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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.10.2018

Mehr, als ich lesen wollte

Die Katze und der General
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Das kennt jeder: Man sitzt im Zug, möchte in Ruhe lesen, aber das Gegenüber verwickelt einen in ein Gespräch und erzählt einem die ganze Lebensgeschichte. Ungefragt. Kaum ist der Störenfried ausgestiegen, ...

Das kennt jeder: Man sitzt im Zug, möchte in Ruhe lesen, aber das Gegenüber verwickelt einen in ein Gespräch und erzählt einem die ganze Lebensgeschichte. Ungefragt. Kaum ist der Störenfried ausgestiegen, kommt der nächste und drängt einem erneut seine Lebensgeschichte auf. Es gibt Tage, da ist das in Ordnung; es gibt aber auch welche, da möchte ich am liebsten unhöflich sein: "Interessiert mich nicht."

Mit Hartischwilis Roman ging es mir genauso. Ich mochte die Geschichte, weil sie sich nach einem Racheplot anhörte, der ausgefallen wirkte, zudem vor dem Tschetschenienkrieg, also einem brisanten Thema einschließlich kaukasischem Völkergemisch. Und dann drängt uns die Autorin ständig die Lebensgeschichten ihrer Nebenfiguren auf, verliert sich in der Verzweigungen der Vergangenheit und verlässt immer wieder ihren eigenen Erzählfluss.

Schade. Meines Erachtens nicht preiswürdig.

Veröffentlicht am 19.10.2018

Joe Bucks Irrfahrt nach der Liebe

Midnight Cowboy
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James Leo Herlihy veröffentlichte „Midnight Cowboy“ 1965 und erzählt die Odyssee des jungen texanischen Titelhelden Joe Buck von Albuquerque nach New York, wo er hofft, mit reichen Damen gegen Geld ins ...

James Leo Herlihy veröffentlichte „Midnight Cowboy“ 1965 und erzählt die Odyssee des jungen texanischen Titelhelden Joe Buck von Albuquerque nach New York, wo er hofft, mit reichen Damen gegen Geld ins Bett steigen und sich seinen Unterhalt als Gigolo verdienen zu können. Joe Buck wuchs ziellos und inhaltsleer bei seiner Großmutter Sally auf, deren schnell wechselnde Liaisons mit unterschiedlichen Beaus ein genauso desolates Bild von menschlichen Bindungen vermittelten wie der Lebenswandel der Mutter, die wahrscheinlich mit anderen Prostituierten in einer WG wohnte, in der Joe einen anderen Teil seines Blicks auf zwischenmenschliche Beziehungen erwarb. Das „erste Mal“ erlebte Joe Buck mit einer gleichaltrigen Hobby-Hure – ebenfalls fernab zarter Romantik.

In den Fängen des manipulativen Jerry, der mit dem hübschen Cowboy offensichtlich auf die Matratze widerfährt Joe ein gewalttätiges Trauma, nach der ihm Sex gleichgültig ist. Traumatisiert, ahnungs- und bindungslos, in gewisser Hinsicht unschuldig und verletzt strandet Joe in New York und gesellt sich schließlich dem verkrüppelten Ratso Rizzo zur Seite. Beide trudeln an den Grund der Gesellschaft, einander Halt bietend im gemeinsamen Sturz. Das Segnung versprechende Florida wird beiden ein sehnlichstes Ziel.

Herlihys Roman wurde von Daniel Schreiber neu (und gut!) übersetzt und mit einem klugen Nachwort versehen, das den Kontext der nicht ausgelebten Homosexualität des Autors und der Situation Homosexueller in den 1960er Jahren nachliefert. Doch auch ohne das Randgefühl ausgegrenzter Sexualität völlig zu verstehen, ist „Midnight Cowboy“ ein eindringlicher Entwicklungsroman eines einzigartigen Titelhelden, an dem sein gesunder Optimismus zu bewundern ist, der in durch die Einsamkeit und seine Suche nach Liebe führt.

Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe sind anthropologische Konstanten, weshalb Herlihys Roman auch in über 50 Jahren nicht an Farbe verloren hat.

Veröffentlicht am 19.10.2018

Der Gott der Barbaren ist der Gott des Krieges

Gott der Barbaren
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„Gott der Barbaren“ von Stefan Thome wurde im letzten Literarischen Quartett von der Frankfurter Buchmesse besprochen und als schwieriger Text und anspruchsvolle Lektüre vorgestellt. Das hat mich ehrlich ...

„Gott der Barbaren“ von Stefan Thome wurde im letzten Literarischen Quartett von der Frankfurter Buchmesse besprochen und als schwieriger Text und anspruchsvolle Lektüre vorgestellt. Das hat mich ehrlich gewundert, denn ich fand die Lektüre dieses dicken Wälzers ausgesprochen unterhaltsam, geradezu schmökerhaft.

Natürlich steckt viel Anspruch drin: mehr als 700 Seiten, zig chinesische Namen mit X und Y, fingierte historische Quellen zwischen den Kapiteln und nicht zuletzt das Thema, nämlich ein religiös motivierter Bürgerkrieg in China an der Schwelle zur Moderne und der „Clash of Zivilisations“ zwischen dem chinesischen Kaiserreich und den europäischen Mächten unter der Führung des Britischen Königreichs.

Das ist schon ein Berg, aber diesen zu erklimmen war für mich genauso anstrengend und gleichzeitig vergnüglich wie die abenteuerliche Besteigung eines Voralpengipfels: Macht man nicht alle Tage, ist auch schweißtreibend, aber bringt einen nicht an die Grenze zur Überforderung.

Was die Namen betrifft: Die Namensvielfalt schwindet nach den ersten Kapiteln rasch dahin, weil eta die Hälfte der Personen aus dem Namensregister bis dahin das Zeitliche segnet.

Gefallen hat mir der dreifache Blickwinkel: Einmal erlebt der Leser das Geschehen aus der Sicht des britischen Campagnenführers Lord Elgin, zum zweiten aus dem Blickwinkel des kaiserlich-chinesischen Heerführers Zeng Guofan und zum dritten in Gestalt des geflüchteten deutschen Ex-Revolutionärs Philipp Johann Neukamp, der als Missionar kläglich scheitert.

Dass die Kritik den Roman als so überladen, überfrachtet, überambitioniert und dergleichen findet, liegt meines Erachtens darin, dass die Kritiker dem Text mehr Fracht aufladen wollen, als die Geschichte selbst tragen will. Stefan Thome ist Sinologe und erzählt bildreich von einem der schlimmsten Bürgerkriege, den die Welt je gesehen hat, auch um davor zu warnen, wie schnell der Gott des Krieges alle zu Barbaren werden lässt.

Mehr als dies – und dass mir die Lektüre sehr gefallen hat, braucht es nicht für meine 4,5 Sterne.

Veröffentlicht am 26.09.2018

Hurtig in den Drachenrachen

Das Heer des Weißen Drachen
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Clay, Lizanne und Hilmore sind zurück – und jede Menge Drachen. Teil zwei der Draconis Memoria, der Erinnerungen des Drachen, sind erschienen und setzen die Geschichte fort, die mit einer spektakulären ...

Clay, Lizanne und Hilmore sind zurück – und jede Menge Drachen. Teil zwei der Draconis Memoria, der Erinnerungen des Drachen, sind erschienen und setzen die Geschichte fort, die mit einer spektakulären Drachenrevolte auf dem Kontinent Arradsia begonnen hatte. Zur Vorgeschichte knapp gesagt: Die Welt teilt sich auf in zwei unsympathische Reiche, nämlich das Corvantinische Kaiserreich, das eine faschistoid-feudale Überwachungsdiktatur ist, und Mandinorien, das vom menschenverachtenden Turbokapitalismus der Syndikate regiert wird. Alles in allem also hat die Welt die Wahl zwischen Pest oder Cholera, zumal beide Reiche im Krieg miteinander liegen.
Der Krieg dreht sich - wie alle Kriege - vor allem um Rohstoffe, und der wertvollste Rohstoff ist: Drachenblut. Mit Drachenblut können auserwählte "Blutgesegnete" magische Effekte vollbringen, mit der die Steampunktechnik der Welt noch verbessert werden kann. Schnelle Stahlkampfschiffe beispielsweise können als "Blutbrenner" noch ein paar Kohlen … äh ... Drachenblut drauflegen, wenn sie einen Blutgesegneten an Bord haben, der das Blut auch umwandeln kann. Die Farbe der Drachen ist hierbei auch noch von Bedeutung. Am bedeutsamsten aber ist, dass plötzlich ein weißer Drache aufgetaucht ist, der eine Rebellion der Drachen anzuführen scheint. Die ausgebeutete Natur (= ausgeblutete Drachen) steht gegen die profitgierigen Umweltzerstörer auf. Clay, Lizanne und Hilmore, die Point-of-View-Charaktere des ersten Bandes, haben die blutige Hetzjagd des ersten Bandes gerade so bis zur letzten Seite überlebt.
Da hiervon im zweiten Band nichts erklärt wird, ist es wirklich sehr zu empfehlen, Band 1 vorher zu lesen. Selbst wenn man ihn kennt, verwirren die vielen Namen, Orte und Zusammenhänge, wenn die Lektüre zu weit zurückliegt (wie etwa bei mir). Es gibt keine Wiederholungen zum Wiederreinkommen, keine kleinen Erklärungen zum Gedächtnisauffrischen, nichts, was sonst in Folgebänden gerne mal nervt, mir hier aber echt gefehlt hat. Deshalb mein zweiter Tipp: Alle Bände direkt hintereinander am Stück lesen. So sind sie gedacht und geschrieben, so sollten sie auch gelesen werden.
Und wie ist Band 2 so?
Wie zweite Teile häufig sind: Die Handlung flacht ab, beschleunigt sich dabei aber; es gibt ein paar Wendungen, auch wenn sie hier nicht überraschen; ein paar alte Geheimnisse werden aufgedeckt. Und ansonsten strebt alles mit großer Rasanz dem dritten Band, der Handlungskrise und dem Finale zu.
Wer Anthony Ryan kennt, fürchtet, dass er alles, was er zu Anfang minutiös aufgebaut hat, am Ende der Story zugunsten eines Blockbustertempos mit tonnenweise Drachenblut wieder kaputtmachen wird. Ich kann niemandem diese Furcht nehmen, denn mich hat sie auch befallen: Wie vorherzusehen, bringt der Weiße Drache seine Kohorten an Drachen und „Verderbten“ in Stellung, um seinen Krieg über die Grenzen des unwirtlichen Drachenkontinentes hinaus auf die anderen Kontinente zu tragen.
Die vier Helden der Geschichte – mit Sirus ist noch ein Point-of-View-Charakter im Heer der Verderbten hinzugekommen – müssen also in Band 3 wahrscheinlich nichts weniger als die Welt retten. Von dieser bleibt schon in Band 2 nur die Hälfte stehen, denn das Kaiserreich versinkt im Chaos, woran unsere Meisterspionin Lizanne nicht ganz unschuldig ist. Sie ist in die tödliche Umgebung der Gefängnisstadt Scorazin gestiegen, um dort nach dem Tüftler zu suchen. Nach dem, der alle Geheimnisse kennt. Wie man hofft. Derweil haben der blutgesegnete Dieb Clay und der Seeoffizier Hilmore zueinander gefunden und begeben sich in die nicht minder tödliche Umgebung der polaren Eiswüste, um dort ebenfalls nach der Lösung der Geheimnisse zu forschen.
Ryan schreibt schnell, flüssig und gut. Das „Heer des Weißen Drachen“ liest sich trotz einiger Längen mit großer Spannung. Trotzdem wage ich noch keinen Jubel, solange ich nicht das Ende kenne. Die Ryan'sche Trilogie „Das Lied des Blutes“ verklang erbärmlich, und die Anzeichen bei den Drachen geben noch keine Entwarnung, dass nicht doch alles in einem monströsen Blutbad endet …
3,5 von 5 scharfen Drachenzähnen

Veröffentlicht am 17.09.2018

Ein Schweizer als Held - noch Fragen?

Pest & Cholera
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Alexandre Yersin verdanken wir die Entdeckung des Pesterregers, er heißt sogar nach ihm „Yersinia pestis“. Alexandre wer? Genau! Yersin gehört zu den unbekannten großen Entdeckern der Medizin, den an eine ...

Alexandre Yersin verdanken wir die Entdeckung des Pesterregers, er heißt sogar nach ihm „Yersinia pestis“. Alexandre wer? Genau! Yersin gehört zu den unbekannten großen Entdeckern der Medizin, den an eine breitere Öffentlichkeit zu bringen, auf einen von der Sonne beschienenen Sockel das erklärte Ziel dieses Romans von Patrick Deville ist. Das hat schon einen fast politischen Impetus, zu dem sich überdies ein historischer Antagonismus gesellt, der sich ganz unpassend im Buch wiederfindet, nämlich der zwischen Louis Pasteur und Robert Koch bzw. deren jeweiligen Schülern und Trabanten. Deville scheint sich bemüßigt zu fühlen, gegen Koch und für Pasteur immer wieder Stellung zu nehmen.

„Pest & Cholera“ ist ein biographischer Roman, der im Präsens geschrieben ist und das Leben des Entdeckers Yersin verfolgt. Es geschieht alles in „Jetztzeit“, wird aber aus der Distanz des Beobachters, fast schon des Biographen geschrieben, was dem Buch etwas Dokumentarisches gibt. Die schlechteren Bücher von Alex Capus sind auch so geschrieben. Die ständigen Wiederholungen hätten dem Lektorat nicht entgehen dürfen (Joseph Meister ist der erste Mensch, der von der Tollwut geheilt wurde ...).

Im großen und ganzen ist der Roman eigentlich misslungen. Er ist vor allem langweilig. Warum? Da könnte ich kalauern:

Ein Schweizer als Held - noch Fragen?

Aber das ist es nicht. Yersin war ein Allrounder, ein Autodidakt, der zunächst auch buchstäblicher Entdecker war, etwa der vietnamesischen Hochebene, die er als Erster durchwandert und kartographiert hat. Das ist schon ein etwas bemühter Superlativ; ich beispielsweise habe keinen Verlust gespürt, dass ich von der vietnamesischen Hochebene zuvor nichts geahnt habe. Deren Vermessung lässt mich vergleichsweise kalt. Das ganze erste Drittel des Buches widmet sich der Zeit vor der Pest und ist langweilig.

Dann setzt sich Yersin in Hongkong an sein Zeiss-Mikroskop und entdeckt den Pesterreger, während sein japanischer Kontrahent, ein Koch-Schüler, völlig daneben liegt. Yersins Beitrag zur Medizingeschichte ist bedeutend – aber: Erstens hat damals jeder Pasteurschüler durch irgendein Mikroskop gelinst und nach Erregern gesucht, das ist nicht gerade originell oder das Ei des Kolumbus. Zweitens hat Paul-Louis Simond den Übertragungsweg entdeckt, die Behandlung ist erst mit Paul Ehrlich und Alexander Fleming gelungen. Yersin ist also eigentlich nur eine Viertelsensation.

Eigentlich berichtet Deville wehmütig von einer Zeit der großen Entdeckungen, die deshalb spannender war, weil eine Welt nach den Entdeckungen weniger Geheimnisse und deshalb weniger Helden besitzt. Das ist deshalb absurd, weil ja die Entdeckung als solche das Thema des Romans ist, ein sentimentaler Tonfall hat hier nichts zu suchen (S. 90).

Ich war enttäuscht und lese lieber einen dokumentarischen Roman über Pasteur oder Koch, nicht über einen Epigonen der beiden.