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Veröffentlicht am 11.11.2020

Eine Schiffsreise als Paartherapie...

Unter uns das Meer
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Amity Gaige beherrscht die Kunst des Erzählens. Sie fesselt den Leser mit ihrer Geschichte von einer jungen amerikanischen Familie, die den Traum des Familienvaters verwirklicht, ein Abenteuer wagt und ...

Amity Gaige beherrscht die Kunst des Erzählens. Sie fesselt den Leser mit ihrer Geschichte von einer jungen amerikanischen Familie, die den Traum des Familienvaters verwirklicht, ein Abenteuer wagt und einer Tragödie entgegensegelt.

Das um die 40-jährige Ehepaar Julie und Michael Partlow und ihre beiden Kinder, die 7-jährige Sybil und der 2 1/2 jährige George, leben in einer Vorstadt in Connecticut.
Julie, die seit der Geburt ihrer Kinder immer wieder von depressiven Phasen und Versagensgefühlen geplagt wird, ist Literaturwissenschaftlerin und hat sich auf Lyrik spezialisiert.
Sie schreibt an ihrer Dissertation über die Lyrikerin Anne Sexton, die auch unter Depressionen litt.
Michael ist im Versicherungswesen tätig und unzufrieden mit seinem Job.
Die beiden sind sich, was ihre politische Gesinnung und ihre Persönlichkeit betrifft, nicht besonders ähnlich.
Michael, offensichtlich ein Trumpwähler, hat etwas selbstgerechtes, spontanes und fatalistisches, während Julie, eine prototypische intellektuelle Linke, eher die Besonnene ist.

Michael, der das Gefühl hat, in einer gesellschaftlichen Zwangsjacke zu stecken, hat einen großen Traum und schafft es, seine Familie dafür zu begeistern: ein Jahr auf hoher See auf einer Segelyacht.

Julie ist zwar skeptisch, willigt aber schon deshalb ein, weil sie hofft, durch diese Auszeit ihre Ehe, in der es schon länger heftig krieselt, zu retten.
Kann das gelingen?
Eine Reise statt Paartherapie um Trennung zu vermeiden...
Mit der konkreten Schiffsreise treten Julie und Michael eine innere Reise an.

Während dieses Jahres entdecken die vier die fantastische Insellandschaft der Südsee und die Kinder freuen sich über die gemeinsame Zeit v. a. mit ihrem Vater.
Erinnerungen ploppen auf und die Eheleute setzen sich mit Träumen und Versäumnissen auseinander.
Statt sich näher zu kommen, schreitet ihre innere Distanzierung voran.

Die Reise birgt auch rein äußerlich Gefahren: die Nahrungsmittel werden knapp, die Technik hat ihre Tücken und ein gewaltiger Sturm zieht auf...

Nach ihrer Rückkehr liest Julie das Tagebuch ihres Mannes, das er während des Jahres auf hoher See und teilweise auch schon davor geführt hat.
Sie möchte dadurch Verständnis gewinnen. Für ihren Mann und für seine Beweggründe.

Wir lesen in „Unter uns das Meer“ von einer Schiffsreise, die mit ihrem Entdeckungscharakter, ihren Unwägbarkeiten, genussvollen, abenteuerlichen und schwierigen Momenten die naturgegebene Veränderung von zwischenmenschlichen Beziehungen symbolisiert.
Das Wetter und die Gezeiten sind wie die Tatsache, dass Beziehungen einer Dynamik unterliegen, vorgegeben, unbeeinflussbar und unberechenbar.
Vergleichbar dem Auf und Ab der Wellen, gibt es auch Höhe- und Tiefpunkte in Beziehungen.
Und manchmal ist der Wellengang zu heftig.
Vor allem dann, wenn die Partner so wie Julie und Michael sehr unterschiedlich sind, eigentlich nicht zusammenpassen und sich trotzdem ergänzen.

Die Geschichte wird retrospektiv in der Ich-Perspektive von Julie erzählt.
Unterbrochen und aufgelockert wird diese Erzählweise von den sehr persönlichen Tage- bzw. Logbucheintragungen ihres Mannes Michael und den kurzen Abschnitten, die aus der Sicht von Julies Tochter geschrieben sind.

Die Erzählweisen von Michael und Julie spiegeln dabei eindrücklich deren Persönlichkeiten wieder.
Auf der einen Seite die eher gedrückte und melancholische Julie, auf der anderen Seite der deutlich lebendigere und anpackendere Ton von Michael.

Überhaupt sind die gegensätzlichen Charaktere der Eheleute wunderbar gezeichnet. Die Vielschichtigkeit und Komplexität ihres Innenlebens wird deutlich und wir erleben Menschen mit Ecken und Kanten und Stärken und Schwächen.

Die Einschübe aus dem Tagebuch tragen zur Abwechslung bei und zahlreiche Fachbegriffe aus der Segelsprache machen den Roman sehr authentisch, auch wenn sie den Lesefluss etwas stören, weil ein Laie wie ich immer wieder recherchieren „muss“.

Aufrichtig und ungeschönt, wortgewandt und bildgewaltig, sowie packend, mitreißend und feinfühlig konfrontiert die Autorin den Leser mit der Schwierigkeit, im Gewirr der unzähligen Möglichkeiten des modernen, komplexen und durchdigitalisierten Lebens seinen individuellen Weg zu finden.
Die Autorin vermittelt die Bedrohlichkeit, die über der Reise und der Ehe liegt sehr eindrücklich.

Amity Gaige hat mit „Unter uns das Meer“ ein Buch geschrieben, das gleichermaßen Familiengeschichte, Reise- und Abenteuerroman sowie Psychogramm einer Ehe und Ehedrama ist, das sich durchgehend flüssig und phasenweise so spannend wie ein Thriller liest und das zum Nachdenken anregt und nachhallt.

Ich empfehle diesen außergewöhnlichen und tiefgreifenden Roman sehr gerne weiter.
Er ist keine leichte Kost, da er von einer konfliktreichen Ehe, einer dysfunktionalen Familie, traumatischen Erlebnissen und psychischen Erkrankungen handelt. Aber: That’s life.
Manchmal ist es nicht einfach und manchmal löst sich auch nicht alles in Wohlgefallen auf.

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Veröffentlicht am 10.11.2020

Eine inhaltliche und sprachliche Perle!

Tamangur
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Das dünne kartonierte Buch mit dem schlichten, in beige und oliv gehaltenen Cover, auf dem ein Ziegenbock abgebildet ist, ist eine Augenweide.
Vorsatzpapier und Lesebändchen in grün vervollständigen ...

Das dünne kartonierte Buch mit dem schlichten, in beige und oliv gehaltenen Cover, auf dem ein Ziegenbock abgebildet ist, ist eine Augenweide.
Vorsatzpapier und Lesebändchen in grün vervollständigen den hochwertigen äußeren Eindruck.

Das Kind, ein kleines Mädchen im Grundschulalter, lebt bei seiner Großmutter, die einst viel gereist ist und gern Klavier gespielt hat.
Die beiden wohnen in einem Dorf, das sich in einem von Bergen umgebenen Tal in der Schweiz befindet.
Der Ort „ist nicht mehr als ein Fliegendreck auf der Karte.“ (S. 8)

Der Großvater, ein Jägersmann mit Güte und Humor, ist seit einem Jahr in Tamangur, dem Paradies für Jäger.
Er „hat es wahrlich verdient, in dieses Paradies eingelassen worden zu sein.“ (S. 22) ...und das, obwohl „er sich ganz plötzlich aus dem Staub gemacht hat, dieser Feigling“. (S. 37)
Auch der kleine Bruder des Mädchens und seine Eltern glänzen durch Abwesenheit und sind wie der Großvater trotzdem und gleichzeitig ständig präsent.

Der Ort, das Kind und die Großmutter sind namenlos.
Namen hat nur das Umfeld.

Beispielsweise Carlotta, die leicht schielende Strohpuppe mit Märzendreck auf der Nase, die eines Tages einer Erkundungs-Operation zum Opfer fiel.

Oder Elsa, eine der Seltsamen, die ein bisschen neben den Schuhen stehen, eine schöne Sprache und einen frischen Blick auf die Welt haben.
Elsa besucht die beiden oft und hilft der Großmutter manchmal bei der Hausarbeit.

Oder Chan, der Hund der Großeltern, dessen Schnaufen das Kind beruhigt und der laut Großmutter der Vater sämtlicher Welpen im Dorf ist, obwohl er nur noch einen Hoden hat.

Oder der kleine drahtige Kasimir, für den Alkohol die Kaminfegerbürste für die Seele ist.

Oder die kleine pfiffige Luzia aus der Alpenrose, mit der es dem Kind nie langweilig wird.

Wir erfahren, warum es von Vorteil ist, katholisch zu sein, lesen von Käse im gezuckerten Kaffee, von wunderbaren Geschichten, die der Opa für sein Enkelkind erfindet und von den fünf langen, gelben Hirschzähnen des Großvaters, die beim Kind eine Hühnerhaut hervorrufen.

Bald schon ahnen wir, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine Katastrophe gegeben haben muss, die zum Verschwinden des kleinen Bruders und der Eltern des Mädchens geführt hat.
An dem Unglück scheint das kleine Mädchen seinen Anteil gehabt zu haben. Vielleicht war es sogar dafür verantwortlich?
Manchmal wird das Kind von Schmerz, Sehnsucht, Albträumen und Schuldgefühlen heimgesucht.

Ich stieß immer wieder auf wunderschöne Formulierungen, die mich innehalten ließen:
„Die Erinnerung liegt dann überall herum wie ein schlafendes Tier und versperrt einem den Weg. Ständig muss man darüber stolpern, ihm ausweichen und wehe, man erwischt es mit der Fußspitze oder tritt gar aus Versehen drauf und es erwacht und trottet hinter einem her...“ (S. 20)

„Die Angst ist wie ein Jagdhund. Man muss ihn gut behandeln, aber man darf sich niemals von ihm beherrschen lassen.“ (S. 26)

„An gewisse Regeln muss man sich halten, sonst wird man haltlos, und die Großmutter hat etwas gegen Haltlosigkeit. Haltlosigkeit kommt kurz vor dem Absturz.“ (S. 43)

„Ich habe nicht verstanden, sagt Elsa, wie das ist mit der Angst. Kommt sie von außen und überfällt einen hinterrücks? Oder hockt sie in einem drin, igelt sich ein irgendwo in einem verborgenen Winkel… Und wenn man es am wenigsten erwartet, schlägt sie erbarmungslos zu?“ (S. 47)

„Oft ist das, was ein anderer oder eine andere sagt, nur halb so interessant wie das, was ich während eines inneren Spaziergangs mit mir selbst erlebe.“ (S. 117)

Man stolpert auch immer wieder über amüsante Stellen, die ein Schmunzeln hervorrufen:
„Warum sind deine Hände so groß?, fragt das Kind.
Weil die Großmutter so große Brüste hat. Die müssen Platz haben, eine in jeder Hand.“ (S. 24)

„Tamangur“ ist ein stiller, warmer, sehnsüchtiger und poetischer Roman, der etwas Märchenhaftes und Zartes hat und bei aller darunter liegenden Dramatik mit Humor nicht geizt.
Obwohl über der Geschichte ein Wölkchen von Melancholie hängt, bekommt sie durch die teilweise heitere und aufrichtige Sprache, den liebevollen Ton und die ruhige Erzählweise eine Leichtigkeit.

Dieses außergewöhnliche Schmuckstück ist eine inhaltliche und sprachliche Wucht und wird einen bleibenden und besonderen Platz in meinem Bücherregal bekommen.

Das Prosawerk „Tamangur“ der 1944 geborenen Schweizer Poetin und Erzählerin Leta Semadeni hat 2016 den Schweizer Literaturpreis erhalten.


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Veröffentlicht am 09.11.2020

Der Mief der 70-er...

Die Wahrheit über Metting
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Der erste Teil ist ein Rückblick.
Hier lernen wir Tomás kennen, einen einsamen und sich selbst überlassenen Jungen, der in den siebziger Jahren im fiktiven Ort Metting heranwächst.
Seine Eltern leiten ...

Der erste Teil ist ein Rückblick.
Hier lernen wir Tomás kennen, einen einsamen und sich selbst überlassenen Jungen, der in den siebziger Jahren im fiktiven Ort Metting heranwächst.
Seine Eltern leiten das örtliche Alten- und Pflegeheim „Horizont“ und tragen das ein oder andere Geheimnis mit sich herum.

Lichtblicke in dem spießigen Kaff sind sein bester Freund Filip, ein Zigeuner, und dessen Schwester Milena.
Mit Einzug der lustigen, agilen und lebensfrohen 82-jährigen Marieluise ins Heim, werden wir Zeugen von Thomas erste Liebe sowie seiner, trotz Legasthenie, beginnenden Leidenschaft für Bücher.

Der Autor liefert eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse der damaligen Zeit, beleuchtet Andersartigkeit, Diskriminierung, Rassismus und Verleumdung und zeichnet vielschichtige und lebendige Charaktere mit Ecken und Kanten, Schwächen und Stärken.

Egal ob dominante Mutter, die das Pflegeheim mit harter Hand führt oder schwacher Vater, einflussreicher Autohändler, grausamer Fremdenlegionär oder dahinvegetiere Bewohner des originell benannten Alten- und Pflegeheims „Horizont“, es sind allesamt detailliert sezierte und authentische Figuren.

Hier muss ich kurz erwähnen, dass es, wenn man selbst ein Kind der 70-er Jahre ist, höchst witzig ist, an Capri-Eis und Asterixhefte erinnert zu werden.

Im zweiten Teil kehrt der fast 50-jährige Tomás nach 30 Jahren in sein Heimatdorf zurück und wir erleben zusammen mit ihm, wie sich der Ort und seine Bewohner verändert haben.
Tomás wird hier als Problemlöser, Retter und Erlöser dargestellt und wir erleben viele Wendungen ins Positive.

Der Autor erzählt gleichermaßen feinfühlig wie sprachgewaltig sowie ernst und humorvoll eine zutiefst menschliche Geschichte, die auch literarische Ansprüche befriedigt.

Gegen Ende tendiert er leider zu etwas kitschigen, laienpsychologischen und belehrenden Feststellungen und Bemerkungen.
Tiefgreifende Botschaften werden zu offensichtlich vermittelt, was zusammen mit dem etwas zu Viel an Happy Ends meinen Gesamteindruck leicht negativ beeinflusste.

„Die Wahrheit über Metting“ ist ein sehnsüchtiges, tröstliches und Hoffnung spendendes Werk, das trotz der genannten Kritikpunkte sehr lesenswert ist.








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Veröffentlicht am 06.11.2020

Mut zu Veränderung!

Putzt euch, tanzt, lacht
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Schon lange treibt die 57-jährige Fanny, stellvertretende Abteilungsleiterin in einem kleinen Supermarkt auf dem Land und verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, ziellos in einem von außen betrachtet ...

Schon lange treibt die 57-jährige Fanny, stellvertretende Abteilungsleiterin in einem kleinen Supermarkt auf dem Land und verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, ziellos in einem von außen betrachtet komfortablen Leben dahin.
Sie fühlt sich im langweiligen Alltagstrott neben ihrem von Migräne geplagten Mann, der zufrieden seinem Ruhestand entgegenarbeitet, gefangen und hat das Gefühl, nur noch zu funktionieren und in einer Zwangsjacke zu stecken.

Der Tod einer Freundin rüttelt Fanny wach und bringt ihr inneres Gleichgewicht massiv ins Wanken.
Anstatt den Termin für ein psychotherapeutisches Erstgespräch wahrzunehmen, um in der Folge eine Psychotherapie zu beginnen, flüchtet sie spontan mit ihrem alten Auto.
Sie fährt einfach an der Ausfahrt vorbei und weiter Richtung Hütte in den Bergen.
Sie läuft schlicht und ergreifend davon, stellt ihre Familie vor vollendete Tatsachen und kehrt dem Rohbau den Rücken.

Auf ihrem Trip in die Freiheit und ihrer Reise zu sich selbst, erleidet sie Panikattacken und begegnet sie diversen Menschen, mit denen sie letztlich eine bunte Wohngemeinschaft auf der Pinzgauer Alm, der Hütte ihrer Eltern gründet.
Fanni, ihre Jugendliebe Ernst, die Ärztin Tippi, Berlin, das Ehepaar Ohnezweifel, Marek und der Biker Velten verschreiben sich einer Mission, der sie gemeinsam folgen. Sie wollen als Aussteiger-Clique einen Gegenentwurf zum konventionellen, normierten und durchdigitalisierten Routinealltag leben.

Karin Peschka stellt uns in ihrem rasanten und mitreißenden Roman, der etwas märchenhaftes hat, eine Art Road-Novel ist und mit etwas Phantasie auch als Heimatroman durchgehen kann, originelle und eigenwillige Menschen vor und erzählt mit Humor, Sprachwitz, Ironie und Intensität eine Geschichte, in der es um den Mut zur Veränderung, um unkonventionelle Lebensmodelle, um Freundschaft und um den Umgang mit Verlusten geht.

Außerdem wird en passant das brandaktuelle Thema der fortschreitenden Digitalisierung gestreift, was zwangsläufig ein Nachdenken und eine Auseinandersetzung mit den Themen Datenspeicherung, Privatsphäre und gläserner Mensch nach sich zieht.

„Putzt euch, tanzt, lacht“ ist eine feinfühlig und unaufgeregt erzählte Geschichte, die Hoffnung gibt, den Leser häufig zum Schmunzeln bringt und gleichzeitig ernsthafte und basale Themen anschneidet, über die es sich nachzudenken lohnt. Es geht um existentielle Fragestellungen, die sich nicht selten um die Lebensmitte herum stellen.

Karin Peschka ermuntert mit ihrem Roman zur Introspektion, zu mehr Spontaneität und dazu, eingefahrene und ausgetretene Wege auch mal zu verlassen.
Es geht um Leben nicht nur um Rationalität und Sicherheit, sondern es ist wichtig, in sich hinein zu horchen, seine Gefühle ernst zu nehmen und ihnen zu folgen.
Auch, wenn es Mut erfordert und Risiken birgt.

Sehr lesenswert!



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Veröffentlicht am 06.11.2020

Familiengeschichte mit Krimi-Elementen...

Die Spur des Schweigens
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Die ca. 40-jährige Julia Feldmann arbeitet als freie Journalistin bei einem Gesundheitsmagazin.
Sie kämpft sich durch den Alltag, findet die Beschäftigung mit Venenleiden nicht besonders reizvoll, hangelt ...

Die ca. 40-jährige Julia Feldmann arbeitet als freie Journalistin bei einem Gesundheitsmagazin.
Sie kämpft sich durch den Alltag, findet die Beschäftigung mit Venenleiden nicht besonders reizvoll, hangelt sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob und träumt vom Durchbruch und von DER Enthüllungsstory schlechthin.

Auch das aktuelle und private Drumherum ist nicht ganz leicht. Beziehungstechnisch läuft es alles andere als vielversprechend, ihre Mutter wird zunehmend dement und ihre Wohnung wurde ihr wegen Eigenbedarf gekündigt.
Und was dem Ganzen die Krone aufsetzt, ist, dass ihr Bruder Robert vor ca. 12 Jahren nicht von seinem Trekkingurlaub in Norwegen zurückkam. Niemand hat eine Ahnung von dessen Verbleib oder Schicksal.
Er ist seither verschwunden. Niemand weiß, ob er überhaupt noch am Leben ist.
Der Verlust begleitet sie schmerzlich und immer wieder wird sie von Erinnerungen eingeholt und Gefühlen übermannt.

Eines Tages erhält Julia einen Hinweis, der ihren journalistischen Wissensdurst wecken könnte, der sie zunächst aber nicht besonders neugierig macht, weil sie der Thematik des Hinweises überdrüssig ist:
Es geht um sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz.
Julia ist schlicht genervt von dem öffentlichen Rummel, der um dieses Thema gemacht wird und steht ihm eher skeptisch gegenüber.

In einem renommierten Forschungsinstitut soll es zu Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch gekommen sein.
Schließlich meldet sich eine Betroffene bei ihr und spätestens, als sie den attraktiven Hauptverdächtigen kennenlernt und vom Suizid einer chinesischen Studentin erfährt, sind ihre journalistischen Antennen ausgefahren.
Noch ahnt sie nicht, dass genau dieser Auftrag ihrem Leben eine drastische Wende geben wird, dass sie dunkle Familiengeheimnisse aufdecken und ihrem Bruder, der an diesem Institut gearbeitet hat, auf die Spur kommen wird.

Obwohl sie zunächst auf eine Mauer des Schweigens stößt, bekommt Julia nach und nach eine Ahnung davon, was im Institut vor sich geht.
Sie spürt bei ihren Nachforschungen fragwürdige Machenschaften auf und entdeckt Machtmissbrauch, Geheimnisse, Schweigen und Vertuschung.

Sie fragt sich, ob die Frauen wirklich belästigt wurden, oder ob es sich in Wahrheit um ein Komplott gegen die Führungskräfte handelt.

All das kann sie mit einer gewissen Distanz und Nüchternheit betrachten, aber als sie mehr oder weniger zufällig eine unfassbare und bestürzende Spur zu ihrem verschollenen Bruder wittert, ist sie im Nu persönlich involviert und betroffen.

Steht Robert mit dem Suizid einer chinesischen Doktoranden in Verbindung?
Was ist mit ihrem Bruder passiert?
Lebt er noch, musste aber untertauchen, weil er sich etwas zu Schulden kommen ließ oder weil er zu viel wusste?
Hat er sich suizidiert?
Wurde ihm etwas angetan?
Hatte er einen Unfall?
Warum wurde seine Leiche nie gefunden?
Hat sie sich all die Jahre etwas vorgemacht?
Was hat sie übersehen?

Die Trauerverarbeitung konnte und kann wegen all dieser offener Fragen noch nicht abgeschlossen werden.

Neben der Journalistin Julia lernen wir auch die private Julia kennen, die sich um ihre demenzkranke Mutter kümmert, die zwei zuverlässige Freundinnen, Kathrin und Nina, hat und die den Verlust ihres Bruders Robert, den wir in Rückblenden kennenlernen, noch nicht verwunden hat.

Abwechselnd und mühelos tauchen wir in zwei Handlungsstränge ein, wobei wir immer die ca. 40- jährige Protagonistin Julia begleiten:
Einerseits im Kontext ihrer tragischen Familiengeschichte und andererseits vor dem Hintergrund ihrer journalistischen Tätigkeit.
Wir verfolgen eine turbulente Entwicklung im privaten und skandalöse Entdeckungen im beruflichen Bereich.

Amelie Fried zeichnet ihre Protagonistin in all ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und Unzulänglichkeit.
Wir lernen ihre sympathischen, selbstdestruktiven und weniger reizvollen Seiten kennen und es fällt leicht, mit ihr zu fühlen, zu hoffen, zu leiden und sich mit ihr zu freuen.
Julia ist eine Person aus Fleisch und Blut mit Ecken und Kanten.
Auch die anderen Personen und die geschilderten Geschehnisse werden authentisch und realitätsnah dargestellt.

Sehr gelungen empfinde ich, dass die MeToo-Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und überhaupt nicht platt und klischeehaft dargestellt wird und dass Tagebucheinträge eingestreut werden, die die Geschichte noch abwechslungsreicher machen.

Mir gefällt die gelungene Verwebung von Vergangenheit und Gegenwart sowie die geschickte Vernetzung des MeToo-Themas mit den familiären und persönlichen Belastungen und Herausforderungen der Protagonistin.

Die Autorin verpackt ein interessantes, wichtiges und aktuelles Thema in einen Unterhaltungsroman, der sich flüssig, einfach und leicht lesen lässt und aufgrund seines eindringlichen Schreibstils enorm fesselt, so dass man ihn in einem Rutsch weglesen kann.

„Die Spur des Schweigens“ erfüllt sicher keine hohen literarischen Erwartungen, ist aber unterhaltsam und entspannend. Es ist ein intensives und kurzweiliges Leseerlebnis.

Auf die Frage nach dem Genre würde ich antworten, dass es sich hier um eine Familiengeschichte mit Krimielementen handelt, die das brandaktuelle und sensible Sujet „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ aufgreift und weitere wichtige gesellschaftspolitische und soziale Themen, wie Demenz, Alkohol als Selbstmedikation, Bindungsängste, Machtmissbrauch, soziale Medien als Platform für Anfeindungen und Demütigungen, Probleme junger Ausländer mit unserer Kultur oder Schwierigkeiten einer alleinerziehenden Mutter, streift.
Trotz dieser thematischen Vielfalt wirkte der Roman, in dem man auf Schritt und Tritt Geheimnissen und Tabus begegnet, auf mich nicht überladen, sondern eher wie das echte Leben, in dem es ja auch keine Begrenzung der Themenvielfalt gibt.

Die Autorin hat sich an viele heikle Themen herangewagt, sie differenziert beleuchtet und unterhaltsam verpackt.

Es ist ein ideales Buch für ein verregnetes Wochenende!
Spannend, packend, unterhaltsam, informativ und mit überraschenden, unvorhersehbaren Wendungen,

Amelie Fried packt ein heißes Eisen an und setzt sich differenziert mit dem hochaktuellen und brisanten Thema sexuelle Gewalt auseinander. Dabei beleuchtet sie auch die vielfältigen Fragestellungen und Probleme, die damit einhergehen:
Anfeindungen, Scham- und Schuldgefühle des Opfers , Traumatisierung und Selbstzweifel.
Sie geht dabei auch auf die inneren Hemmnisse ein, die es für die Betroffenen zu überwinden gilt, bevor sie das Trauma hinter sich lassen, Anklage erheben oder an die Öffentlichkeit gehen können.

Lesenswert!


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