Tragisch-romantischer Klassiker, erstmals auf Deutsch
MathildaREZENSION – Während wohl jeder schon von „Frankenstein“ zumindest gehört hat, dem 1818 erstveröffentlichten und berühmtesten Schauerroman der Literaturgeschichte, kennen weit weniger den Namen seiner britischen ...
REZENSION – Während wohl jeder schon von „Frankenstein“ zumindest gehört hat, dem 1818 erstveröffentlichten und berühmtesten Schauerroman der Literaturgeschichte, kennen weit weniger den Namen seiner britischen Autorin Mary Shelley (1797 bis 1851). Sie stand zeitlebens im Schatten ihres früh verstorbenen, aber viel bekannteren Ehemanns, des Dichters Percy Bysshe Shelley (1792 bis 1822), weshalb ihre später veröffentlichten Werke heute kaum bekannt sind. Umso lobenswerter ist das Wagnis, das der Bielefelder Pendragon Verlag jetzt im Februar ausgerechnet mit Veröffentlichung der deutschsprachigen Erstausgabe ihres bereits 1819, also vor über 200 Jahren verfassten, damals aber nicht veröffentlichten zweiten Romans „Mathilda“ eingegangen ist.
Ihr Manuskript hatte die 27-jährige Mary Shelley aus Italien, wo sie mit Ehemann Percy lebte, nach England an ihren Vater, den Sozialphilosophen und Autor William Godwin (1756 bis 1836), zur Veröffentlichung geschickt. Diesem schien der Text, der von einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter handelte, aber zu brisant, weshalb er aus Furcht vor einem Skandal von der Veröffentlichung absah. Seitdem galt das „Mathilda“-Manuskript als verschollen. Erst der amerikanischen Herausgeberin Elizabeth Nitchie gelang es, in dem auf verschiedene Archiven und Bibliotheken verteilten Nachlass der Shelleys aus Notizbüchern und einzelnen handgeschriebenen Seiten mit Korrekturen und Ergänzungen den vollständigen Kurzroman wieder zusammenzustellen und 1959 erstmals im englischen Original zu veröffentlichen.
In der als Abschiedsbrief geschriebenen Novelle erzählt die 20-jährige Mathilda ihre kurze Lebens- und Leidensgeschichte: Nach dem Tod ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter, flieht ihr von Trauer übermannter Vater aus dem Haus und lässt die Neugeborene bei der Tante zurück, wo Mathilda auf dem Land einsam und ohne liebevolle Zuwendung aufwächst. Als der Vater nach 16 Jahren aus seinem selbst gewählten Exil unerwartet zurückkehrt und seine Tochter zu sich nimmt, hofft sie auf die jahrelang vermisste väterliche Liebe und ein glückliches Leben an der Seite des Vaters. Doch seine Liebe zur 16-Jährigen, die in Schönheit und Anmut ihrer verstorbenen Mutter gleicht, entwickelt sich zu einem intensiven, zwischen Vater und Tochter ungehörigen Verhältnis, das den Vater bald verzweifeln und sich aus Angst und Scham darüber von seiner Tochter abwenden lässt. Diese erneute Ablehnung des geliebten Vaters verletzt Mathilda seelisch zutiefst und treibt sie fast bis in den Wahnsinn.
Diese Geschichte einer zu intensiven Vater-Tochter-Beziehung mag die heutige Leserschaft vielleicht nicht gleichermaßen erschüttern wie jene um 1820, zumal in der Novelle nur von einer allzu obsessiven Liebesbeziehung die Rede ist, nicht aber von sexueller Intimität oder gar sexuellem Übergriff des Vaters. Doch die Weigerung von Mary Shelleys Vater, diesen Text zu veröffentlichen, mag auch darin begründet sein, dass es in den Protagonisten gewisse Parallelen zur eigenen Familie gibt, wie US-Herausgeberin Elizabeth Nitchie vermutet: So hat sich die Autorin wohl selbst in der Figur der in tiefe Depression fallenden Mathilda gesehen: Im September 1818 starb Shelleys Tochter Clara, im Juni 1819 ihr Sohn William. In Mathildas Vater wird sich Shelleys Vater William Goodwin erkannt haben, hatte er doch seine Frau Mary Wollstonecraft (1759 bis 1797) ebenfalls nach Marys Geburt im Kindbett verloren. Zuletzt trifft die trauernde Mathilda auf den jungen empfindsamen Poeten Woodville, der in gewisser Weise Marys Ehemann Percy Bysshe Shelley gleicht.
„Mathilda“ ist eine melancholisch-poetische, tragisch-romantische und sehr intim erzählte, stilistisch ihrer Entstehungszeit entsprechende Novelle, in der es um Obsession, Depression, seelische Zerrüttung und verlorenen Lebenssinn und Lebenswillen geht. Die Geschichte ist ausgesprochen düster, allerdings im Gegensatz zu Shelleys Debüt „Frankenstein“ kein Schauerroman, sondern eine dramatische und psychologisch tiefgreifende Erzählung über die Abgründe der menschlichen Seele.
Manchen heutigen Leser mag die übertriebene Melodramatik und das exzessive Selbstmitleid Mathildas vielleicht stören, zumal dadurch verursachte Längen die Handlungsdynamik lähmen. Auch ist das Ende dieser tragischen Geschichte keine Überraschung, da Mathildas Anlass, ihrem in gemeinsamer Trauer freundschaftlich verbundenen Dichter Woodville diesen Abschiedsbrief zu schreiben, ihr baldiger Tod ist. „Ich weiß nicht, ob irgendjemand diese Seiten lesen wird außer Ihnen, mein Freund, der sie nach meinem Tod empfangen wird. Ich richte sie nicht an Sie allein … Daher werde ich meine Geschichte so erzählen, als wäre sie an einen Fremden gerichtet.“ Mehr als 200 Jahre lang wurde dieser zweite Roman Mary Shelleys uns deutschen Lesern vorenthalten. Allein dies sollte doch Grund genug für literarische Neugier und Anlass sein, das Versäumte jetzt endlich nachzuholen.