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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.12.2024

Erzählerisch herausragend

Zur See
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Dörte Hansens dritter Roman “Zur See” handelt vom Leben auf einer deutschen Nordseeinsel: wie es sich im Laufe der Jahr(hundert)e gewandelt hat, was geblieben ist und was der steigende Tourismus für Veränderungen ...

Dörte Hansens dritter Roman “Zur See” handelt vom Leben auf einer deutschen Nordseeinsel: wie es sich im Laufe der Jahr(hundert)e gewandelt hat, was geblieben ist und was der steigende Tourismus für Veränderungen bewirkt. Repräsentiert wird die Situation durch Familie Sander, Eltern und drei erwachsene Kinder, welche alle auf der Insel leben und doch keine Gemeinsamkeiten zu haben scheinen.
Hansen übertrifft sich mit ihrer sprachlichen Brillanz mal wieder selbst, ihre mit Worten geformten Bilder sind klar und ernüchternd, der Ton rau, teils melancholisch und oft mit einer Prise Humor versehen. Für die Sprache würde ich eine glatte 5/5 vergeben und schon allein um ihrer willen habe ich das Buch gern gelesen.
Auch die Familie (und weitere Charaktere) wurde vortrefflich porträtiert und jede*r Sander wird mindestens einmal genauer beleuchtet und darf seine Gedanken, Wünsche, Träume oder eben das Abhandensein dieser offenbaren.
Der Roman umfasst ziemlich genau ein Jahr auf der Insel (was ich als Idee ziemlich mochte), mir hat jedoch etwas mehr Handlung gefehlt. Wir lernen die Figuren zwar wunderbar kennen, aber viel passiert nicht.
Für mich persönlich kommt “Zur See” nicht an Hansens Vorgängerromane ran (bin aber auch nicht so der Meer-Typ), dennoch habe ich es sehr gerne gelesen - Stimmung, Wortwahl, Charaktere waren wieder einmal exzellent. ⭐️4/5⭐️

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Veröffentlicht am 20.12.2024

Lyrischer Schreibstil übedeckt den Inhalt

Auf Erden sind wir kurz grandios
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Der ganze Roman ist in Briefform verfasst und richtet sich direkt an seine Adressatin: “Ma”. Doch diese wird ihn nie lesen und so schreibt unser Protagonist schonungslos ehrlich.
Der Stil ist dabei eine ...

Der ganze Roman ist in Briefform verfasst und richtet sich direkt an seine Adressatin: “Ma”. Doch diese wird ihn nie lesen und so schreibt unser Protagonist schonungslos ehrlich.
Der Stil ist dabei eine Verschmelzung von Prosa und Lyrik und die zarten, mit Bedacht gewählten Worte stehen im direkten Kontrast zum expliziten, gewaltvollen Inhalt und lassen diesen somit noch härter wirken.
Stilistisch ist dieser Roman also wirklich eine Wucht und ich möchte neben dem Können des Autors definitiv auch die Arbeit der Übersetzerin, Anne-Kristin Mittag, loben.

Leider konnte der Inhalt mich nicht ganz abholen. Durch die kunstvoll arrangierten Sätze ging oft der Lesefluss verloren, wodurch ich mich weder den Figuren annähern, noch gut der Handlung folgen konnte und kaum Emotionen empfunden habe. Das gipfelte darin, dass ich das Buch stellenweise am liebsten weggelegt hätte und nur noch zum Ende kommen wollte.

“Auf Erden sind wir kurz grandios” ist ein Roman, den ich wirklich lieben wollte, dessen Aufbau zwar originell, mir persönlich aber zu künstlerisch gewollt ist. Empfehlen würde ich ihn Leser*innen von Lyrik, die keine Probleme mit expliziten Gewaltdarstellungen an Mensch und Tier haben. ⭐️3/5⭐️

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Veröffentlicht am 20.12.2024

Gut geschrieben, zweifelhafte Botschaft

Über Menschen
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“Über Menschen” ist für mich das erste Buch Juli Zehs und schnell musste ich feststellen: die Frau versteht es wirklich, mit Worten umzugehen. Mit Leichtigkeit zieht sie uns in die Geschichte, umschreibt ...


“Über Menschen” ist für mich das erste Buch Juli Zehs und schnell musste ich feststellen: die Frau versteht es wirklich, mit Worten umzugehen. Mit Leichtigkeit zieht sie uns in die Geschichte, umschreibt Doras Leben und Umgebung mit unheimlich treffenden Metaphern und setzt gut platzierte Pointen.
Dora ist außerdem eine Protagonistin, mit der man sich gut identifizieren kann, auch die Zeiten der Corona-Lockdowns sind noch allzu präsent und Probleme des Landlebens werden schnell deutlich (fehlende Nahverkehrsanbindung etc.).
Gut fand ich, wie die Autorin aufzeigt, dass jeder Mensch mehrere Facetten hat: ein Rechtsextremer kann trotzdem ein hilfsbereiter Nachbar, guter Freund, liebender Vater sein.
Auch gut: Es wird deutlich, dass es einfach ist, eine Meinung zu haben, sie im realen Leben auch umzusetzen, manchmal jedoch nicht. So hat Dora z. B. oft Zweifel, ob sie die rassistischen Witze des Anwohners nun kommentiert (lohnt sich die Diskussion?) oder doch lieber gekonnt weghört. Manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Richtig und Falsch.
Nicht so gut: Das Fazit, dass Menschlichkeit über Ideologien stehen sollte und man nicht zu allem eine klare Meinung haben muss. Natürlich sollte man seine Menschlichkeit immer beibehalten, aber eine Ideologie stillschweigend zu akzeptieren, in der andere Menschen eben nicht toleriert werden, ist einfach nicht in Ordnung. ⭐️3,5/5⭐️

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Veröffentlicht am 20.12.2024

Große Literatur

Die geheime Geschichte
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Nachdem ich die ersten Sätze der “Geheimen Geschichte” gelesen hatte, wurde mir eins bewusst: Das hier ist wirklich gute Literatur.
Und das hat sich auch auf den folgenden 700 Seiten als richtig erwiesen.
Es ...

Nachdem ich die ersten Sätze der “Geheimen Geschichte” gelesen hatte, wurde mir eins bewusst: Das hier ist wirklich gute Literatur.
Und das hat sich auch auf den folgenden 700 Seiten als richtig erwiesen.
Es ist kaum zu glauben, dass dies Donna Tartts Debütroman ist und sie ihre Werkzeuge schon so früh so gut einzusetzen wusste. Der Schreibstil ist geistreich und anspruchsvoll, ohne dabei hochgestochen zu wirken.
Nicht nur aufgrund des gewaltigen Seitenumfangs kann man komplett in den Roman abtauchen, sondern auch durch die detaillierten Beschreibungen der Charaktere, welche so authentisch wirken, dass man das Gefühl hat, man kenne diese Personen wirklich, sei ein Teil dieser intimen Gruppe. Und doch wird man immer wieder überrascht, denn wie im realen Leben sind die Handlungen der Figuren teilweise unberechenbar.
“Die geheime Geschichte” beschäftigt sich in der ersten Hälfte damit, wie es zu dem im Prolog erwähnten Mord kommen konnte, in der zweiten Hälfte, was der Mord für Auswirkungen auf die Gruppe hat. Die Tat selbst wird nicht beschrieben, Tarrt verschont ihre Leserinnen mit blutigen Details.
Der Roman zeigt auf, wie Gruppendynamiken verlaufen können, wie schnell man zum Mittäter wird. Welche Verführungskraft Macht und Geld haben und wie leicht wir uns manipulieren lassen von Leuten, die uns wichtig sind.

Wer langsame, unterschwellig spannende Romane mit Fokus auf Charakterentwicklung mag und wer sich gerne komplett auf eine fiktive Geschichte einlassen möchte, sodass er danach erstmal wieder in der Realität ankommen muss, der wird in diesem Buch ein Meisterwerk finden.
Für alle anderen könnte es aufgrund des Detailreichtums und der Ausschweifungen langweilig sein. Ich gehöre glücklicherweise zu ersteren. ⭐️5/5⭐️

Übersetzt von Rainer Schmidt

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Veröffentlicht am 20.12.2024

Lobeshymne an die Sprache

Babel
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Mit “Babel” hat R. F. Kuang vor allem eins geschaffen: ein Loblied an die Sprache. Und: wie wichtig gute Übersetzerinnen sind. Schon in den ersten 30 Seiten zeigt sie durch eine Szene am Hafen eindrücklich, ...

Mit “Babel” hat R. F. Kuang vor allem eins geschaffen: ein Loblied an die Sprache. Und: wie wichtig gute Übersetzerinnen sind. Schon in den ersten 30 Seiten zeigt sie durch eine Szene am Hafen eindrücklich, welche Macht jemand hat, der mehrere Sprachen spricht und zwischen diesen vermittelt.
In ihrem Werk gibt sie dieser Fähigkeit einen materiellen Wert, denn die Student
innen in Babel erlernen die Fähigkeit, Wörter in Silberbarren einzugravieren und so Magie zu erschaffen. Dabei bewirkt der Silberbarren genau das, was die Differenz der beiden Wörter - auf den ersten Blick eine genaue Übersetzung - ausmacht; das, was nicht übersetzt werden kann.
Und so gelangt England nicht nur an viel Geld, sondern auch an Macht. Denn die Silberbarren werden inzwischen in allen Bereichen eingesetzt, von der Schifffahrt, über das Militär bis hin zu alltäglichen Geschäften.
Als reichte diese Idee allein nicht, um einen Roman zu füllen, gibt Kuang ihm aber auch noch eine politische Note: denn Kolonialismus, Rassismus und die Unterdrückung der Frau spielen eine ebenso große Rolle und sind entscheidend für den Verlauf der Handlung.
Positiv erwähnen möchte ich das Vorwort, das ausdrücklich erwähnt, welche Fakten nicht historisch korrekt dargestellt wurden (bis auf die Magie nicht viel) und vor allem die ausführlichen Fußnoten. Diese erwähnen alles, was nicht mehr in die Erzählung hineingepasst hat oder ordnen etwas historisch ein.
Ich empfehle dieses unglaublich kluge Buch allen, die sich für Sprache und Übersetzungen interessieren, auch wenn sie sonst kein Fantasy lesen - denn bis auf die Tatsache, dass Kuang Worten neben dem ideellen einen materiellen Wert gibt, liest es sich wie ein historischer Roman über eine Revolution.
Außerdem sollte es nach “Babel” wohl keine Diskussionen mehr darüber geben, ob man Bücher (und Texte im Allgemeinen) KI-generiert übersetzen lassen kann. ⭐️5/5⭐️

*Großartig ins Deutsche übersetzt von Heide Franck und Alexandra Jordan

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