahren, wie Franka letztendlich ihren Weg aus der rechten Szene hinausgefunden hat.
"Unter Grund" fragt danach, wie es sein kann, dass sich Jugendliche radikalisieren, obwohl wir es doch eigentlich alle besser wissen müssten - eine wichtige Frage, heute vielleicht mehr denn je. Die Antwort, die der Roman liefert, ist nur eine von vielen möglichen, aber eine plausible und nachvollziehbare (auch dann, wenn man selbst sich politisch genau in der entgegengesetzten Richtung verortet).
Auch, wenn mich der Roman nicht in allen Punkten vollkommen überzeugt hat, ist er unglaublich wichtig. Gerade heute. Von daher auf jeden Fall eine Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 01.03.2025

Nicht so meins

Flusslinien
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Die 102-jährige Margrit lebt in einer Seniorenresidenz nahe der Elbe. Im Römischen Garten, in den sie sich jeden Tag von ihrem Fahrer Arthur bringen lässt, erinnert sie sich mit Blick auf den Fluss zurück ...

Die 102-jährige Margrit lebt in einer Seniorenresidenz nahe der Elbe. Im Römischen Garten, in den sie sich jeden Tag von ihrem Fahrer Arthur bringen lässt, erinnert sie sich mit Blick auf den Fluss zurück an ihre Jugend und Kindheit, die Kriegsjahre und die Beziehung ihrer Mutter Johanne zu einer anderen Frau. Manchmal denkt sie auch nach über Arthur, der mehr oder weniger heimlich mit einer Metallsonde das Flussufer abläuft, während er auf Margrit wartet, oder über ihre Enkelin Luzie, die gerade die Schule kurz vor dem Abitur abgebrochen hat und Tätowiererin werden möchte. Beide scheinen, genau wie Margrit, ihre eigenen Geheimnisse zu haben und ihre eigenen Traumata zu verarbeiten.

Die Perspektive wechselt regelmäßig zwischen Margrit, Arthur und Luzie, besonders in Margrits Kapiteln kommen sehr viele Rückblenden in die Vergangenheit hinzu. Das war mir beim Lesen etwas zu viel Unbeständigkeit, lieber hätte ich entweder nur Margrits Perspektive inklusive Rückblenden oder die Perspektive aller drei Figuren in der Gegenwart, aber ohne Rückblenden gelesen. Zwar sind alle Stränge gut geschrieben und für sich genommen interessant, insgesamt waren mir das aber einfach zu viele Baustellen gleichzeitig - ich wäre lieber noch tiefer in die Innenwelt der einzelnen Figuren eingetaucht. Wobei das aber sicherlich auch Geschmackssache ist.
Sehr gut gefallen hat mir dafür die Kulisse - ich konnte mir Margrit sehr gut vorstellen, wie sie an einem etwas nebligen Morgen auf den bemoosten Steinstufen am Flussufer sitzt und die Spaziergänger beobachtet.

Schlecht fand ich den Roman nicht, wirklich überzeugen konnte er mich aber auch nicht. Ich bin mir sicher, dass er seine begeisterten Leser*innen finden wird, ich gehöre nur einfach nicht dazu - und das darf ja auch so sein. (Das Cover liebe ich trotzdem sehr.)

Veröffentlicht am 14.02.2025

Spannendes Gedankenexperiment mit Abzügen

Für immer
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Es scheint ein ganz gewöhnlicher Frühsommertag wie jeder andere zu sein, und doch hat sich rückblickend etwas Entscheidendes ereignet an jenem 6. Juni: Die Zeit ist stehengeblieben. Oder besser: Die Zeit ...

Es scheint ein ganz gewöhnlicher Frühsommertag wie jeder andere zu sein, und doch hat sich rückblickend etwas Entscheidendes ereignet an jenem 6. Juni: Die Zeit ist stehengeblieben. Oder besser: Die Zeit schreitet weiter voran, jedoch nicht für die Menschen. Während Pflanzen und Tiere nach wie vor geboren werden, wachsen und sterben, scheint der Mensch kein Teil der Natur mehr zu sein: Embryos, Neugeborene und überhaupt alle Menschen verbleiben in exakt jenem Entwicklungszustand, in dem sie sich in der Sekunde dieses mysteriösen Ereignisses befanden. Niemand wird mehr geboren und niemand stirbt. Schwangere bleiben schwanger, Krebspatientinnen und eigentlich tödlich Verwundete sterben doch nicht, Rentnerinnen blühen angesichts der geschenkten Lebenszeit neu auf, während Entbindungsstationen und Bestattungsinstitute ihre Türen schließen und Beatmungsgeräte ebenso überflüssig werden wie die Nahrungsaufnahme.

Tag um Tag, Woche um Woche folgen so aufeinander, ohne, dass auch nur ein einziger Mensch um eine Millisekunde altert. Während die einen einfach das beste aus dieser unerwartet gewonnenen Lebenszeit machen, beginnen andere sich zu fragen: Ist das eine Verschwörung? Verheimlicht die Regierung etwas? Kann diesem Zustand ein Ende gesetzt werden - individuell, indem man das eigene Leben beendet, oder kollektiv, indem in den Relikten alter indigener Kulturen nach Antworten gesucht wird?

Lundes Gedankenexperiment liest sich in den ersten beiden Dritteln des Romans unglaublich spannend. Durch die verschiedenen Figuren ergeben sich viele verschiedene Blickwinkel auf die Situation, Vor- und Nachteile des plötzlichen Nicht-mehr-Alterns werden gegenübergestellt. Gefühlt hätte der Roman gerne noch 100 oder auch 200 Seiten länger sein können, um die einzelnen Protagonist*innen länger begleiten zu können und vor allem auch, um das Ende etwas runder zu machen. Denn wie beim Lesen befürchtet endet der Roman recht abrupt, die gelieferte Lösung ist eigentlich kaum als solche zu bezeichnen und wird den zuvor aufgeworfenen Fragen in ihrer Komplexität mMn nicht gerecht. Mit dem, was über 300 Seiten mühevoll aufgebaut wurde, geschieht am Ende - nichts. All die offenen Fragen und potentiell tiefgründigen Gedanken verpuffen einfach so, und mit ihnen leider auch ein Großteil des Effekts, den der Roman hätte haben können. Das war dann doch sehr schade und schränkt die (eigentlich große) Lesefreude im letzten Moment ziemlich ein.

Veröffentlicht am 14.02.2025

Highlight

Für Polina
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Hannes und Polina, Polina und Hannes. Von kleinauf sind sie unzertrenntlich, durchstreifen gemeinsam das Moor, nehmen sich vor morschen Birken in Acht, lungern im Sommer auf der Vortreppe der alten Moorvilla ...

Hannes und Polina, Polina und Hannes. Von kleinauf sind sie unzertrenntlich, durchstreifen gemeinsam das Moor, nehmen sich vor morschen Birken in Acht, lungern im Sommer auf der Vortreppe der alten Moorvilla mit Blick auf den Rhabarber herum und lauschen den Klängen des Klaviers, die durch die endlosen Gänge hallen. Auf Außenstehende mag es irritierend wirken, wie sie aufwachsen; sie, die Kinder alleinerziehender Mütter, die in ihren Putzjobs kaum genug verdienen, um über die Runden zu kommen; sie, die eine Kindheit fernab des nächsten Dorfes in den heruntergekommenen Gemäuern und der Obhut des etwas exzentrischen Heinrich Hildebrands führen und barfuß die Gegend durchstreifen. Und doch: Ihnen gehört die Welt. Ihr Leben ist Freiheit.

Doch dann geschieht eines Tages das Unfassbare: ein tragischer Unfall, die Morridylle nimmt ein plötzliches Ende. Hannes muss fort, der einst so innige Kontakt zu Polina fasert aus und bricht irgendwann ab. Die Tage ihrer Kindheit bleiben für Hannes stets wärmende Erinnerung, bis ihm irgendwann bewusst wird: Er braucht Polina. Er muss sie finden. Auch, wenn er dazu seine Schatten überwinden und wieder komponieren muss, wie er es als Kind auf dem alten verstimmten Klavier in der Moorvilla getan hat.

Was für ein Roman! Eine kurze Zusammenfassung wie diese kann dem nicht ansatzweise gerecht werden. Die Einfühlsamkeit, mit der Würger jede einzelne seiner Figuren zeichnet und selbst Nebenfiguren, die nur wenige Male auftreten, einen ganz eigenen, vielschichtigen Charakter verleiht, ist zutiefst beeindruckend und lässt Hannes' Welt lebendig und authentisch werden. Das typische CoA-Feeling vermischt sich mit einem stets etwas melancholischen Unterton und den leisen Klängen der Klaviere, die auch nach dem Auszug aus der Villa in Hannes' Leben präsent bleiben.

So emotional "Für Polina" auch ist, ist der Roman doch kein ausschließlich trauriges Buch in dem Sinne - immer wieder schimmern auch humorvolle Momente durch, bringen die schrulligen Nebenfiguren zum Lächeln. Hannes durch seine Zeit als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener zu begleiten fühlt sich an wie eine Berg-und-Tal-Fahrt: Es gibt Höhen und Tiefen, man freut sich, hofft und leidet mit ihm und durchläuft während des Lesens so ziemlich alle Emotionen, die man sich erdenken kann. Das und Würgers Schreibstil, der stets atmosphärisch, mal poetisch und dann wieder wunderbar leicht ist und und dabei die Leser*innen führt, indem er genau in den richtigen Momenten und im richtigen Maß die Schwere der jeweiligen Situation begreifbar werden lässt, danach jedoch stets auch wieder auffängt, machen "Für Polina" zu einem großartigen Roman. Tiefempfundene Freundschaft, erste Liebe, Musik, Verlust, Trauer und Hoffnung, all das und noch viel mehr ist hier zwischen den Seiten zu finden. "Für Polina" ist einer der Romane, in denen man komplett abtauchen kann und am liebsten nie mehr auftauchen würde, der mitnimmt und auch nach der Lektüre im Gedächtnis bleibt. Ein absolutes Highlight.

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