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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.10.2020

Nichts für den Feierabend.

Malé
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Malé, das dem Untergang geweiht ist, hat nichts mit den Malediven zu tun, wie wir sie uns vorstellen oder wie wir sie heute kennen.
Wir treffen kein Urlaubsparadies an, sondern einen Inselstaat mit heruntergekommenen ...

Malé, das dem Untergang geweiht ist, hat nichts mit den Malediven zu tun, wie wir sie uns vorstellen oder wie wir sie heute kennen.
Wir treffen kein Urlaubsparadies an, sondern einen Inselstaat mit heruntergekommenen Gebäuden, bröckelnden Mauern und überfluteten Straßen.

Es ist eher eine karge Ruinenlandschaft, die nach einer globalen Katastrophe entstanden und gleichzeitig ein Ort für eigenartige Aussteiger geworden ist.
Leute, die dageblieben, also nicht geflüchtet sind, obwohl der ölige Meeresspiegel stetig und bedrohlich ansteigt.
Es ist nötig, Gummistiefel zu tragen oder barfuß zu laufen. Manchmal steht man hüfthoch im Wasser.

Eine diktatorische Miliz regiert den Ort streng und unbarmherzig. Wehren können sich die Bewohner nicht.

Im Verlauf der Geschichte trifft man auf Figuren wie Elmar Bauch, der den Tod seiner Tochter verdauen muss, Hedi, die über das Schicksal von Menschen auf einer vermüllten Insel in einem vermüllten Meer reflektiert, die Literatureissenschaftlerin Frances, die nach einem verschollenen Lyriker sucht und den Schriftsteller Adel, der sich mit einem Schiffskoch, einem Finnen und einem Jugendlichen trifft, um deren Biografien literarisch zu verwerten.

Die Figuren kamen mir nicht nahe, blieben mir seltsam fremd und erschienen mir oberflächlich.
Es war nicht einfach, in den Roman hinein zu finden.
Die Erzählweise lag mir nicht, war mir zu abgehoben und elitär, auch zu fragmentarisch.
Eher eine nüchterne Aneinanderreihung von Episoden, als eine kontinuierlich erzählte Geschichte.
Mit den Schachtelsätzen, unnötigen Einschüben und Details, vielen Wiederholungen, sowie der Anstrengung, dem Roman zu folgen, sank für mich der Unterhaltungswert.

Was mir gefiel, war v. a. die Idee hinter dem Roman und die Parallele, die zum Berlin im Jahre 1989 gezogen wurde, das damals, metaphorisch gesehen, auch eine Insel war, auf die Zuwanderer strömten, mit denen sich die Einheimischen auseinandersetzen mussten.

Ich finde es nicht nur wichtig, über Themen wie Klimawandel, steigende Meeresspiegel und Artensterben zu schreiben, sondern höchst sinnvoll und bedeutsam.
Aber was mich betrifft, doch bitte etwas weniger experimentell und auf bekömmlichere Art und Weise!

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Veröffentlicht am 03.10.2020

Ein Highlight!

Herzfaden
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Dieser Roman war für mich ein „Muss“, weil ich vom letzten Roman des Autors, „Pfaueninsel“ dermaßen begeistert war.

In „Herzfaden“ geht es wieder um eine historische Geschichte, die aber dieses Mal in ...

Dieser Roman war für mich ein „Muss“, weil ich vom letzten Roman des Autors, „Pfaueninsel“ dermaßen begeistert war.

In „Herzfaden“ geht es wieder um eine historische Geschichte, die aber dieses Mal in Augsburg spielt und von der berühmten Augsburger Puppenkiste und ihren Anfängen handelt.
Wer kennt ihn nicht, den „Urmel aus dem Eis“?
Ich habe ihn unzählige Male im Fernsehen verfolgt und mit meinen Kindern war ich nicht nur einmal in der Puppenkiste.

Das ist also der zweite Grund, warum mich die Geschichte um Walter Oehmichen, einen Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, und um seine Tochter, die Puppenschnitzerin Hatü Oehmichen, die als junges Mädchen zusammen mit ihren Freunden in den Trümmern Augsburgs nach dem Krieg die Puppenkiste gründete, interessiert und in seinen Bann gezogen hat.

Was mir besonders gut gefallen hat, war, dass Hatü Oehmichen selbst es ist, die ihre Geschichte einem zwölfjährigen Mädchen erzählt, das nach einer Vorstellung der Puppenkiste ganz im Stil bekannter Märchen durch eine Tür auf den Dachboden gelangt, wo sie von verschiedenen Marionetten und Hatü begrüßt wird.

Der Beginn dieses gegenwärtigen Erzählstrangs ist sehr märchenhaft, aber auf dem Dachboden herrscht nicht nur heile Welt.
Auch im zweiten Erzählstrang, in dem es um die Geschichte der Puppenkiste geht, die gar nicht ohne die grauenhafte Geschichte der Nazizeit erzählbar ist, wechseln sich bezaubernde und düstere Momente ab.
Dem Autor gelingt es bravourös, diese beiden Geschichten miteinander zu verweben.

Hatü zu begleiten, wie sie im Krieg aufwächst, ihre ersten Puppen schnitzt und sich zum ersten Mal verliebt, macht großen Spaß. Sie glaubt an ihren Traum und schafft den Durchbruch. Chapeau!

Der 288-seitige Roman ist in einfacher und poetischer Sprache geschrieben und spielt auf verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen, die sich peu à peu aufeinander zubewegen und schließlich raffiniert ineinander übergehen.

Die gleichermaßen berührende, bewegende, wie zauberhafte Geschichte ist zu keinem Zeitpunkt kitschig oder seicht. Sie hat mich fasziniert, gefesselt und begeistert.

Aber nicht nur die Geschichte selbst, sondern auch WIE der Roman von Thomas Hettche komponiert wurde, macht es überaus lohnenswert, zum Buch zu greifen.

Es ist eine Wertschätzung der Frau, die felsenfest an ihren Traum geglaubt und leidenschaftlich und mit Herz ihr Ziel verfolgt hat und es ist eine Hommage an Holzpuppen, denen der Puppenspieler und die Puppenkiste Leben einhaucht.

Nicht umsonst heißt der Roman „Herzfaden“.
Es geht um den emotionalen Faden zwischen Marionette und Zuschauer... um den Draht, den sie zueinander bekommen.

Unbedingt lesen! Ein Highligt!

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Veröffentlicht am 02.10.2020

Einer, der mit dem Alten abschließt und etwas Neues beginnt.

Elbwärts
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Es geht in dem absolut lesenswerten Roman von Thilo Krause um den Reiz der Ferne und Fernweh, um Sehnsucht und Heimweh, um die romantisch verklärte Kindheit und nicht verarbeitete Erlebnisse, um Rückkehr, ...



Es geht in dem absolut lesenswerten Roman von Thilo Krause um den Reiz der Ferne und Fernweh, um Sehnsucht und Heimweh, um die romantisch verklärte Kindheit und nicht verarbeitete Erlebnisse, um Rückkehr, Heimat und Herkunft.

Thilo Krause schreibt erst sperrig, spröde und knapp, dann zunehmend poetisch, sehr feinfühlig, sinnlich und mit einem Hauch von Nostalgie darüber, wie der namenlose Ich-Erzähler nach Jahren mit seiner Frau Christina, einer Physiotherapeutin und dem gemeinsamen 4-jährigen Töchterchen in die Heimat, das Elbsandsteingebirge, zurückkehrt. Nicht genau in seinem Heimatort, sondern wenige Kilometer entfernt mietet er auf einem Berg ein heruntergekommenes Haus mit Schimmel an den Wänden.

Leider erfüllen sich seine romantischen Vorstellungen von Heimkehr nicht.
Nicht nur er, sondern auch sein Zuhause, die Sächsische Schweiz, hat sich verändert.
Und als wäre das nicht genug, führen seine intensive Suche nach was auch immer und seine obsessive Beschäftigung mit seiner Vergangenheit dazu, dass seine Frau ihn mit dem Töchterlein verlässt.

Die Lektüre, eine Art Heimatroman, ist äußerst bewegend und berührend, aber niemals kitschig oder seicht.
Ich vermute, dass der Autor darin so einiges an Autobiographischem verarbeitet hat.

Thilo Krause gelingt es mit seiner schönen und bildhaften Sprache und unaufgeregten Erzählweise, die Landschaften, Handlungsorte, Szenen und Charaktere zum Leben zu erwecken.

Wir begleiten den Ich-Erzähler auf seinen Streifzügen und Wanderungen durch die spektakuläre und bizarre Felsenwelt und meinen, die schroffen Felsen, Sandsteine und Riffs, die dicht bewaldeten Tafelberge und das schluchtenreiche Tal vor uns zu sehen.
Ausserdem lernen wir Vito und Jan kennen.
Der einbeinige Schreiner Vito ist ein früherer Freund des Ich-Erzählers, mit dem er waghalsige Klettertouren unternommen hat und mit dem ihn nicht nur diese Freundschaft, sondern auch ein tragischer Unfall und eine Art offene Rechnung verbindet.
Jan ist ein tschechischer Freund, der Führungen für Touristen anbietet und ihn in seinem Touristenbus mitnimmt.

Vito und Jan holen ihren Freund auf den Boden der Tatsachen, sprich in die Realität, zurück.
In die Realität, das heißt, zu seiner kleinen Familie und zu der Erkenntnis, dass sein Heimatdorf und dessen Bewohner nicht (mehr) das sind, was er sich vorgestellt und erhofft hat.

Statt offene Arme begegnen ihm, seiner kleinen Familie und seinen Freunden Misstrauen, Argwohn, Unfreundlichkeit, kühle Ablehnung und feindseliges Schweigen.

Der Ich-Erzähler muss vieles verarbeiten und bewältigen ... seine Fremdheitsgefühle, die Veränderung seiner Heimat, in der jetzt glatzköpfige Nazis mit Schäferhunden herumwandern, ein noch nicht verdautes traumatisches Erlebnis, Schuld- und Schamgefühle, die durch Erinnerungen an seine Kindheit aufflackern, und nicht zuletzt die Nazi-Schmierereien und -Parolen auf seinen geliebten Felsen.

Und dann, 2002, kommt auch noch die Elbe ins Spiel...bedrohlich, beängstigend, verhängnisvoll.

Dieser Roman hat mich von Anfang bis Ende gefesselt.

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Veröffentlicht am 29.09.2020

Viel mehr als eine Lebensgeschichte.

Glücksritter
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„Glücksritter“ ist so vieles gleichzeitig:

Eine ambivalente Vater-Sohn-Beziehung, geprägt von Konflikten und zärtlicher Verbundenheit.
Die Lebensgeschichte eines Vaters.
Eine Familiengeschichte.
Eine ...

„Glücksritter“ ist so vieles gleichzeitig:

Eine ambivalente Vater-Sohn-Beziehung, geprägt von Konflikten und zärtlicher Verbundenheit.
Die Lebensgeschichte eines Vaters.
Eine Familiengeschichte.
Eine Geschichtsreise durch das 20. Jahrhundert und ein Zeitdokument einschneidender historischer Geschehnisse.
Eine Reise zu sich selbst.

Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, ist es unumgänglich, seine Geschichte zu kennen und deren Lücken, so gut es geht, zu füllen. Das hat Michael Kleeberg hier getan.

Schonungslos ehrlich und radikal offen erzählt er von der Rekonstruktion seiner Biographie und Familiengeschichte.

Aber nun kurz zum Inhalt:
Sein Vater ist verstorben und plötzlich wird ein unschönes Ereignis zum Ausgangspunkt für Reflexionen und Recherche des Sohnes.
Es ist ein Ereignis, das so selten nicht ist: Trickbetrüger überlisteten einen 80-Jährigen, der auf diese Weise seinen letzten Groschen loswurde.

Der Erzähler erfährt, dass sein Vater in ärmlichen und primitiven, fast asozialen Verhältnissen in den heruntergekommenen Vierteln Frankfurts aufgewachsen ist.
Er musste sich als Jugendlicher mutterseelenallein durchkämpfen, behaupten und emporarbeiten und wurde zu einem arglosen, selbstgefälligen, risikobereiten und hitzigen Einzelgänger mit Idealen, die deutlich von seinem Aufwachsen in der NS-Diktatur geprägt waren.
Ehrgeiz und Streben nach Geld und Ansehen sowie die Tendenz, Erreichtes zu zerstören und das Los, so manches wieder zu verlieren oder auch mal durchs Raster zu fallen charakterisieren seinen Vater und ein äußerst schwieriges und zwiespältiges Verhältnis charakterisiert seine Beziehung zu ihm, dem Sohn.
Dass sich der Sohn immer wieder dabei ertappt, Ähnlichkeiten mit dem Vater zu haben, wirft in ihm die Frage auf, wie sehr er von ihm durchdrungen und geprägt wurde... wie sehr er er selbst und unabhängig ist.

Es ist äußerst interessant, dieser Geschichte zu folgen und in sich hineinzuhorchen, wie sie wirkt und was sie mit einem macht.
Es ist so einfach, zu urteilen und zu bewerten, aber das Leben formt den Menschen und so Einiges wird durch interessiertes Zuhören oder lesen nachvollziehbar, wodurch man nicht selten milder gestimmt wird.
Michael Kleeberg hat sich neugierig, ausgiebig, detailliert, kritisch und fair mit seinem verstorbenen Vater auseinandergesetzt ... ich würde fast sagen, er konnte durch diese intensive Beschäftigung seinen inneren Frieden mit ihm und sich selbst machen.

Ich empfehle diesen Roman, der unterhaltsam, interessant, berührend, witzig und fesselnd ist und meinen Horizont erweitert hat sehr gerne weiter!





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Veröffentlicht am 29.09.2020

Lesenswert! Aus einer Tragödie das Beste machen.

Das Haus in der Claremont Street
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Was der 9-jährige Tom ertragen muss ist unfassbar!
Sein gewalttätiger Vater erschlägt seine Mutter Mona und erschießt sich dann selbst.
Tom verfällt daraufhin in einen inneren Rückzug und in ein schockiertes, ...

Was der 9-jährige Tom ertragen muss ist unfassbar!
Sein gewalttätiger Vater erschlägt seine Mutter Mona und erschießt sich dann selbst.
Tom verfällt daraufhin in einen inneren Rückzug und in ein schockiertes, von Schuldgefühlen erfülltes Schweigen.
Sonya, die älteste Schwester seiner Mutter, und deren Ehemann Alex nehmen Tom gern bei sich auf.
Sie sind seit Jahren ungewollt kinderlos.
Allerdings haben sie sich das Zusammenleben anders vorgestellt, als es jetzt, mit einem 9-jährigen traumatisierten Bettnässer, ist.
Aufgrund der Überforderung wird Tom weitergereicht.
Sonyas jüngere Schwester Rose springt ein und von da an lebt Tom bei Rose, ihrem 14- jährigen Sohn und ihrem Bruder Will, Toms Onkel, in der Claremont Street in Toronto.
Da erwartet ihn ein bisher nicht bekanntes, chaotisches Leben, in dem er sich etwas wohler fühlt.
Aber es bleibt schwierig und unbeständig.
Es wird spannend, wie es mit Tom und den Geschwistern seiner Mutter, die konflikthaft miteinander verwoben sind und sich selbst auch Vorwürfe wegen dem Tod ihrer Schwester Mona machen, weitergeht.

Die Autorin hat eine bewegende, erschütternde, schockierende Familiengeschichte zu Papier gebracht.
Ich wurde sofort in das Geschehen hineingezogen und hatte sowohl Charaktere als auch Handlungsorte bildhaft und szenisch vor Augen.
Bei allem Tragischen ist es schön, zu lesen, dass eine zerstrittene Familie genau dadurch wieder zusammenwachsen kann. Außerdem sorgen einige wohl dosierte Portionen Humor für guten Ausgleich.
Es überwiegen am Ende das Gefühl und die Zuversicht, dass man selbst aus dem Schlimmsten das Beste machen kann.

Ich möchte den feinfühlig aber nie kitschig geschriebenen 368-seitigen Debutroman der Deutsch-Kanadierin Wiebke von Carolsfeld sehr gerne weiterempfehlen.
Es ist ein Roman, der aus der Masse hervorsticht und nachhallt.

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