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Veröffentlicht am 23.01.2021

Eine Reise nach St. Petersburg und zu sich selbst...

Fast hell
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Der Ich-Erzähler Alexander Osang, ein weit und viel gereister Journalist und Uwe, ein schillernder Mann von Welt, begegnen sich Anfang des 21. Jahrhunderts erstmals auf einer Party in New York. Es folgen ...

Der Ich-Erzähler Alexander Osang, ein weit und viel gereister Journalist und Uwe, ein schillernder Mann von Welt, begegnen sich Anfang des 21. Jahrhunderts erstmals auf einer Party in New York. Es folgen weitere Treffen.
Die beiden in den 1960-er Jahren geborenen Männer stammen aus Ostberlin, Uwe lebt inzwischen in New York.
2019 soll Alexander Osang für den Spiegel über Ostdeutschland schreiben. Uwe kommt ihm in den Sinn und nach einer gemeinsamen Reise im Sommer 2019 und nachdem Uwe zugestimmt hat, schreibt und veröffentlicht er dessen Geschichte, die sich mit seiner verzahnt.
Auf der gemeinsamen Schiffsreise von Helsinki nach St. Petersburg und während der folgenden drei Tage in St. Petersburg verweben sich Uwes Erfahrungen und Alexanders Reflexionen und Erinnerungen zu einem lebendigen und interessanten zeitgeschichtlichen Portrait, in dem es um das Aufwachsen in Ostdeutschland, um die Zeit während und nach der Wende und um die noch lang fortbestehende gedankliche Teilung Deutschlands in Ost und West geht.
Es geht aber noch um viel mehr in dem feinfühlig, poetisch und auch humorvoll geschriebenen Werk.
Wir lesen von Selbstzweifeln und Selbstfindung, von Neubeginn, und Wendepunkten, blicken von Berlin nach New York und Tel Aviv und streifen immer wieder und intensiv, aber unaufdringlich die Frage der verzerrten und trügerischen Erinnerungen und inwieweit wir uns unsere Biographie zusammenreimen und Lücken mit Phantasie füllen.

Während der Lektüre dieses leicht melancholischen und zeitweise nostalgischen Werkes hatte ich das Gefühl, als stiller Beobachter den Gesprächen zu lauschen. Ich fühlte mich mittendrin und nahe dran.
Es machte Spaß, die unterschiedlichen Lebenswege und Lebensgeschichten sowie Uwes Mutter, die die beiden Männer begleitet und ihre ganz eigene Sicht der Dinge beisteuert, kennenzulernen.

Ich empfehle diesen tiefgründige, differenzierte, interessante und sehr persönliche Werk sehr gerne weiter.
Er ist aufschlussreich, hat mich berührt und beeindruckt, regt zum Mit- und Nachdenken an und hallt nach.

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Veröffentlicht am 21.01.2021

Ein ganz besonderes Lesevergnügen!

Aber es wird regnen
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Dieser zweite und zugleich letzte Band von Clarice Lispectors gesammelten Erzählungen enthält 44 meist sehr kurze Geschichten.

Die Autorin entführt uns z. B. ins weltberühmte Fußballstadion Maracanã in ...

Dieser zweite und zugleich letzte Band von Clarice Lispectors gesammelten Erzählungen enthält 44 meist sehr kurze Geschichten.

Die Autorin entführt uns z. B. ins weltberühmte Fußballstadion Maracanã in Rio de Janeiro, wo sich eine Frau in den unterirdischen Gängen verläuft.
Eine andere junge Frau entdeckt nach vielen Demütigungen das erfüllende Glück des Lesens.
In einer weiteren Geschichte, die in einem Zugabteil spielt, meint eine reservierte und unnahbare Frau, dass zwei Männer einen Mord planen.
Ein Hausmädchen kann mit neuer Energie und Lebenskraft in ihren Alltag zurückkehren, nachdem sie sich ihrer Traurigkeit gestellt hat.
Eine wohlhabende Bankiers-Gattin verlässt gerade einen Schönheitssalon, als ein Bettler sie um etwas Geld bittet, was sie zutiefst durcheinander bringt.
Und wir lesen vom Karneval mit Rosenkostüm.

Das war jetzt nur eine Art Brainstorming nach der Lektüre, um einen Eindruck von der Vielfalt der Erzählungen zu geben.

Clarice Lispector beobachtet messerscharf und erzählt das Beobachtete in einer schlichten, zarten, fast liebevollen, poetischen und gleichzeitig eindringlichen Sprache.
Mit anschaulichen Bildern, bildhaften Vergleichen und umwerfenden Metaphern erweckt sie das Erzählte zum Leben.

Die Mehrheit der Geschichten zogen mich in ihren Bann, manche „musste“ ich sogar zweimal lesen. Besonders mochte ich ihre philosophische Dimension und es gefiel mir, dass das Leben nicht beschönigt oder verklärt dargestellt, sondern in seiner ganzen Komplexität gezeigt wird.

Dass die Figuren in all ihrer Vielschichtigkeit und mit Ecken und Kanten gezeichnet werden, macht sie greifbar und authentisch.
Clarice Lispector seziert ihre Charaktere regelrecht.
Es macht großen Spaß, sie kennenzulernen und ein Weilchen zu begleiten.

„Aber es wird regnen“ ist ein anspruchsvolles, aber trotzdem flüssig und leicht zu lesendes Werk, das wunderbar unterhält, tief berührt und mit teils bizarren Wendungen und schrägen Pointen überrascht.
Es hat etwas Geheimnisvolles und Traumhaftes, ist berührend, mal traurig, mal beunruhigend, mal verblüffend, mal komisch, mal sonderbar, mal eigenwillig, regt zum Mit- und Nachdenken an und erweitert den Horizont.

Clarice Lispector war eine bedeutende brasilianische Autorin, die im Dezember 2020 einhundert Jahre alt geworden wäre.
1977 verstarb die Schriftstellerin mit jüdisch-ukrainischen Wurzeln einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag Jahren an Krebs.

Mit ihren beiden außergewöhnlichen Geschichtensammlungen „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ und „Aber es wird regnen“, die jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erschienen sind, hat sie ein wunderbares, besonderes und unterhaltsames Werk geschaffen, mit dem sie uns Lesern ein außergewöhnliches Lesevergnügen bereitet.
Unbedingt lesenswert!


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Veröffentlicht am 21.01.2021

Die Geschichte einer Emanzipation.

Lolly Willowes
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„Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann“ war der Debütroman der 1893 geborenen Sylvia Townsend Warner.
Die englische Originalausgabe erschien bereits 1926.

Laura wuchs Ende des 19. Jahrhunderts ...

„Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann“ war der Debütroman der 1893 geborenen Sylvia Townsend Warner.
Die englische Originalausgabe erschien bereits 1926.

Laura wuchs Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren zwei älteren Brüdern Henry und James bei ihrer kränkelnden Mutter und bei ihrem sie vergötternden Vater, einem Brauereibesitzer, auf dem Landsitz „Lady Place“ in Somerset auf.

Sie hatte viele Freiheiten, tobte draußen mit ihren Brüdern herum und las ohne Einschränkungen was sie wollte.
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter musste Lolly wohl oder übel eine gesittete Dame und die Hausherrin an der Seite ihres Vaters Everard und ihres Bruders James werden.
Henry war zu dieser Zeit bereits verlobt und als Anwalt in London tätig.

Fast 10 Jahre lang lebten die drei ihren gewohnten Alltag in Somerset. Lolly führte den Haushalt und die Männer kümmerten sich um die Brauerei.

Einen Mann fand Lolly nicht, denn „welche Schönheiten ihres Äußeren Laura auch haben mochte, sie waren so wenig lieblich wie die Schönheiten ihres Geistes, und ihr vornehmes Auftreten ließ sie älter erscheinen, als sie eigentlich war.“ (S. 30)

Laura lebte recht zurückgezogen und wenn sie mal auf Festen erschien, war sie sehr reserviert und obwohl im heiratsfähigen Alter, war sie alles andere als bemüht charmant.
Dem Heiraten stand sie ziemlich gleichgültig gegenüber und außerdem hielt keiner der in Frage kommenden Kandidaten dem Vergleich mit ihrem Vater stand. (S. 32)
Vater und Tochter warteten vordergründig und vergeblich auf den „idealen Freier“ (S. 33).

Lolly liebte die Natur, das gemächlich dahintreibende Leben auf dem Land mit seinen Bräuchen, Ritualen und Familiengewohnheiten und sie wurde zu einer Expertin für Kräuter und Heilpflanzen, stellte Tinkturen her und bereitete schmackhafte, gesunde Salate zu.
Ihre Kenntnisse hielt sie in einem kleinen Buch mit dem Titel „Gesundheit am Wegesrand“ fest.

Dann bekam Lady Place unerwartet Zuwachs, weil James die vornehme Pfarrerstochter Sibyl heiratete, die in das große Haus einzog und bald ihren Sohn Titus zur Welt brachte.

Ein Jahr später, 1902, verstarb Lollys Vater Everard an einer Lungenentzündung,

Und jetzt wussten alle, was für die inzwischen 28-jährige Laura das Beste war:
Raus aus Lady Place, wo alles sie an ihren geliebten Vater erinnerte. Auf nach London, wo sie in Gesellschaft ihres eitlen, rigiden, herrschsüchtigen und konservativen Bruders Henry, ihrer resoluten, ordentlichen, unnahbaren und nüchternen Schwägerin Caroline und ihrer Nichten Fancy und Marion sein und Chancen haben würde, doch noch unter die Haube zu kommen.

Laura zog mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge zu ihnen und wurde dadurch zu Tante Lolly.
Dass sie nach dem Tod des Vaters zu einem ihrer beiden Brüder zog, war für die konservative Familie Willowes selbstverständlich.
Laura hinterfragte das nicht und war bereit, kritiklos über sich verfügen zu lassen „wie ein Stück Familienbesitz, das im Testament vergessen worden war“.

In London, wo das Wasser härter und der Winter kälter zu sein schien, gingen alle taktvoll und feinfühlig mit ihr um. Der wenig prickelnde Alltag kehrte ein, „die Bleigewichte hatten bereits ihren Kurs abwärts begonnen.“ (S. 56)

Gleichzeitig regten sich die vielfältigsten Gefühle in Laura, die es irgendwann satt hatte, Tante Lolly zu sein. Sie empfand Unmut, Unzufriedenheit, der hartnäckige Widerwille, sich verheiraten zu lassen, Unruhe, Sehnsucht, Abenteuerlust und Neugierde.

Eines Abends nach dem ersten Weltkrieg eröffnete die inzwischen 47-jährige Lolly der Familie nach vielen Jahren des Zusammenlebens beim gemeinsamen Essen plötzlich und bestimmt, dass sie nach Great Mop ziehen würde, einem abgelegenen und kleinen Ort in den Chilterns.

Dieser Umzug stellte für Laura DIE Chance dar, um ihren kontrollierenden und bestimmenden Verwandten zu entkommen, dem „Tantendasein zu entgehen“ (S. 237) und ein selbstbestimmtes und freies Leben zu führen, bis...
und jetzt verrate ich nichts mehr!

...außer, dass sich gegen Ende eine völlig überraschende Wendung ereignet.
Ich fühlte mich regelrecht vor den Kopf gestoßen und war völlig perplex, denn mit so etwas hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Aber nach und nach konnte ich mich auf diese neue Dimension einlassen.
Meine ursprüngliche Begeisterung kehrte zurück und Bewunderung gesellte sich dazu.
Es war und ist die Bewunderung für die Metaphorik und Symbolik, sowie für die Psychodynamik, die mir nun aus der Lektüre entgegenschlug.
Am Ende klappte ich den Roman beeindruckt zu.

Ganz unaufgeregt und mit einer wunderschönen, eleganten und bildhaften Sprache erzählt uns Sylvia Townsend Warner Lauras Geschichte, die gleichermaßen distanziert wie berührend geschrieben ist.
Die Emotionen stecken weniger im Text, als dass sie im Leser ausgelöst werden.
Die Autorin war eine scharfsinnige, feinfühlige und psychologisch versierte Beobachterin, die das Beobachtete präzise, schön und sinnlich formulieren konnte.

Obwohl dieser zurecht als feministischer Klassiker bezeichnete Roman schon fast 100 Jahre alt ist, ist er nicht nur als Kritik an der damaligen Gesellschaft mit ihren Rollenklischees zu lesen.
Er behandelt ein aktuelles, zeitloses und interessantes Thema.
Auch wenn wir heutzutage gesellschaftlich gesehen schon um ein Vielfaches weiter sind, ist der beschriebene Konflikt doch leider allzu häufig ein individuelles Problem: innere Freiheit und Unabhängigkeit versus Befreiung und Selbstverwirklichung.
Das erlebe ich tagtäglich in meiner Praxis.

Ich empfehle „Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann“ sehr gerne weiter.
Es ist ein unterhaltsames, tiefgründiges und bereicherndes Werk, das mir schon wegen seiner Sprache, aber natürlich auch wegen dem Plot und v. a. wegen der völlig unvorhersehbaren Wendungen großen Lesegenuss bereitete.


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Veröffentlicht am 20.01.2021

Originell, interessant, aktuell und kurzweilig...

Das Baby ist meins
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Oyinkan Braithwaite entführt uns mit ihrem neuen Roman nach Lagos in Nigeria und zwar in Zeiten des Corona-Lockdowns.

Mide setzt Bambi, den machohaften Ich-Erzähler, vor die Tür, weil er sie wiederholt ...

Oyinkan Braithwaite entführt uns mit ihrem neuen Roman nach Lagos in Nigeria und zwar in Zeiten des Corona-Lockdowns.

Mide setzt Bambi, den machohaften Ich-Erzähler, vor die Tür, weil er sie wiederholt betrogen hat. Sein Handy lieferte ihr die Beweise dafür.

Er findet Unterschlupf bei Auntie Bidemi, die mit dem Neugeborenen Remi das Haus ihres kürzlich verstorbenen Gatten Folu bewohnt.
Überrascht stellt der 28-jährige Bambi fest, dass auch Esohe, die ehemalige junge Geliebte seines Onkels Folu im Haus ist und noch viel überraschter registriert er den Streit der beiden Frauen um den Säugling.

Eine jede will seine Mutter sein.
Sie kämpfen unerbittlich um die Mutterschaft.
Jede will das Kind für sich haben. Zwei Ansprüche, die gnadenlos aufeinanderprallen und den kleinen Remi zu einem Spielball machen.

Bambi, der Mann im Haus, der verpflegt, bedient und hofiert werden will, wird zwangsläufig involviert. Auch wenn er wollte, er könnte schon aufgrund der Ausgangssperre nicht mehr weg.

Er kümmert sich um das Kind, will es beschützen und ist daran interessiert, ein größeres Unglück zu verhindern und Licht ins Dunkel zu bringen.
Der Frauenheld entwickelt sich zu einem erstaunlich verantwortungsvollen und fürsorglichen Mann.

Jede der beiden rücksichtslosen und gewaltbereiten Rivalinnen will ihn auf ihre Seite ziehen und zu ihrem Verbündeten machen.
Es steht Aussage gegen Aussage. Er soll richten, aber beide Seiten klingen irgendwie glaubhaft und nachvollziehbar.

„Das Baby ist meins“ ist ein kurzweiliges und unterhaltsames Kammerspiel, originell was die Thematik und den Plot betrifft, aktuell was die Corona-Krise anbelangt und interessant, was die Einblicke in die nigerianische Kultur und ihre patriarchalischen Strukturen angeht.

Ich fand es durchaus reizvoll, in diese absurde, eigentlich dramatische, aber auch humoristische Situation hineingeworfen zu werden, Zeugin dieser skurrilen Auseinandersetzung zu sein und etwas über diese fremde Welt und Kultur zu erfahren.
Allerdings wurde ich nicht so richtig warm mit den Figuren. Sie konnten mich nicht wirklich berühren oder gar fesseln.
Zum Ende hin gab es einige neue Aspekte und eine überraschende Wendung, die originell, aber nicht ganz schlüssig waren.

Der Roman hat mir trotzdem und auch mit all seiner Pointiertheit gefallen.
Manchen Lesern mag das Gelesene zu zugespitzt anmuten.
Mir jedoch gefiel die Wahl dieses Stilmittels genauso wie die Wahl von Setting, Rahmen und Thema.

Ich hatte ziemlich oft das Gefühl, dass mich eine augenzwinkernde Autorin beim Lesen beobachtet. Ich glaube, sie hat sich ganz bewusst für Kürze, Ironie und Überspitzung entschieden.

Dass Oyinkan Braithwaite die Kulisse des Corona-Lockdowns gewählt hat, ist ein gelungener Kunstgriff.
Aus diesem Grund hat das Nervenkostüm der Protagonisten schon eine gravierende Grundspannung und ist eine Flucht aus der Konfliktsituation nicht möglich.
Die drei können einander nicht aus dem Weg gehen, müssen zwei Krisen gleichzeitig aushalten und meistern und die Konflikte offen miteinander austragen.
Sie können den Schwierigkeiten und sich selbst nicht entkommen.

Ich empfehle dieses recht kompakte und kurze, originelle und unterhaltsame Buch, eher Novelle als Roman, gerne weiter!
Für mich war es mal eine ganz andere Art von Lektüre, die mich zwar nicht letztendlich und vollends gepackt hat, die ich aber trotzdem gern und interessiert in wenigen Stunden „verschlungen“ habe.

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Veröffentlicht am 18.01.2021

Auf der Suche nach Antworten...

Ein Lied für die Vermissten
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Der Autor entführt uns bild- und sprachgewaltig in den Nahen Osten nach Beirut und macht uns mit sämtlichen Facetten, Farben, Gerüchen, Geräuschen und Stimmungen dieser Stadt bekannt.

2011 ist der Arabische ...

Der Autor entführt uns bild- und sprachgewaltig in den Nahen Osten nach Beirut und macht uns mit sämtlichen Facetten, Farben, Gerüchen, Geräuschen und Stimmungen dieser Stadt bekannt.

2011 ist der Arabische Frühling natürlich auch in Beirut in vollem Gange.
Trotz brennender Häuser und Leichenfunden schreibt Amin seine Erinnerungen und Gefühle nieder.

Als er noch ein Baby und schon ein Waise war, flüchtete seine Großmutter, einst eine gefeierte Malerin, mit ihm vor dem Bürgerkrieg aus dem Libanon nach Deutschland.
1994 kehrte er nach mehr als zehn Jahren als Jugendlicher mit ihr zurück.

Der Krieg war vorbei, aber Menschen und Stadt litten noch gravierend unter den Nachwehen.
Damals waren seine Eltern bereits seit 12 Jahren tot.

Amin erinnert sich an seine damalige Freundschaft mit dem unergründlichen gleichaltrigen Jafar, an den Raupenzüchter Abbas und auch an seine Desillusionierung.
Niemals würde er in diesem Land tiefgründige Klarheit, Gewissheit und Sicherheit erfahren.
Wir lesen von vermeintlich schützendem Schweigen, von Geheimnissen, die gelüftet werden sollten und von Menschen, die plötzlich verschwunden und vermisst sind.
Es ist, als würde man mit Amir Freundschaft schließen und ihn über viele Jahre hinweg begleiten.

Der 1985 geborene Pierre Jarawan ist ein begnadeter Erzähler, der mich mit seiner poetischen Sprache regelrecht verzauberte und fesselte und der mich mit Leichtigkeit mitten ins Geschehen hineinzog.
Begeisterung, Energie und Intensität strömen aus der Geschichte, die rasch voranschreitet, unter die Haut geht und mich schnell in ihrer Bann zog.

Dass Pierre Jarawan fast bis zur Hälfte des Romans nicht streng chronologisch und stringent erzählt, sondern häufig nur Puzzleteile auf den Tisch wirft und sich in Andeutungen verliert, um aus allem zuletzt ein buntes, aufwühlendes, vielschichtiges und tiefgründiges Gemälde entstehen zu lassen, ist ein Kunstgriff, der die Spannung unglaublich steigert.

Feinfühlig und sinnlich lässt er uns in eine fremde Welt eintauchen, in der wir bemerkenswerte Charaktere kennenlernen, eine fremde Stadt erkunden und ihre Atmosphäre spüren.

Der Autor verknüpft dabei das Märchenhafte mit dem Realen und das Kleine mit dem Großen.
Wir erfahren biographische Geschichten und streifen die Welt- bzw. die libanesische Zeitgeschichte.

„Ein Lied für die Vermissten“ ist so vieles: ein politischer Roman, ein Liebes- und Freundschaftsroman, eine Familiengeschichte und eine Coming-of-Age-Geschichte.
Es ist auch keine leichte Kost, die sich so nebenbei konsumieren lässt.
Es ist inhaltlich und emotional komplex und anspruchsvoll.
Es berührt, verstört und regt zum Mit- und Nachdenken an.

Aber vor allem ist das Buch für mich eine bewegende literarische Perle, die nachhallt, die mich bereicherte und die mir äußerst vergnügliche Lesestunden bescherte.

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