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Veröffentlicht am 03.11.2020

Intensiv, unterhaltsam und interessant!

Mr. Crane
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Zwei mal acht Tage in einem Sanatorium in Badenweiler im Schwarzwald - 1900 und 1914.

Herbst 1914.
Elisabeth, der 39-jährigen Oberschwerster, ist es auf dem Flur des Sanatoriums, als würde sie vom Blitz ...

Zwei mal acht Tage in einem Sanatorium in Badenweiler im Schwarzwald - 1900 und 1914.

Herbst 1914.
Elisabeth, der 39-jährigen Oberschwerster, ist es auf dem Flur des Sanatoriums, als würde sie vom Blitz getroffen, als ihre Kollegin Victoria den Namen Stephen Crane erwähnt.
Als sie dann im Park ein Buch dieses amerikanischen Schriftstellers auf der Bank am Brunnen entdeckt, braucht sie erst einmal einige Zeit, um wieder zu sich zu kommen.
Erinnerungen ploppen auf, Gefühle übermannen sie.
Stephen Crane war vor 14 Jahren acht Tage lang Patient hier in dieser Heilstätte für Lungenkranke.
Er wurde damals wegen der Zuspitzung seiner bereits länger bestehenden Tuberkulose eingeliefert und sie war seine Krankenschwester.

Die Ankündigung seines Kommens und sein Aufenthalt selbst waren einschneidende Ereignisse für Elisabeth, denn sie hatte alle seine Bücher gelesen und eines davon, „The Monster“, berührt sie nach wie vor ganz besonders, weil sie sich mit dessen entstellter Hauptfigur identifiziert.
Schon die ersten Momente ihrer Begegnung waren außergewöhnlich und intensiv: die Blicke, der Händedruck.

Während sich Fieberphasen mit klaren Momenten abwechselten kamen sich Elisabeth und der 28-jährige Stephen Crane über die Tage hinweg näher.
Es war für Elisabeth eine aufregende, ereignisreiche und lebensverändernde Zeit voller verstörender, aufwühlender, glücklicher und erregender Momente.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen.
Wir wechseln stetig zwischen 1900 und 1914 hin und her und begleiten die Protagonisten auf beiden Strängen jeweils acht Tage lang.

1914 erinnert sich Elisabeth an die Tage mit Mr. Crane und betreut gleichzeitig den stummen 25-jährigen Bernhard Fischer, einen Lieutenant der im 1. Weltkrieg verletzt wurde.
Er ist der erste verwundete Soldat, der im Sanatorium aufgenommen wurde und er liegt in dem Zimmer und in dem Bett, in dem einst Steven Crane lag.
Er ist der Besitzer des oben genanntem Buches, das all‘ die Erinnerungen ausgelöst hat.
Der Autor jongliert hier, auf dieser Ebene, zwischen Erinnerungen und gegenwärtigen Geschehnissen.

Der andere Erzählstrang spielt 1900, in dem Jahr, in dem die für Elisabeth überwältigende Begegnung mit Mr. Crane stattfand.
Hier tauchen wir in Elisabeths kurze Zeit mit dem „komischen Vogel“ (S. 63) und in Cranes zum Teil verworrene Erinnerungen sowie in seinen „großen Koffer voller Geschichten“ (S. 75) ein.

Bereits auf den ersten Seiten stolperte ich über eine schöne Formulierung:
„Das Leben sei schön, sagte Mr. Crane, es komme immer darauf an, wohin man sehe. Komme darauf an, wo das Rettungsboot sich gerade befinde, auf dem Wellenkamm oder im Tal, umschlossen von grauem Wasser.“ (S. 72)

Ebenfalls bereits auf den ersten Seiten bekam ich große Lust auf den Kurzroman „The Monster“, den Stephen Crane geschrieben hat und von dem Elisabeth so fasziniert war. Ich kam nicht umhin, ihn mir zu kaufen, so neugierig hat mich die Krankenschwester darauf gemacht.

Durch die Lektüre erfahren wir auf originelle Weise, nicht chronologisch, sondern ungeordnet und in Bruchstücken etwas über Steven Crane und sein Leben.
Wir bekommen einen Eindruck
von dem 1871 in New Jersey als 14. Kind geborenen Schriftsteller, der mit 28 Jahren im Sanatorium in Badenweiler seiner Tuberkulose erlag.
Das Buch zu lesen bedeutet darüber hinaus auch, eine außergewöhnliche Frau kennenzulernen, die mehr als einmal Schicksal gespielt hat und es bedeutet, in unkonventionelle Innenwelten einzutauchen, in der Paranoia, Fieberfantasien, Erinnerungen, wahre, erfundene oder beschönigte Geschichten eine Rolle spielen und erotische Szenen sowie morbide und sehnsüchtige Fantasien, Extreme und Obsessionen vorkommen.
Wir werden mit makaberen und nahezu unfassbaren Szenen konfrontiert und manchmal können wir über die Protagonistin nur den Kopf schütteln.

Gegen Ende wird die Atmosphäre zunehmend dramatisch, was äußeren Geschehnissen und inneren Entwicklungen geschuldet ist.

Andreas Kollender erzählt sowohl eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, als auch eine biographische Geschichte.
„Mr. Crane“ ist Realität eingebettet in Fiktion.

Ich empfehle das Werk sehr gerne weiter! Es ist kurzweilig, unterhaltsam, spannend und interessant.

... und jetzt freue ich mich auf „Die Tapferkeitsmedaille“, das wohl bekannteste Werk von Stephen Crane, denn auch darauf hat mich Andreas Kollender mit seinem Roman neugierig gemacht..

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Veröffentlicht am 01.11.2020

Was ein kanadischer Winter und die Corona-Krise gemeinsam haben...

Das Gewicht von Schnee
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Tiefer Winter in der kanadischen Provinz.
Unaufhörlich fallender Schnee.
Stromausfall im ganzen Land.
Ein Dorf, das von der Außenwelt abgeschnitten wird.
Endzeitstimmung.
Ein schwerer Autounfall.
Eine ...

Tiefer Winter in der kanadischen Provinz.
Unaufhörlich fallender Schnee.
Stromausfall im ganzen Land.
Ein Dorf, das von der Außenwelt abgeschnitten wird.
Endzeitstimmung.
Ein schwerer Autounfall.
Eine Notoperation, in der die Beine des Verletzten nur notdürftig zusammengeflickt werden.

Die Dorfgemeinschaft beschließt, dass der ältere, ebenfalls im Dorf gestrandete Matthias, in seiner Hütte das Unfallopfer pflegen soll, bis der Schnee schmilzt.
Matthias willigt nur deshalb ein, weil er im Gegenzug mit Lebensmitteln versorgt wird und weil ihm ein Platz im einzigen Bus versprochen wird, der im Frühjahr Richtung Stadt aufbricht.

Bis zur Schneeschmelze vergehen Monate.
Lebensnotwendiges, Nahrung, Medikamente und Holz, wird knapper.

Die Spannung zwischen den beiden ungleichen und wortkargen Männern, die dazu gezwungen sind, auf wenigen Quadratmetern zusammenzuleben, steigt zunehmend.
Misstrauisches und argwöhnisches Beäugen, zunehmendes Vertrauen, Mitgefühl, Hilfbereitschaft, Feindseligkeit, Gereiztheit, Aggression, Hass... das Gefühlschaos ist trotz zeitvertreibendem Schachspiel spürbar.

In dem Raum, den sich die beiden teilen, spielt sich letztlich ein Psychothriller ab.
Die Emotionen schwelen und gären und die beiden Männer sind miteinander ans Haus gefesselt und voneinander abhängig.
Sie müssen einander aushalten.

Eine Parallele zur aktuellen Corona-Krise, in der sich genau das nicht selten abspielt?
Tragödien zwischen Menschen und in Familien, die für lange Zeit auf engstem Raum miteinander zurechtkommen müssen, weil die Umstände es fordern...

Ich kann nachvollziehen, dass dieser zweite Roman des kanadischen Autors Christian Guay-Poliquin mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.

Es ist ein intensiver, dichter, anschaulicher und eindrücklicher Roman, ein schmerzhaft schönes Stück Literatur.
Mit wenigen Worten und einer klaren, präzisen und zugleich poetischen, fast lyrischen Sprache erschafft der Autor klare Bilder.

Er zeigt eindrücklich sowohl die Schönheit, als auch die Grausamkeit der Natur und vermittelt die Atmosphäre wunderbar.
Man spürt Verlangsamung, Langeweile und Spannung in der Hütte.
Aber auch die vom Kamin ausgehende Wärme, die im Kontrast zu der draußen wütenden Kälte und Naturgewalt herrscht.
„Das Gewicht von Schnee“ ist ein berührender, psychologisch tiefgründiger und stimmiger und raffinierter Roman...gleichermaßen verzaubernd und verstörend wie hypnotisch und aufrüttelnd.

Beeindruckend und lesenswert!

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Veröffentlicht am 31.10.2020

Mutig, provokant und wichtig!

Artur Lanz
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Die betagte Charlotte Winter hat erst im Alter angefangen, Geschichten zu schreiben.
Auf einer Parkbank lernt sie eines Tages den 50-jährigen Physiker Artur Lanz kennen.
Sie erfährt, dass Artur gerade ...

Die betagte Charlotte Winter hat erst im Alter angefangen, Geschichten zu schreiben.
Auf einer Parkbank lernt sie eines Tages den 50-jährigen Physiker Artur Lanz kennen.
Sie erfährt, dass Artur gerade vor einem Scherbenhaufen steht, der ihn in eine seelische Krise katapultiert hat:
Er hat seine Frau, seinen Hund und seine körperliche Unversehrtheit verloren.
Die waghalsige Rettung des geliebten Haustiers, das auf einem Rapsfeld von seiner Leine stranguliert zu werden drohte, löste in ihm, der von seiner für die Artus-Legende schwärmenden Mutter nach dem heldenhaften Anführer der Ritter der Tafelrunde benannt wurde, zwar erstmals das Gefühl aus, heroisch gehandelt zu haben, zog aber auch die Scheidung von seiner Frau nach sich.

In den folgenden, mehr oder weniger zufälligen Begegnungen zwischen Artur und Charlotte kristallisiert sich in ihren Gesprächen aufgrund der Geschichte zu seinem Namen, seiner Heldentat und seines Schicksals ein Thema heraus, das Charlotte in ihren künftigen Erzählungen verarbeiten will:
Mut, Heldentum und Männlichkeit.

Plötzlich stehen Fragen bzw. Hypothesen im Raum.
Wurden viele Männer umerzogen? Verweichlicht? Verweiblicht?
Ein Rollenwechsel vom Patriarch und Ernährer zum feigen Weichling?
Ist Artur nicht das Beispiel schlechthin für einen Mann, dessen männliche, starke und mutige Seite sich in Empfindsamkeit, Feinheit und Anpassung/Unterwerfung aufgelöst hat?
Was ist mit denen, die sich dieser Umerziehung wiederseht haben, z. B. Rocker, denen Charlotte aufgrund ihrer Widerständigkeit zunehmend Sympathie entgegenbringt?

Und dann kommt es zu einer Situation, in der Artur seine abtrainierte Männlichkeit unter Beweis stellen und seinem heldenhaften Vornamen gerecht werden kann:
Sein Freund und Arbeitskollege Gerald gerät aufgrund fragwürdiger politischer Äußerungen in Konflikt mit Kollegen und Vorgesetzten.

Charlotte interessiert sich für Arturs frisch entdeckte Lust zum Heldentum und erlebt mit, wie er sich nun zwischen Mut und Feigheit entscheiden muss.
Wird Artur seinem Freund beistehen?
Wie wird er diesen inneren Konflikt lösen?

Rückgrat, Mannhaftigkeit und Heroismus oder das Motto der drei Affen: „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ im Sinne von mangelnder Zivilcourage und bedingungslose Loyalität?
Positionierung oder Unterordnung?
(Meinungs-)Freiheit, Mut zur eigenen Meinung und zum
Aussprechen unbequemer Wahrheiten oder Anpassung und Unterwerfung?
...weitere Fragen und Themen stehen im Raum.

Eine hochinteressante Thematik, die natürlich nicht nur Männer betrifft!
Sie spielt in meiner täglichen Arbeit als Psychoanalytikerin eine immens bedeutsame Rolle.
Es ist eine Thematik, die sowohl im gesellschaftlichen als auch im individuellen Bereich überaus bedeutsam ist.
Es ist eine Polarität, über die es sich nachzudenken lohnt!

Es macht großen Spaß, Monika Maron zu folgen, die, gelassen, sprachlich brillant, literarisch versiert, tiefgründig und mit spitzer Feder basale Themen aufgreift und dem Leser provokant und auf ironisch-abgeklärte Weise den Mitläufer- und Duckmäuser-„Typen“ vor Augen hält, der sich anpassungsbereit und widerspruchslos dem Mainstream, der Mode und den Normen unterwirft, sich selbst als fortschrittlich betrachtet und dabei jedem Andersdenkenden und jeder Veränderung eine Absage erteilt.
Die Autorin zeigt aber auch, dass sich das ändern lässt und dass es nicht in Stein gemeißelt ist.

Monika Maron hält eben diesen Ja-Sagern den Spiegel vor und genau deshalb war von vornherein klar, dass sie mit ihrem Buch eine sehr ambivalente Reaktion auslösen wird.
Sie legt einen Finger in die Wunde der gegenwärtigen Gesellschaft, spricht unangenehme Themen an und sticht damit in ein Wespennest.

Monika Maron bringt Heikles zur Sprache und erlaubt sich eine eigene Meinung.
Sie erzählt scheinbar mühelos und mit einem Feingefühl für Machtstrukturen und totalitäre Tendenzen präzise und mit Elan und Leichtigkeit.

Sie beschreibt, was sie beobachtet und erlebt (hat) und sie motiviert indirekt, subtil und unaufdringlich zum Nachdenken, erhebt aber nicht den moralisierenden Zeigefinger und schlägt keinen besserwisserischen und missionarischen Ton an.
Prisen von Boshaftigkeit und Provokation sind genauso enthalten wie Portionen von Witz und Ironie.

Ich möchte dieses mutige, ehrliche und offene Buch allen offenen und kritischen Geistern als inspirierende Lektüre empfehlen.

Mit unverstelltem, analytischem und kritischem Blick greift sie Gedanken und Fragen auf, mit denen es sich zu beschäftigen lohnt, weil sie hochaktuell, brisant und am Puls der Zeit sind.

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Veröffentlicht am 30.10.2020

Mehr als eine coming-of-age-Geschichte

Die Gespenster von Demmin
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Kindheit und Jugend zwischen den Gespenstern der Vergangenheit.
Im Großen und im Kleinen.

Die Hansestadt Demmin in Mecklenburg-Vorpommern ist ein Ort mit einer erschütternden und grauenhaften Geschichte: ...

Kindheit und Jugend zwischen den Gespenstern der Vergangenheit.
Im Großen und im Kleinen.

Die Hansestadt Demmin in Mecklenburg-Vorpommern ist ein Ort mit einer erschütternden und grauenhaften Geschichte:
Aus Angst vor Gräueltaten und Racheaktionen der einmarschierenden Roten Armee nahmen sich im Mai 1945 Hunderte von Einwohnern und Flüchtlingen das Leben.
Sie erhängten oder ertränkten sich, nahmen Gift oder erschossen sich. Es waren überwiegend Frauen, die, unfassbarerweise, ihre Kinder mit in den Tod nahmen.
Dieser Massensuizid von Demmin erlangte traurige Bekanntheit als einer der größten überhaupt in der deutschen Geschichte.

Wir begleiten in dem Debutroman von Verena Kessler zwei Frauen, die in eben dieser geschichtsträchtigen Stadt leben und die entgegengesetzte Bewegungsrichtungen einschlagen: Rein ins Leben, raus aus dem Leben.
Beide Prozesse haben es in sich und sind nicht ganz leicht zu meistern.

Die 15-jährige Larissa Schramm, auf eigenen dringenden Wunsch hin Larry genannt, will nach dem Schulabschluss raus in die Welt und Kriegsreporterin werden.
Sie jobbt auf dem örtlichen Friedhof, um ihr Taschengeld aufzubessern. Vordergründig wirkt sie lässig, rotzig, unbekümmert und sorglos, manchmal auch altklug, aber nach einem Blick hinter die Kulissen erkennt man eine Last, die auf ihren Schultern ruht und ihre Ursache in einem traurigen und schweren familiären Verlust hat.
Larry hat nicht nur diesen außergewöhnlichen Nebenjob, bei dem sie Gräber pflegt, sondern auch ein eigenartiges Hobby:
Sie trainiert bis zur Erschöpfung, um sich auf ihren bereits oben genannten Traumberuf, Kriegsreporterin, vorzubereiten und dafür abzuhärten.
Sie hat sich ein ganz persönliches Survivaltraining zusammengestellt. In dessen Kontext kommt es schon mal zu waghalsigen Selbstversuchen und skurrilen Übungen wie Kopfüber-im-Baum hängen, stundenlangem Auf-dem-Stuhl stehen oder Probeliegen auf dem Friedhof.

Die zweite Protagonistin ist ihre Nachbarin Frau Dohlberg, eine alte Frau, die damals, im Mai 1945, als kleines Mädchen im Fluß Peene fast den Tod durch Ertrinken erlitten hätte, und der jetzt ein Umzug ins Seniorenheim bevorsteht.
Beim Entrümpeln und Aussortieren ihrer Habseligkeiten wird sie mit tragischen und aufwühlenden Erinnerungen an das Kriegsende in Demmin konfrontiert.

Bestimmt hätten Larry und Frau Dohlberg, für die der Tod eine Art Lebensbegleiter ist, sich viel zu erzählen, aber leider gehen die Begegnungen nie über ein freundliches Grüßen oder Winken hinaus.
Zu einem tiefgründigen Austausch kommt es nie.
Beide Frauen machen ihre Angelegenheiten und Sorgen stets mit sich selbst aus.

„Die Gespenster von Demmin“ ist ein beeindruckender, berührender und unterhaltsamer Debütroman, der sich mit wichtigen Themen beschäftigt.
Indem sie die düsteren Geschehnisse, die 1945 in Demmin stattfanden bravourös, fesselnd und geschickt mit der Gegenwart verwebt, beleuchtet Verena Kessler transgenerationale Prozesse und den Einfluss, den die Geschichte auf die Gegenwart hat.

Gleichzeitig ist der Roman eine klassische coming-of-age-Geschichte mit den typischen Themen einer Heranwachsenden, seien es Liebesgefühle, Gefühle von Haltlosigkeit, innere und äußere Konflikte mit den geschiedenen Eltern, z. B. mit der alleinerziehenden Mutter, die die Männer wie ihre Socken wechselt, bzw. Hals über Kopf den neuen Freund einziehen lässt.
Die emotionale Achterbahn der Pubertät!

Es geht aber auch um existentielle Themen wie den Verlust geliebter Menschen, Tod, Trauer und Einsamkeit.
Und auch um Lebensmut, Tapferkeit, Freundschaften und um die erste Liebe.
Es geht um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und um die Möglichkeit, sie zu überwinden. Und eine große Rolle spielt der Themenkomplex Schein oder Sein, so tun als ob, Verleugnen und Verdrängen... und zwar auf familiärer, als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Verena Kessler erzählt ruhig und unaufgeregt und schreibt eindrücklich, feinfühlig und eindringlich.
Trotz der ernsthaften Thematik und tiefgründigen Dimension ist der Roman leicht und flüssig zu lesen. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Amüsante Szenarien und ein zeitweise heiterer Unterton lockern auf und schaffen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Düsterkeit, Traurigkeit, Tiefgründigkeit, Hoffnung, Warmherzigkeit, Leichtfüßigkeit und Humor.

Die Protagonisten werden von Verena Kessler eindrücklich und authentisch gezeichnet und der interessante Plot wird kurzweilig erzählt. So entsteht eine Geschichte, die in Erinnerung bleibt und nachhallt.

Es gefällt mir, wie die Autorin unaufdringlich auf Parallelen hinweist und zeigt, dass sich das Kleine im Großen spiegelt oder wie das Große im Kleinen abgebildet werden kann.
Da sind die Toten vom Mai 1945 und dort ist der verstorbene Bruder.
Da ist eine Stadt, die mit ihrer schrecklichen Vergangenheit zurechtkommen muss und dort ist eine Familie, die einen tragischen Tod überwinden und verarbeiten muss.
Da wird tabuisiert und dort wird geschwiegen.

Die 1988 geborene Autorin schlägt eine Brücke, schafft eine Verbindung und stellt Zusammenhänge her. Hut ab!

Ihr Debutroman war für mich schon deshalb lesenswert, weil ich von einer geschichtlichen Begebenheit erfuhr, die mir bis dato unbekannt war. Ich schätze es sehr, durch Lektüre meinen Horizont zu erweitern und das ist hier eindeutig geschehen.
Zwar, aufgrund von scheinbar mangelndem Interesses der künftigen Kriegsreporterin Larry, nicht in erster Linie, in Gänze und auf direktem Weg durch den Roman selbst, aber auf jeden Fall indirekt, indem die damaligen Geschehnisse am Ende des zweiten Weltkrieges erwähnt, gestreift und thematisiert wurden, und ich dann mit großem Interesse weiter recherchiert habe.

Der atmosphärische und kluge Roman überzeugte mich.
Er ist weniger eine literarische Aufarbeitung der damaligen furchtbaren Ereignisse, als ein fesselnder Adoleszenzroman, der klug komponiert ist, der Vergangenheit und Gegenwart geschickt verknüpft, der bedeutsame Themen anspricht und der einen Anstoß für tiefergründige Beschäftigung gibt, weil er neugierig macht.

Es war für mich nicht einfach, das Buch zwischendurch beiseite zu legen, nachdem ich mit der Lektüre begonnen habe.
Ein echter Pageturner, den ich sehr gerne weiterempfehle!

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Veröffentlicht am 28.10.2020

Höchst unterhaltsam und absolut lesenswert!

Andrin
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Mit Beginn der Lektüre betreten wir das Büro von Jupp, einem Verleger und erleben ein brisantes Gespräch zwischen ihm und der Ich-Erzählerin Susanne, die Schriftstellerin ist und wegen einer Schreibblockade ...

Mit Beginn der Lektüre betreten wir das Büro von Jupp, einem Verleger und erleben ein brisantes Gespräch zwischen ihm und der Ich-Erzählerin Susanne, die Schriftstellerin ist und wegen einer Schreibblockade aus einem Vertrag aussteigen möchte.

Jupp will das mit allen Mitteln verhindern und bietet ihr großzügig an, Zeit in seinem Ferienhaus an der italienischen Mittelmeerküste zu verbringen.
Dort soll sie sich erholen und entspannen, um ihr neuestes Projekt, das Verfassen einer geschönten Autobiografie für einen wohlhabenden Prominenten, zum Abschluss bringen zu können.
Trotz anfänglichem Zögern und inneren Hemmnissen gibt Susanne sich schließlich geschlagen und willigt ein.
Mit dem Zug macht sie sich auf den Weg und kommt doch nicht an ihrem eigentlichen Ziel an.

Manchmal ist es wie verhext.
Eine routinemäßige Inspektion eines Tunnels verhindert auf längere Zeit die Weiterfahrt und dann wird die Ersatzstrecke über den Pass auch noch wegen Steinschlag gesperrt.

Manchmal trifft man unvernünftige und widersinnige Entscheidungen.
Susanne entscheidet sich, zu Fuß über den Berg und zum nächsten Bahnhof zu laufen, von wo aus die Fahrt dann weitergehen kann.

Manchmal hat man Glück.
Als der Anstieg dann doch zu beschwerlich wird, kommt unerwartet und erfreulicherweise ein Jeep vorbei und der geschätzt 60 bis 70-jährige, Pfeife rauchende und wortkarge Fahrer Andrin nimmt Susanne mit.
So gelangt sie zwar nicht über den Berg zum nächsten Bahnhof, aber zumindest zum nächsten Ort: nach Voglweh.

Andrin bietet ihr für die Nacht ein Gästezimmer in seinem einsamen Haus in den Bergen an, damit sie am nächsten Tag ausgeruht weitermarschieren oder er sie mit seinem Jeep zum Bahnhof bringen kann.
Aber aber nächsten Tag geht es nicht weiter.
Und auch nicht am übernächsten...

Wir lesen von doppeldottrigen Eiern, Tomaten- und Zucchinibergen, Wasser mit berauschender Wirkung, einem toten Telefonkabel, lernen Uta, Andrins eigenwillige Frau, kennen und erfahren, dass der skurrile Andrin die leckersten Gerichte zaubern kann, seitdem ein Koch, der sich auf einer einsamen Hüttenwanderung nach Voglweh verirrt hat, es ihm beigebracht hat.

Anfangs und lange Zeit fragte ich mich, ob dieser Roman ein Psychothriller ist, aber ich recherchierte nicht und ich werde hier diesbezüglich auch nichts verraten, außer, dass die phasenweise unheilvoll-schaurig-beklemmende Stimmung im Buch, v. a. im ersten Viertel, mich mehrmals auf diesen Gedanken gebracht hat.
Dazwischen sorgten entspannte und witzige Momente wiederum dafür, diesen Gedanken zu verwerfen.

Mit überraschter und verblüffter Verwunderung registrierte ich, wie die beiden aktuellen Lebenswelten der Protagonistin Susanne verwoben wurden. Geschickt verzwirbelt die Autorin den „Biografiefaden“ ihres Auftraggebers mit dem „Alltagsfaden“ bei dem liebenswürdig-schrägen Pärchen Andrin und Uta in Voglweh, so dass man eigentlich eine Geschichte in der Geschichte zu lesen bekommt.

Mir gefiel der Wechsel der Erzählperspektive, die immer von der Ich-Erzählerin Susanne ausgeht.
Sie erzählt uns die Geschehnisse im Rückblick und manchmal streut sie künftiges Wissen ein, das sie in der Situation, auf die sie zurückblickt, noch gar nicht hatte bzw. haben konnte.
So weiß der Leser zu bestimmten Zeitpunkten manchmal mehr, als die Protagonistin selbst und wird damit nicht allwissend, aber „mehrwissend“.
Sie spielt mit dem Leser, denn sie verrät nie so viel, dass es langweilig wird. Im Gegenteil. Sie verrät immer so viel, dass die Neugierde angefacht wird.
Diese Kamera-Schwenks finde ich extrem schlau, abwechslungsreich und interessant.

Ich genoss die wunderschöne Sprache, die anschaulichen Metaphern, ausdrucksvollen Formulierungen und bildhaften und eindrücklichen Landschaftsbeschreibungen.

Einige Beispiele möchte ich gern anführen:
„Zu beiden Seiten des Fahrzeugs materialisierten sich von vor Nässe glänzende Sockelzonen anthrazitfarbener Felswände und verloren sich in unwägbaren Höhen. Erst hielten sie Abstand, rahmten die Fahrbahn respektvoll ein, dann kamen die Wände näher und näher, wurden aufdringlich, waren weniger als eine Armlänge, dann eine Handbreit vom Jeep entfernt, bis die Straße nur noch ein Spalt im Fels war.“ (S. 43)

„... der Taktschlag, mit dem der Scheibenwischer das Konzert dirigierte und dabei ein Tempo anschlug, schneller als ein Sportlerherz bei maximaler Belastung.“ (S. 43)

„Rund um den See lagen Felsbrocken, wie hingestreut, als hätten Kinder mit Murmeln gespielt und wären gegangen, ohne aufzuräumen.“ (S. 45)

Ihr originelles und amüsantes Bild von dem „guten Willen“ musste ich mehrmals lesen, weil es mir so außerordentlich gut gefiel:
„Kaum war der Rechner ausgeklappt und hochgefahren, schaute auch schon der gute Wille vorbei. Bedauerlicherweise war er stets in Eile. Er legte nicht einmal den Mantel ab, selbst wenn ich ihn dazu aufforderte und ihm anbot, den Sessel freizuräumen, damit er es sich bequem machen konnte. Er kam ins Zimmer, lüpfte kurz den Hut zum Gruß, um sich im nächsten Moment bereits wieder zu verabschieden.“ (S. 157)

Der Roman unterhält, sorgt gleichzeitig für Spannung und Entspannung und hat etwas Märchenhaftes.
Manche würden vielleicht sagen, dass einiges fragwürdig oder unrealistisch ist.
Aber ich möchte es anders ausdrücken:
Manches ist nicht logisch im alltäglichen Sinn, sondern märchenhaft, romantisch oder idyllisch. Einiges ist vielleicht unwahrscheinlich, aber dennoch möglich.
Wenn man sich in die Geschichte fallen lässt, die Realitätsprüfung manchmal hintan stellt und nicht kleinlich ist, dann kann man den Plot, die Sprache und den Erzählstil in vollen Zügen genießen.

„Andrin“ ist ein unterhaltsames und packendes Werk, dem der Humor nicht fehlt. Es liest sich leicht und flüssig.
Aus Martina Altschäfers originellen und kreativen Einfällen ist eine Geschichte entstanden, die mir äußerst vergnügliche Lesestunden beschert hat, obwohl ich am Ende einen Kloß im Hals hatte und einige Tränen über meine Wange kullerten.






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