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Veröffentlicht am 13.12.2020

Entstehungsgeschichte eines Meisterwerks...

Der letzte Prinz
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Steven Price hat diesen Roman dem Leben des Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 - 1957) gewidmet, der posthum mit seinem einzigen Roman „Der Leopard“, den er kurz vor seinem Tod geschrieben hat, ...

Steven Price hat diesen Roman dem Leben des Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 - 1957) gewidmet, der posthum mit seinem einzigen Roman „Der Leopard“, den er kurz vor seinem Tod geschrieben hat, Berühmtheit erlangte.

Er wird durchgängig aus Sicht des Protagonisten Giuseppe und in einer altmodisch anmutenden Sprache mit wunderschönen Formulierungen erzählt.

Wir begleiten den alternden und unheilbar an einem Lungenemphysem erkrankten Giuseppe, der der letzte männliche Nachkomme eines alten sizilianischen Adelsgeschlechts ist, in seinen letzten beiden Jahren.

Giuseppe, ein sprachbegabter und redegewandter Literaturliebhaber, lebt mit seiner selbstbewussten Frau Alessandra in einem kleinen Haus am Hafen von Palermo und spaziert gern durch die Strassen und Gassen seiner Heimatstadt.

Auf diesen Spaziergängen wandert er geistig zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her... und er denkt auch an die Zukunft.
Er weiß, dass sein Tod naht und möchte, nicht zuletzt wegen seiner Kinderlosigkeit, noch etwas Bleibendes schaffen.
Das gelingt ihm!
Aber von der Einzigartigkeit und Brillanz dessen, was er geschaffen hat, wird er nie erfahren.

Wir jedoch erfahren im Verlauf der Lektüre Vieles über Giuseppe und aus seinem Leben und lernen seine Familiengeschichte kennen.

Giuseppe ist ein eher konservativer, unterkühlter, wenig empathischer und passiver Mann, der den Stolz auf seine adelige Herkunft vor sich her trägt, Einiges erlebt und so seine liebe Not mit Veränderungen hat, was bei den vielen Umbrüchen im 20. Jahrhundert ein nicht gerade günstiger Wesenszug ist.

Mit seiner eher unausgeglichenen und selbstzentrierten Mutter scheint er zeitlebens ödipal verstrickt gewesen zu sein, so dass seine Autonomieentwicklung gehemmt und er nie wirklich emotional unabhängig und eigenständig wurde. Er duldete sogar ihre Ablehnung seiner Ehefrau Alessandra, von der er deshalb jahrelang getrennt lebte!

Eine melancholische Atmosphäre wird spürbar und die Handlungsorte und Szenen werden lebendig, weil der Autor die eher handlungsarme Geschichte feinfühlig, poetisch, empathisch und bildhaft erzählt. Ohne Spannungsbogen (der Leser weiß ja von Anfang an um den bevorstehenden Tod Giuseppes) und ohne Umschweife, aber unaufgeregt und in klaren Worten, erzählt Steven Price uns sowohl von Giuseppes Kindheit und Jugend, als auch von furchtbaren und traumatisierenden Erlebnissen im Ersten Weltkrieg und so ganz nebenbei werden auch politische Fragestellungen aufgegriffen

„Der letzte Prinz“ ist eine in Fiktion gebettete Biographie und ein brillanter, unbedingt lesenswerter und anspruchsvoller Roman über den mir zugegebenermaßen unsympathischen Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der mit „Der Leopard“ ein literarischen Meisterwerk geschaffen hat.

Da ich mich noch nicht selbst von der Klasse dieses Werkes überzeugen konnte, durch Steven Prices Roman aber sehr neugierig geworden bin, freue ich mich schon darauf, mir selbst ein Bild davon zu machen.

„Der letzte Prinz“ hat mich beeindruckt und bekommt einen Dauerplatz im Regal.

Ich kann jetzt, nach der Lektüre, nachvollziehen, dass er für den renommierten kanadischen Gilles Prize nominiert wurde.

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Veröffentlicht am 12.12.2020

Historischer Roman, Liebesroman- lesenswert!

Wo du nicht bist
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Schon mal vorab:
Das Buch mit dem sich umarmenden Paar auf dem Cover ist ein Hingucker und der Titel „Wo Du nicht bist“ ist originell und passend gewählt.
Er ist eine Textzeile aus dem Lied „Dein ist ...

Schon mal vorab:
Das Buch mit dem sich umarmenden Paar auf dem Cover ist ein Hingucker und der Titel „Wo Du nicht bist“ ist originell und passend gewählt.
Er ist eine Textzeile aus dem Lied „Dein ist mein ganzes Herz“ aus dem 2. Akt der Operette „Das Land des Lächelns“, deren Musik von Franz Lehár stammt.

Mit dem Aufklappen des Buches begeben wir uns ins Berlin der späten 1920-er Jahre und lernen dort Irma Weckmüller, eine willensstarke, loyale und großherzige Frau kennen.

Sie arbeitet als Verkäuferin in der Stoffabteilung im KaDeWe und sorgt mit ihrem Einkommen für den Lebensunterhalt von sich und ihrer Schwester Martha, die nach einer Vergewaltigung durch ihren Dienstherrn ihr unehrliches Kind großziehen muss.

Eines Tages und aus gutem Grund lernt Irma den jüdischen Arzt Dr. Erich Bragenheim kennen, von dem sie zunächst nicht ganz so angetan ist.
Für ihn ist es schon eher Liebe auf den ersten Blick.
Er besucht sie deshalb im KaDeWe.
Irma kann seiner zuvorkommenden, höflichen und aufrichtigen Art nicht widerstehen. Sie nähern sich an und aus dem zarten Pflänzchen der Verliebtheit wird langsam und stetig eine tiefe Liebe. Sie träumen von einer gemeinsamen Zukunft und planen, zu heiraten.

Über ihrem Glück schwebt jedoch schon bald eine große Gefahr: der aufkommende Nationalsozialismus.
Die Nazis wissen deren Eheschließung zu verhindern und nicht nur das.
Natürlich entgeht auch Erich nicht der Judenverfolgung.
Er wird deportiert und überlebt wie so viele andere Juden dieses düstere und brutale Kapitel der Menschheitsgeschichte nicht.

Irma bleibt mit ihrer tiefen Trauer und mit ihrer innigen Liebe zurück.
So innig ist diese Liebe, dass sie noch nach Erichs Tod darum kämpft, ganz offiziell seine Ehefrau zu werden.

Ob es ihr gelingt, dieses absurd erscheinende Ziel zu erreichen, werde ich sicher nicht verraten

Anke Gebert erzählt schnörkellos und klar, feinfühlig, sprachgewaltig und eindringlich von einer ganz einzigartigen, besonderen und außergewöhnlichen Liebe.

Sie zeichnet ihre Figuren vielschichtig und differenziert und deren Entwicklungen, die nicht immer gefällig sind, nachvollziehbar und glaubhaft.

Der Roman, sowohl historischer Roman, als auch Liebesroman, der auf einer wahren Begebenheit beruht und nicht mal ansatzweise schwülstig oder schmonzettig ist, hat eine emotionale Wucht, die den Leser nicht nur berührt, sondern aufwühlt und fesselt und das Buch neben einem eindrücklichen Zeitzeugnis zum Pageturner macht.

„Wo Du nicht bist“ hat mich beeindruckt und äußerst gut unterhalten.

Übrigens: Vor dem Haus Nummer 141 am Berliner Ku’damm wurde im Oktober 2020 ein Stolperstein für Dr. Erich Bragenheim verlegt.
Es ist ein Mahnmal.
Wie schön, dass Anke Gebert uns die Geschichte dahinter erzählt.

Ich empfehle diesen lesenswerten Roman sehr gerne weiter!

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Veröffentlicht am 10.12.2020

Eine beachtliche Frau, ein bemerkenswertes Leben...

Annette, ein Heldinnenepos
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Wie schön, dass einer bemerkenswerten Person schon zu ihren Lebzeiten und nicht erst nach ihrem Tod ein Denkmal gesetzt wird.
In diesem Fall geht es um die französische Ärztin und Widerstandskämpferin ...

Wie schön, dass einer bemerkenswerten Person schon zu ihren Lebzeiten und nicht erst nach ihrem Tod ein Denkmal gesetzt wird.
In diesem Fall geht es um die französische Ärztin und Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, genannt Annette, die am 30. Oktober 1923 in der Bretagne geboren wurde.

Was des Weiteren bemerkenswert ist, ist die Art des Denkmals, das die Schriftstellerin Anne Weber ihr setzt. Es ist kein Roman, sondern ein Prosagedicht bzw. eine Mischung aus Prosa und Lyrik.

Aber keine Sorge!
Der Lesefluss wird nicht gestört und die Lektüre nicht erschwert.
Im Gegenteil. Wenn man sich ein bisschen eingelesen und daran gewöhnt hat, wird durch diese nicht alltägliche und etwas altertümliche Form eines Narrativs das Besondere und Heldenhafte dieser Frau, die sich noch heute gegen Nationalismus, Rassismus und religiösen Fanatismus engagiert, sogar hervorgehoben und unterstrichen.

In dem absolut lesenswerten Werk erfahren wir von einem Leben voller Engagement und Gefahren. Schon als Jugendliche setzte sich Annette für die Résistance ein, half Menschen und rettete Menschenleben.

Nach dem Krieg ließ ihr Eifer nicht nach. Sie studierte Medizin, spezialisierte sich in den Fachrichtungen Neurologie und Neurophysiologie und engagierte sich lange Zeit für ein freies Algerien.
Ihre Unterstützung der algerischen Befreiungsfront FLN hatte 10 Jahre Haft zur Folge und nach ihrer Flucht half sie, das algerische Gesundheitssystem aufzubauen.
Der Militärputsch von 1965 machte eine erneute Flucht notwendig.
Auf Umwegen über die Schweiz und Amnestie gelangte sie schließlich nach Südfrankreich, wo sie noch heute lebt.

Welch’ bewegtes und anstrengendes Leben!

Wortgewaltig, überwältigend, lebendig und leichtfüßig zeichnet Anne Weber das Porträt einer bewundernswerten Frau.

Das Werk, in dem es um Ungehorsam, Widerstand, Rebellion, Humanismus, Gerechtigkeit, Mut, Einsatz und Kampf für Freiheit geht, wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Ich empfehle dieses interessante und besondere Epos sehr gerne weiter.

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Veröffentlicht am 09.12.2020

Griechische Mytologie auf moderne Weise näher gebracht...

Ich bin Circe
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Mit „Circe“ lernt der Leser, der in der Schule seinen Fokus auf andere Gebiete gelegt hat, die griechische Mythologie auf eine ganz andere, äußerst moderne und sehr unterhaltsame Weise kennen.

Der mächtige ...

Mit „Circe“ lernt der Leser, der in der Schule seinen Fokus auf andere Gebiete gelegt hat, die griechische Mythologie auf eine ganz andere, äußerst moderne und sehr unterhaltsame Weise kennen.

Der mächtige Sonnengott Helios und die Nymphe Perse haben einige Kinder.
Eines davon ist Circe, die sich von ihren Geschwistern schon durch Äußerlichkeiten wie Stimme und Haare unterscheidet.
Aber nicht nur dadurch hebt sie sich ab.
Circe fühlt sich, im Gegensatz zu ihren göttlichen Geschwistern, den sterblichen Menschen nahe.
Sie fühlt sich bei ihnen wohl, kann sich in sie einfühlen und verliebt sich letztlich sogar in eines dieser nicht-göttlichen Wesen.

All das hat Konsequenzen!
Von ihrer Familie aufgrund ihrer Andersartigkeit gering geschätzt und eher geduldet als geliebt, wird Circe auf die einsame Insel Aiaia verbannt, wo sie sich in der Natur und unter Tieren zu einer mächtigen Zauberin entwickelt und schon bald den Ruf einer Hexe und Heilerin erwirbt. Als solche wird sie nicht selten um Hilfe gebeten.

Circe findet zu sich selbst und entwickelt sich von einer unerfahrenen, unsicheren und unbedarften Heranwachsenden zu einer imposanten Magiern und starken, leidenschaftlichen und selbstbestimmten Frau.

Der Götterbote Hermes besucht sie regelmäßig auf der Insel und hält sie auf dem Laufenden.
Über ihn erfährt Circe auch von der Not ihrer Schwester Pasiphaë, was eine Reise nach Kreta nach sich zieht.

Und dort geht es dann weiter mit fesselnden Geschichten über Theseuss und Minotauros, das Meeresungeheuer Scylla und Jason und das goldene Vlies.
Wir erfahren, dass die Hexe von Aiaia gestrandete Seemänner in Schweine verwandelt und dass sie schließlich die Geliebte des listigen Götterboten Hermes und des schlauen und gerissenen Kriegers Odysseus und von letzterem sogar schwanger wird.
Bald ist Circe die alleinerziehende Mutter ihres Sohnes Telegonos, die trotz Ängsten und Sorgen kämpferisch auftritt und die sich sogar mit den mächtigen Göttern des Olymps anlegt.

Die zunächst schüchterne, später selbstbewusste Halbgottheit Circe erzählt ihre Geschichte selbst. Im Verlauf lernen wir nicht nur ihren Alltag, sondern auch ihre Innenwelt kennen.
Die Gefühle und Gedanken, Sorgen, Sehnsüchte und Wünsche dieses sympathischen und gleichermaßen menschlichen wie göttlichen Geschöpfs sind dabei gut nachvollziehbar.

Auch wer bisher wenig Ahnung von der griechischen Mythologie hatte oder sich nicht besonders für dieses Metier interessiert hat, tut gut daran, diesen bemerkenswerten und außergewöhnlichen Roman zu lesen.
Man braucht auch bei wenig Vorwissen nicht zu befürchten, in dem komplizierten Getümmel von griechischen Göttern und deren Namen die Orientierung zu verlieren, denn die Autorin Madeline Miller hat ein Händchen dafür, den Leser behutsam an die Sache heranzuführen.
Sie fokussiert die wichtigsten Götter und Verwandtschaftsverhältnisse und führt den Leser gewandt und dynamisch durch diese Geschichte voller Abenteuer und Intrigen.

„Ich bin Circe“ ist eine unaufgeregt erzählte, ruhige und kurzweilige Enwicklungs- und Abenteuergeschichte mit glaubhaften und und vielschichtigen Charakteren und spannenden Momenten.

Der Roman, der mit seinem mythologischen Inhalt für mich eine ganz neue Leseerfahrung war, bereitete mir großes Lesevergnügen und ich empfehle ihn sehr gerne weiter.

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Veröffentlicht am 07.12.2020

Ein ziemlich tristes Leben...

Aus einer Stadt am Meer
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Der Roman „Aus einer Stadt am Meer“, der bereits 1970 erstveröffentlicht wurde und dessen Übersetzung ins Deutsche erst 50 Jahre später erfolgte, spielt im England der 1960-er Jahre.

Der ca 40-jährige ...

Der Roman „Aus einer Stadt am Meer“, der bereits 1970 erstveröffentlicht wurde und dessen Übersetzung ins Deutsche erst 50 Jahre später erfolgte, spielt im England der 1960-er Jahre.

Der ca 40-jährige Ich-Erzähler Joseph Grand, ein Schriftsteller, nörgelt gleich zu Beginn ziemlich an seiner Frau Emily herum.
Sie sei schusselig, schüchtern und abergläubisch.
Ein Freund habe ihm von ihr abgeraten.
Aber sie scheint auch durchaus ihre Reize zu haben: Sie bewege sich anmutig, sei auf einer Party „der Hingucker“ und mache ihn „scharf“. (S. 8)

Die beiden sind seit 12 Jahren verheiratet und ein eingespieltes Team, was ihre Familie betrifft.
Sie haben drei Töchter, Rebecca, Ella und Martha, die mit ihren 9 Jahren die älteste der Schwestern ist.
Die Familie Grand lebt in dem beschaulichen fiktiven Küstenort Carnbray in Cornwall, im Süden Englands, wo sich weder Joseph noch Emily wohl fühlen.

Joseph hat einen Weg gefunden, um der öden Kleinstadt und dem langweiligen Alltag immer wieder zu entkommen.
Er unternimmt regelmäßig berufsbedingte Kurzreisen, um darüber Reiseberichte zu verfassen oder er fährt für mehrere Tage nach London, um mit einem Tapetenwechsel die Lethargie seines Daseins zu durchbrechen.
Von diesen Ausflügen bringt er regelmäßig Leckereien, Geschenke und sexuelle Gelüste mit.

In London wohnt er bei seinem Freund Albert, einem äußerst hilfsbereiten, aber nicht besonders ehrgeizigen, wenig gewissenhaften, wankelmütigen und erfolglosen Schriftsteller.
Er besucht dort auch Charles, einen wohlhabenden und renommierten homosexuellen Maler.

Josephs Freund in Carnbray ist der 42-jährige einheimische Meeresbiologe Jimmy Middleton. Er wohnt mit Frau und Kindern im schönsten Haus des Ortes und hat zwei Seiten: Er ist bodenständig und zuverlässig, aber er geht auch regelmäßig fremd, um sexuelle Abenteuer zu erleben.

Eines Tages gerät Joseph unverschuldet in Geldnot.
Aber Rechnungen müssen bezahlt werden und die Miete steht an. Das Essen wird rationiert.
Dass Emily just in dieser Phase eine Halbtagsstelle als Lehrerin angeboten wird, rettet die Familie zwar mit Ach und Krach vor dem finanziellen Ruin, aber diese Wendung bringt so Einiges im gewohnten Familienkonstrukt und im eingespielten Beziehungsgefüge der Eheleute durcheinander.

Joseph zieht sich zunehmend in sein Arbeitszimmer zurück und schwelgt in Tagträumen und Erinnerungen.
Dadurch erfahren wir so Einiges über ihn:

Joseph hat jüdische Wurzeln und ist 1926 in Polen geboren.
Er hat eine Schwester, Mona.
Als er drei war, wanderten seine Eltern mit den Kindern nach Kanada aus. Nach Ottawa, weil der Onkel mütterlicherseits dort lebte.
Im 2. Weltkrieg war er Pilot, der in England stationiert war. Nach dem Krieg und einem Studium in Montreal emigrierte Joseph nach England. In Carnbray traf er Emily. Sie ließen sich dort nieder, heirateten und bekamen Kinder.

Aber Joseph schwelgt nicht nur in Erinnerungen und Tagträumen - ihm wird immer klarer: „Ich hasse diesen Ort. Das Einzige, woran ich denke, ist, wie ich uns hier wegbringen kann. Oben in meinem Arbeitszimmer klebt ein Zettel an der Wand: Du musst hier weg, der mich die ganze Zeit anstarrt. Ich will mein Leben nicht in diesem gottverlassenen Küstenkaff beenden.“ (S. 64)

Natürlich verrate ich nicht, wie die Geschichte weitergeht, ob es Joseph gelingt, einen Ort für sich und seine Familie zu finden, an dem sie sich alle wohl fühlen und ob sie es schaffen, der finanziellen Misere zu entkommen.

„Aus einer Stadt am Meer“ ist stark autobiographisch geprägt. Die biografischen Parallelen von Autor und Protagonist lassen sich unschwer übersehen.

Eingestreute Briefe durchbrechen den gleichmäßigen Lesefluss und machen die ansonsten eher ruhige und unspektakuläre Geschichte abwechslungsreicher und originell ist, dass Norman Levine zwischendurch eine stark autobiographisch geprägte Erzählung einfügt, die sein Protagonist, der Schriftsteller Joseph geschrieben hat.
Eine autobiographisch geprägte Geschichte des Protagonisten innerhalb der autobiographisch geprägten Geschichte des Autors sozusagen

Levine beschreibt den Alltag seiner Protagonisten detailliert und prägnant. Er erzählt Josephs Geschichte freizügig, unbefangen und ohne Scham.
Kein Wort ist zu viel, keines zu wenig. Er hält sich eher kurz und knapp. Statt ausufernd zu werden, schreibt und erzählt er mit schlichten Worten und trifft dabei den Kern.
Die Geschichte, in deren Verlauf man Josephs Innenleben, seinen Alltag, seine Familie, Freunde und Bekannte kennenlernt, plätschert so unprätentiös und unaufgeregt dahin, wie sein Leben.

Melancholie und Unzufriedenheit schweben über der Geschichte wie über seinem Leben.
Man spürt regelrecht die Enge und die Beklemmung, die Joseph und auch Emily in Carnbray empfinden.

Am Ende des Buches war ich fasziniert davon, dass Norman Levine aus einem so tendenziell unspektakulären Leben eine so fesselnde Geschichte gemacht.
Ich war außerdem beeindruckt davon, wie er die Stimmung seiner Protagonisten vermittelt hat.

Gleichzeitig war ich beim Zuklappen des Buches erleichtert, dieser überwiegend niedergedrückten, beklemmenden und hoffnungslosen Atmosphäre zu entkommen.

Man fragt sich am Ende, inwieweit das Sprichwort „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ zutrifft, inwiefern man die Ruder seines Lebens in der Hand hat und wann es klug und sinnvoll ist, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und das Beste daraus zu machen.

Frei nach dem Motto „Ändere, was Du ändern kannst und nimm hin, was Du nicht ändern kannst.“

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