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Veröffentlicht am 27.11.2018

Die 20er - wieder einmal

Das Palais Reichenbach
2

Nach dem enormen Erfolg der Verfilmung von Volker Kutschers „Der nasse Fisch“ fürs Fernsehen haben die 20er Jahre jetzt natürlich Konjunktur. Nur dass die Autorin ihr Augenmerk auf die Schicht des nach ...

Nach dem enormen Erfolg der Verfilmung von Volker Kutschers „Der nasse Fisch“ fürs Fernsehen haben die 20er Jahre jetzt natürlich Konjunktur. Nur dass die Autorin ihr Augenmerk auf die Schicht des nach dem verlorenen Weltkrieg entmachteten Adels legt. Aber ein Roman mit dem mehr als begrenzten Umfang von 300 Seiten hat einfach nicht die Chance, diese Vielzahl von angerissenen Themen adäquat abzuhandeln. Die materielle Gefährdung durch die drohende Enteignung, das Hochkommen radikaler politischer Kräfte, die blühende Kulturszene, die restriktive Sexualmoral - das ist schlicht zu viel für so einen kurzen Text. Was ich der Verfasserin hingegen hoch anrechne, ist ihr Verzicht auf ein happy ending. Dass die Tochter nicht ihrer Liebe folgt, dass der Chef des Hauses am Freitod des ältesten Sohnes zerbricht, dass es für den jüngeren Sohn nicht die Möglichkeit gibt, irgendwo im Geheimen ein freies Leben zu führen - das beweist, dass der Ehrgeiz der Autorin über das Schreiben eines Groschenromans hinausgeht. Natürlich sehr ironisch, dass der arme verkannte Schriftsteller sich am Ende zum Erfolgsautor mausert. Anerkennenswert, dass J. Winter ihre Geschichte nicht im luftleeren Raum ansiedelt, sondern durch vielerlei Realien tatsächlich ihre Kenntnisse über diese Epoche unter Beweis stellt

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Veröffentlicht am 20.08.2024

Impressionistische Skizze

Die Gräfin
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Verweht, verwischt erscheinen die Ereignisse, die das Handlungsgerüst dieses kleinen Textes bilden: eine alte Frau, mit zwei Dienstboten einsam auf einer Hallig lebend, rettet gegen Ende des 2. Weltkriegs ...

Verweht, verwischt erscheinen die Ereignisse, die das Handlungsgerüst dieses kleinen Textes bilden: eine alte Frau, mit zwei Dienstboten einsam auf einer Hallig lebend, rettet gegen Ende des 2. Weltkriegs einen abgestürzten britischen Piloten. Doch wirklich eindrücklich sind die atmosphärischen Landschaftsschilderungen, die unter Beweis stellen, wie tief vertraut die Autorin mit Watt und Wetter, Wasser und Land, Licht und aller Kreatur ihrer Heimat ist. Will man Kritik üben, so muss angemerkt sein, dass die Charakterisierung der handelnden Personen arg holzschnittartig ausfällt: die Schroffheit der Gräfin, die Treue des Kutschers, die Anhänglichkeit der Haustochter. Der Aufruhr, den das Auftauchen des Fremden verursacht - verbunden mit der absoluten Gefährdung aller Beteiligten - weckt im Bewusstsein der Gräfin ein Kaleidoskop vieler Erinnerungen, Gelegenheit für die Autorin, mit allerlei geschichtlichen und landeskundlichen Kenntnissen zu brillieren. Das Impressionistisch-Skizzenhafte dieser offenbar so bewußt schwebend, verwischt, verweht gehaltenen Erzählung kumuliert in dem unvermittelt abgebrochenen Schluss, der dem Leser keinerlei Auflösung gönnt. Es bleibt vollkommen im Dunkeln, wie sich die Geschicke des Briten, der Gräfin und ihrer unmittelbaren Umgebung als Ergebnis dieser Episode entwickeln.

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Veröffentlicht am 20.08.2024

Abgrund

Das Lied des Propheten
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Zwangsläufig, unaufhaltsam, verstörend die Entwicklung, die der Autor vor den Augen des atemlosen Lesers entfaltet: in Irland, uns vertraut in der Gegenwart als wirtschaftlich erfolgreicher Staat mit hoher ...

Zwangsläufig, unaufhaltsam, verstörend die Entwicklung, die der Autor vor den Augen des atemlosen Lesers entfaltet: in Irland, uns vertraut in der Gegenwart als wirtschaftlich erfolgreicher Staat mit hoher Lebensqualität, entwickelt sich zunächst schleichend, dann in rasantem Tempo in ein totalitäres politisches System, dessen Strudel eine vollkommen unspektakuläre Mittelschichtsfamilie erfasst, mitreißt und vernichtet.

Beklemmend, wie man sich bei der Lektüre vollkommen im Bewusstsein von Eilish wiederfindet, wissenschaftliche Angestellte, verheiratet mit einem Führer der Lehrer-Gewerkschaft, vier Kinder vom Kleinkindalter bis zum Halbwüchsigen. Jede Regung, ob im Drang nach Beschwichtigung, ob im Gefühl völliger Hilflosigkeit, ob abgestumpft oder vollkommen verzweifelt, wird in einem Sprachgestus dargestellt, der sich lose am Bewusstseinsstrom orientiert.

Immer bedrohlicher spitzen sich die Ereignisse zu, immer hilfloser die Menschen, die zum wehrlosen Objekt des Systems werden. Mit der Inhumanität der Verhältnisse korrespondiert eine expressionistisch angehauchte Sprache, die Natur, Lebensverhältnisse, psychische Befindlichkeit und ein vollkommen aus dem Ruder gelaufenes Staatswesen adäquat porträtiert.

‚Das Lied des Propheten‘ ist ein Roman, der den Leser ebenso verstört zurücklässt wie seine Protagonisten. Allein der letzte Satz vermag einen Hauch von zweifelhafter Hoffnung zu vermitteln, wenn Eilish zu ihrer Tochter sagt: „… aufs Meer, wir müssen aufs Meer, das Meer ist Leben.“

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Veröffentlicht am 19.08.2024

Sozialstudien in rüdem Ton

Die Perserinnen
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Die politischen Verhältnisse in der Iranischen Republik sind ein Dauerthema in der Nachrichtenwelt, doch dieser Roman richtet zum ersten Mal den Blick auf die Auswirkungen der islamischen Revolution auf ...

Die politischen Verhältnisse in der Iranischen Republik sind ein Dauerthema in der Nachrichtenwelt, doch dieser Roman richtet zum ersten Mal den Blick auf die Auswirkungen der islamischen Revolution auf die Menschen des persischen Volkes, demonstriert an fünf Frauen einer Familie, die man getrost der früheren Elite zurechnen darf.
Abschreckend jedoch die Porträts der einzelnen Figuren, die an Kaltherzigkeit, innerer Leere, Langeweile kaum zu überbieten sind, präsentiert in zeitweise recht rüder Sprache, ohne dass die Notwendigkeit dieses Idioms wirklich ersichtlich wird.
Was der Klappentext als großes Familiengeheimnis verkauft, ist eine verwandtschaftliche Konstellation, wie sie in jedem Groschenroman vorkommen könnte.
Die Protagonistinnen verteilen sich auf drei Generationen, zwei von ihnen sind in Persien zurückgeblieben, während die anderen, begünstigt durch den immensen Reichtum ihrer Familie, ihr Heil in der Flucht nach Amerika suchten. Es wäre für den Leser überaus reizvoll gewesen, detailliertere Informationen über die historischen Entwicklungen zu erhalten, dargestellt an den handelnden Figuren. Doch die Charaktere bleiben holzschnittartig, die Geschichte des Landes schemenhaft. Außer ihrem sagenhaften Vermögen und den Spielarten ihrer diversen Neurosen haben diese Frauen wenig zu bieten.
Insgesamt stellt die Lektüre dieses Romans leider eine ziemliche Enttäuschung dar.

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Veröffentlicht am 10.07.2024

Zeiten und Menschen

Astrids Vermächtnis
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Dies ist also der letzte Teil einer Trilogie, die den Leser mit den unterschiedlichsten Phasen der norwegischen Geschichte vertraut macht.

Im Zentrum dieses dritten Bandes steht nun die Zeit der deutschen ...

Dies ist also der letzte Teil einer Trilogie, die den Leser mit den unterschiedlichsten Phasen der norwegischen Geschichte vertraut macht.

Im Zentrum dieses dritten Bandes steht nun die Zeit der deutschen Okkupation Norwegens während des zweiten Weltkriegs. Der Leser erhält einen tiefen Einblick in die verschiedenen Strömungen der Politik. Was für das norwegische Publikum nach Auskunft des Nachworts ureigenstes Wissen darstellt, da bereits die Kinder im Schulunterricht mit den Details dieses Angriffs auf ihre nationale Identität vertraut gemacht werden, erlangen deutsche Leser neue und gänzlich unerwartete Kenntnisse. Das macht die Lektüre zu einem bedeutsamen Gewinn, wird doch bewiesen, dass Nationalsozialismus, Drittes Reich und 2. Weltkrieg bei weitem noch nicht auserzählt sind! Der heldenhafte Widerstand solcher Figuren wie der Pfarrer und die junge Astrid verkörpern überzeugend einen Patriotismus, der auch den Verlust des eigenen Lebens nicht scheut.

Daneben öffnet sich ein farbiges Panorama des norwegischen Volksglaubens, der Mythen und der Kunst. Es wird deutlich, dass es gerade dieser identitätsstiftende Schatz ist, der das einsame Land hoch im Norden für die Nazis so interessant macht, glauben sie doch, hierin eine tiefe Verbindung mit ihrer eigenen völkischen Ideologie zu finden. Diesen Hintergrund arbeitet der Roman überzeugend heraus, wenn allerdings auch gelegentlich diese Informationsvermittlung ein wenig in den Ton eines VHS-Vortrags verfällt.

Insofern ist der Prolog dieses Romans auch unverzichtbar, da durch den Rückgriff auf das frühe 17. Jahrhundert diese Verquickung von Christentum und heidnischem Glauben in den Ereignissen um die siamesischen Zwillingsschwestern augenfällig dargestellt wird. Die gelegentlichen Verweise auf das Geschehen im 19. Jahrhundert hingegen stellt für die Leser, die mit den beiden ersten Werken dieser Trilogie nicht vertraut sind, eine gewisse Herausforderung dar, die jedoch durch genaues Lesen und Kombinationsgabe durchaus zu bewältigen ist.

Ein wenig befremdlich allerdings wirkt das Bemühen des deutschen Übersetzers, in den Dialogen eine Art künstlich erzeugte altertümliche Sprache zu verwenden. Die eher süddeutschen Anklänge des beständig erscheinenden ‚mir‘ wirken vollkommen unangemessen, ohne dass eine andere Lösung dieses sprachlichen Problems auf der Hand läge.

Abschließend ist jedoch festzuhalten, dass es Lars Mytting gelingt, mit seiner farbigen und prägnanten Schilderung dieses historischen Panoramas beim Leser ein genuines Interesse an seiner Heimat zu wecken.

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