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Veröffentlicht am 16.03.2025

Tragisch-romantischer Klassiker, erstmals auf Deutsch

Mathilda
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REZENSION – Während wohl jeder schon von „Frankenstein“ zumindest gehört hat, dem 1818 erstveröffentlichten und berühmtesten Schauerroman der Literaturgeschichte, kennen weit weniger den Namen seiner britischen ...

REZENSION – Während wohl jeder schon von „Frankenstein“ zumindest gehört hat, dem 1818 erstveröffentlichten und berühmtesten Schauerroman der Literaturgeschichte, kennen weit weniger den Namen seiner britischen Autorin Mary Shelley (1797 bis 1851). Sie stand zeitlebens im Schatten ihres früh verstorbenen, aber viel bekannteren Ehemanns, des Dichters Percy Bysshe Shelley (1792 bis 1822), weshalb ihre später veröffentlichten Werke heute kaum bekannt sind. Umso lobenswerter ist das Wagnis, das der Bielefelder Pendragon Verlag jetzt im Februar ausgerechnet mit Veröffentlichung der deutschsprachigen Erstausgabe ihres bereits 1819, also vor über 200 Jahren verfassten, damals aber nicht veröffentlichten zweiten Romans „Mathilda“ eingegangen ist.
Ihr Manuskript hatte die 27-jährige Mary Shelley aus Italien, wo sie mit Ehemann Percy lebte, nach England an ihren Vater, den Sozialphilosophen und Autor William Godwin (1756 bis 1836), zur Veröffentlichung geschickt. Diesem schien der Text, der von einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter handelte, aber zu brisant, weshalb er aus Furcht vor einem Skandal von der Veröffentlichung absah. Seitdem galt das „Mathilda“-Manuskript als verschollen. Erst der amerikanischen Herausgeberin Elizabeth Nitchie gelang es, in dem auf verschiedene Archiven und Bibliotheken verteilten Nachlass der Shelleys aus Notizbüchern und einzelnen handgeschriebenen Seiten mit Korrekturen und Ergänzungen den vollständigen Kurzroman wieder zusammenzustellen und 1959 erstmals im englischen Original zu veröffentlichen.
In der als Abschiedsbrief geschriebenen Novelle erzählt die 20-jährige Mathilda ihre kurze Lebens- und Leidensgeschichte: Nach dem Tod ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter, flieht ihr von Trauer übermannter Vater aus dem Haus und lässt die Neugeborene bei der Tante zurück, wo Mathilda auf dem Land einsam und ohne liebevolle Zuwendung aufwächst. Als der Vater nach 16 Jahren aus seinem selbst gewählten Exil unerwartet zurückkehrt und seine Tochter zu sich nimmt, hofft sie auf die jahrelang vermisste väterliche Liebe und ein glückliches Leben an der Seite des Vaters. Doch seine Liebe zur 16-Jährigen, die in Schönheit und Anmut ihrer verstorbenen Mutter gleicht, entwickelt sich zu einem intensiven, zwischen Vater und Tochter ungehörigen Verhältnis, das den Vater bald verzweifeln und sich aus Angst und Scham darüber von seiner Tochter abwenden lässt. Diese erneute Ablehnung des geliebten Vaters verletzt Mathilda seelisch zutiefst und treibt sie fast bis in den Wahnsinn.
Diese Geschichte einer zu intensiven Vater-Tochter-Beziehung mag die heutige Leserschaft vielleicht nicht gleichermaßen erschüttern wie jene um 1820, zumal in der Novelle nur von einer allzu obsessiven Liebesbeziehung die Rede ist, nicht aber von sexueller Intimität oder gar sexuellem Übergriff des Vaters. Doch die Weigerung von Mary Shelleys Vater, diesen Text zu veröffentlichen, mag auch darin begründet sein, dass es in den Protagonisten gewisse Parallelen zur eigenen Familie gibt, wie US-Herausgeberin Elizabeth Nitchie vermutet: So hat sich die Autorin wohl selbst in der Figur der in tiefe Depression fallenden Mathilda gesehen: Im September 1818 starb Shelleys Tochter Clara, im Juni 1819 ihr Sohn William. In Mathildas Vater wird sich Shelleys Vater William Goodwin erkannt haben, hatte er doch seine Frau Mary Wollstonecraft (1759 bis 1797) ebenfalls nach Marys Geburt im Kindbett verloren. Zuletzt trifft die trauernde Mathilda auf den jungen empfindsamen Poeten Woodville, der in gewisser Weise Marys Ehemann Percy Bysshe Shelley gleicht.
„Mathilda“ ist eine melancholisch-poetische, tragisch-romantische und sehr intim erzählte, stilistisch ihrer Entstehungszeit entsprechende Novelle, in der es um Obsession, Depression, seelische Zerrüttung und verlorenen Lebenssinn und Lebenswillen geht. Die Geschichte ist ausgesprochen düster, allerdings im Gegensatz zu Shelleys Debüt „Frankenstein“ kein Schauerroman, sondern eine dramatische und psychologisch tiefgreifende Erzählung über die Abgründe der menschlichen Seele.
Manchen heutigen Leser mag die übertriebene Melodramatik und das exzessive Selbstmitleid Mathildas vielleicht stören, zumal dadurch verursachte Längen die Handlungsdynamik lähmen. Auch ist das Ende dieser tragischen Geschichte keine Überraschung, da Mathildas Anlass, ihrem in gemeinsamer Trauer freundschaftlich verbundenen Dichter Woodville diesen Abschiedsbrief zu schreiben, ihr baldiger Tod ist. „Ich weiß nicht, ob irgendjemand diese Seiten lesen wird außer Ihnen, mein Freund, der sie nach meinem Tod empfangen wird. Ich richte sie nicht an Sie allein … Daher werde ich meine Geschichte so erzählen, als wäre sie an einen Fremden gerichtet.“ Mehr als 200 Jahre lang wurde dieser zweite Roman Mary Shelleys uns deutschen Lesern vorenthalten. Allein dies sollte doch Grund genug für literarische Neugier und Anlass sein, das Versäumte jetzt endlich nachzuholen.

Veröffentlicht am 03.03.2025

Anspruchsvolle Familiensaga, auch spannend

Das Wunder von Paradise Deep
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REZENSION - Über zwei Jahrhunderte und fünf Generationen erstreckt sich die im Februar beim Mitteldeutschen Verlag veröffentlichte Familiensaga „Das Wunder von Paradise Deep“ des auf Neufundland geborenen ...

REZENSION - Über zwei Jahrhunderte und fünf Generationen erstreckt sich die im Februar beim Mitteldeutschen Verlag veröffentlichte Familiensaga „Das Wunder von Paradise Deep“ des auf Neufundland geborenen und heute wieder dort lebenden kanadischen Schriftstellers Michael Crummey (59). Die ungewöhnliche und inhaltsreiche Geschichte beginnt mit den ersten Einwohnern einer abgeschiedenen neufundländischen Fischersiedlung namens Paradise Deep zu einer Zeit, als Neufundland noch zum britischen Empire gehörte. Wie schon in Crummeys früheren Romanen handelt auch diese Erzählung in einer ungewöhnlichen Mischung aus Magie, Mythen und historischer Realität von der Entwicklung der Arbeits- und Umwelt und der Veränderung des gesellschaftlichen Lebens im Wandel der Zeit. Der Roman behandelt Themen wie die Härte des Überlebens in unwirtlicher Landschaft, den Konflikt zwischen Christentum und Aberglauben sowie die noch anhaltende Bedeutung von Mythen für damalige Menschen. Zugleich geht es aber auch um zeitlose Fragen wie Herkunft und Identität.
Alles beginnt mit einem mysteriösen Ereignis: Ein stummer, nach Fisch stinkender, „erstaunlich lebendiger“ bleichhäutiger Mann wird aus dem Bauch eines an der Küste gestrandeten Wals geschnitten. Zunächst wollen die Fischer ihn aus Furcht vor drohendem Unheil töten. Doch dann nimmt ihn die Familie Devine auf und gibt ihm den Namen Judah. Dem alten Aberglauben noch verhaftet, sind sich die Einwohner unsicher, ob der Fremde Mensch oder Tier ist, ob er ihrer Siedlung Segen oder Fluch bringen wird. In jedem Fall verändert sich durch Judahs Anwesenheit das Leben im Dorf: Blieben gerade die Fischschwärme aus, kehren sie nun auf einmal in die Bucht von Paradise Deep zurück und bringen der Siedlung einigen Wohlstand. Doch Judah verändert nicht nur das damalige Dorfleben, dessen Einwohnerschaft sich aus recht skurrilen Charakteren zusammensetzt, sondern verstrickt die beiden führenden Familien der als Hexe verdächtigten Witwe Devine und des wohlhabenden Händlers King-me Sellers über Generationen hinweg in eine wechselhafte Geschichte aus Liebe und Rache, Aberglauben und Traditionen. Mary Tryphena, Enkelin der beiden und Hauptfigur des Romans, ist noch ein Kind, als Judah an Land gespült wird, bleibt aber ihr Leben lang auf ungeahnte Weise mit ihm verbunden.
Crummey beschreibt in seinem Roman eine Welt, in der das Übernatürliche, die Mythen aus alter Zeit sowie die christliche Religion – wobei in dieser Einöde kaum zwischen Protestantismus und Katholizismus unterschieden wird – mit dem alltäglichen Leben verbunden sind, wie gleich zu Beginn das biblisch anmutende Erscheinen Judahs zeigt. Die Protagonisten, deren Schicksale über alle Zeiten miteinander verbunden bleiben, sind weder Helden noch Schurken. Jeder für sich ist eine sehr komplexe Persönlichkeit mit allzu menschlichen Fehlern, Leidenschaften und Geheimnissen. Wir erfahren viel über das entbehrungsreiche Leben der Fischer und Händler in dieser kargen Abgeschiedenheit, aber auch – trotz mancher persönlicher Fehden – über deren unbedingten Zusammenhalt.
Crummeys Erzählung ist voller mystischer Bilder und atmosphärisch dicht, wodurch der Roman durchaus spannend ist. Andererseits nimmt sich der Autor anfangs sehr viel Zeit für den Aufbau seiner Geschichte, was für manche Leser, die aktionsreiche Handlung bevorzugen, zu langatmig erscheinen mag. Überhaupt ist „Das Wunder von Paradise Deep“ bei aller Faszination eine schwierige Lektüre, die man deshalb möglichst selten unterbrechen sollte, um Handlungsfäden und Personen im Gedächtnis zu behalten. Gerade die Vielzahl an Personen zwingt einen oft, einen Blick auf die dem Roman vorgeschaltete Stammtafel zu werfen, um die Figuren auseinanderhalten oder zuordnen zu können. Ein weiterer Punkt der Erschwernis beim Lesen sind plötzliche Rückblenden mitten im Kapitel.
Doch wenn man bereit ist, sich auf die ungewöhnliche Mischung aus Mystik und Realität der Geschichte einzulassen und trotz anfangs vielleicht noch Störendem in der Lektüre durchzuhalten, wird feststellen, dass „Das Wunder von Paradise Deep“ ein durchaus faszinierender, stellenweise spannender, in jedem Fall bilderreicher, überaus atmosphärischer und fast poetisch erzählter Roman ist. Manche vergleichen Crummeys neuen Roman sogar mit Werken des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez oder der chilenisch-amerikanischen Bestseller-Autorin Isabel Allende.

Veröffentlicht am 28.02.2025

Authentisch, spannend, bewegend

Nacht der Ruinen
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REZENSION – Auf historischen Dokumenten aus den letzten Kriegstagen in Köln wie Originalfotos und Augenzeugenberichten basiert der im Februar beim Dumont Verlag veröffentlichte Roman „Nacht der Ruinen“ ...

REZENSION – Auf historischen Dokumenten aus den letzten Kriegstagen in Köln wie Originalfotos und Augenzeugenberichten basiert der im Februar beim Dumont Verlag veröffentlichte Roman „Nacht der Ruinen“ von Cay Rademacher (60), auch wenn der Autor in seinem Nachwort eingesteht, aus dramaturgischen Gründen sich „einige Freiheiten in der Chronologie erlaubt“ zu haben. Sein Roman erinnert anlässlich des diesjährigen 80. Jahrestages des Kriegsendes an die Situation in der Domstadt nach Einnahme durch amerikanische Truppen. Die Authentizität der Erzählung lässt ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte wieder äußerst lebendig werden, das sich auch in anderen deutschen Großstädten zu jener Zeit so zugetragen haben könnte.
Amerikanische Truppen haben am 6. März 1945 den linksrheinischen Teil der Domstadt eingenommen. Der Rhein ist die Front, auf dessen anderer Seite noch deutsche Panzer zur Abwehr stehen. Auf der bereits eroberten Rheinseite war der Widerstand gering, die Stadt wirkt ausgestorben. Nur 20.000 Menschen leben hier in Trümmern, die nach dem 31. Luftangriff der Alliierten am 2. März noch stehengeblieben waren. Damals war der von der Flak abgeschossene US-Bomberpilot Lieutenant Richard Rohrer mit seinem Fallschirm mitten im dachlosen Kirchenschiff der St. Kolumba, einer der größten Pfarrkirchen Kölns, gelandet und Opfer eines feigen Lynchmords geworden. Auf Empfehlung des Schriftstellers Stefan Heym (1913-2001), Mitglied der deutschsprachigen Feldnachrichtentruppe Ritchie Boys, wurde Lieutenant Joe Salmon – der 1938 emigrierte Kölner Jude Joseph Salomon – nach Köln abkommandiert, um im Auftrag des Stadtkommandanten Colonel John K. Patterson (1900-1990) den Mörder finden. Zur Tarnung setzt ihn Patterson als Presseoffizier ein: „Das ist Ihr offizieller Job: Sie werden [Hans] Habe helfen, die Bevölkerung mit Lautsprecherdurchsagen über alle Befehle der Stadtkommandantur zu informieren. Und Sie betreuen alliierte Kriegsreporter, die nach Köln kommen. … Das ist die perfekte Tarnung für Ihren eigentlichen Job, Lieutenant.“ Major Hans Habe (1911-1977), emigrierter Journalist aus Wien und jetzt ebenfalls als Ritchie Boy in Köln, war „ein schneidiger Militär, als käme er aus der längst versunkenen k.u.k.-Monarchie“ und in den USA „in phänomenal kurzer Zeit zum Darling der High Society aufgestiegen“. Gleichzeitig mit seinen Ermittlungen macht sich Joe Salmon auf die Suche nach seinem jüdischen Jugendfreund Jakub und nach Hilda, in die beide Gymniasten vor Kriegsbeginn total verliebt waren.
Der Roman „Ruinen der Nacht“ überzeugt durch seine besondere Authentizität, die der Autor nicht nur durch seine bis in Einzelheiten gehende Schilderung einzelner zerstörter Straßen und namentlich bekannter Gebäude oder die Beschreibung der allgegenwärtigen Not der in den Trümmern zurückgebliebenen Menschen erreicht, sondern vor allem durch die geschickte, allerdings fiktive Einbindung einiger zu jener Zeit in Köln tatsächlich aktiver Persönlichkeiten in die Romanhandlung. So wird Protagonist Joe Salmon bei seinen Ermittlungen vom britischen Kriegsreporter und Schriftsteller George Orwell (1903-1950) begleitet, der gerade auf die Veröffentlichung seiner Fabel „Farm der Tiere“ wartet und im selben Jahr auch seine Beobachtungen als Buch „Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich“ veröffentlichen wird. Wichtige Hinweise erhält Joe nicht nur vom neuen Polizeipräsidenten Karl Winkler (1884-1965), der gerade eine neue Polizeitruppe aufbauen muss, und dem Fotografen Hermann Claasen (1899-1987), der in der Kölner Trümmerlandschaft „unter abenteuerlichen Umständen“ fotografiert. Hilfe kommt auch vom Schwarzmarkthändler Hans-Werner Kettenbach (1928-2018), der später als Schriftsteller sein im Untergrund zugelegtes Pseudonym Christian Ohlig nutzt. Eine wichtige, wenn auch nur fiktive Rolle im Roman hat Rademacher der in Vorkriegszeiten bereits berühmten Schriftstellerin Irmgard Keun (1905-1982) zugedacht, die 1940 aus dem Exil unter falschem Namen nach Köln zurückgekehrt war und nun in ihrem zerbombten Elternhaus lebt.
Rademachers Roman lässt sich in drei Ebenen teilen: Da ist einerseits die Schilderung der historischen Situation Kölns in den letzten Kriegstagen, in denen Konrad Adenauer auf die von Stadtkommandant Patterson geplante Wiedereinsetzung als Oberbürgermeister wartet. Andererseits lesen wir über die Ermittlungen des in solchen Dingen völlig unerfahrenen Ritchie Boys Joe Salmon (Joseph Salomon), wobei die Krimi-Handlung bis zum Ende spannend bleibt und immer wieder mit unerwarteten Wendungen überrascht. Drittens lebt der Roman von einer sehr emotionalen Geschichte, nämlich Josephs Suche nach seinen Kölner Jugendfreunden Jakub und Hilda – zugleich auch seine Suche nach der eigenen Identität als Jude und Kölner, als Deutscher und Amerikaner. Alles in allem ist „Nacht der Ruinen“ also eine historisch äußerst interessante, zugleich spannende und bewegende Lektüre.

Veröffentlicht am 27.02.2025

Über die Revolution in der Anatomie

Die Anatomie einer neuen Zeit
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REZENSION – Schon in seinem Debütroman „Der sixtinische Himmel“ (2012) hatte Schriftsteller Leon Morell (58) seine Kenntnis der italienischen Renaissance fachkundig in die Handlung eingebracht. Auch sein ...

REZENSION – Schon in seinem Debütroman „Der sixtinische Himmel“ (2012) hatte Schriftsteller Leon Morell (58) seine Kenntnis der italienischen Renaissance fachkundig in die Handlung eingebracht. Auch sein zweiter historischer Roman „Die Anatomie einer neuen Zeit“, im Februar beim dtv Verlag erschienen, spielt im frühen 16. Jahrhundert und erzählt vom jungen flämischen Anatom und Chirurgen Andreas Vesal (1514-1564) in der italienischen Universitätsstadt Padua zur Zeit des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs.
Die junge kräuterkundige Verena aus Pfäffikon, in der Schweiz als vermeintliche Hexe zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, kann dem Kerker entfliehen, trifft drei Wochen später, als Student Johann Lederer verkleidet, im liberalen Padua ein und erlebt dort im Anatomischen Theater, einem Hörsaal der Universität, wie der berühmte „Medicus von Padua“, der aus Brüssel stammende und trotz seiner erst 26 Jahre schon berühmte Professor Andreas Vesal vor Honoratioren, Professoren und Studenten aus aller Welt eine Obduktion durchführt. Plötzlich wird der Arzt auf den Vorplatz gerufen, wo ein Student mit dem Tod ringt und bald erstickt. Dort treffen Vesal und Verena direkt aufeinander. Die junge Kräuterkundige überrascht den Mediziner mit ihrem Verdacht einer Vergiftung. Wieder zufällig treffen sich beide in der folgenden Nacht heimlich im Leichenhaus. Die unerlaubte Obduktion des Verstorbenen bestätigt diesen Verdacht. Doch wer sollte einen harmlosen Studenten vergiften und warum? Vesal nimmt die obdachlose Verena, den vermeintlichen Studenten Johann Lederer, als Assistenten in seiner Villa auf. Gemeinsam beginnen sie mit den Ermittlungen im Mordfall, der nach offizieller Version der Obrigkeit nur ein Todesfall mit unbekannter Ursache ist.
Im weiteren Verlauf der Handlung, in der Autor Leon Morell auf sehr eingängige Weise historische Fakten mit Fiktion mischt, erfahren wir viel über die damalige politische Situation Paduas, der unter dem Schutz Venedigs stehenden liberalen Universitätsstadt, in der freies Denken unabhängig vom Diktat des Vatikans möglich ist. Hier widersetzt sich der von seinen Studenten umjubelte Anatom in seinen Vorlesungen der bisher auf Erkenntnissen des altgriechischen Mediziners Galen noch beruhenden Lehre. „Mir geht es einzig darum, die Wissenschaft von vorgefassten Lehrmeinungen zu befreien.“ Durch seine revolutionären pathologischen Forschungsergebnisse am menschlichen Leichnam – bislang hatten Wissenschaftler aus religiösen Gründen nur Tierkadaver obduziert – wurde Vesal zum Begründer der neuzeitlichen pathologischen Anatomie. Während seiner Jahre ab 1537 in Padua verfasste er als Mittzwanziger bereits sein „Lebenswerk“ – das siebenbändige Lehrbuch „De Humanus Corporis Fabrica“ über den Bau des menschlichen Körpers, wie er seinem Assistenten im Roman erläutert: „Das erste anatomische Lehrbuch, das nicht nur systematisch aufgebaut sein, sondern dessen gesamter Inhalt sich wissenschaftlich nachprüfbaren Studien am menschlichen Leichnam verdanken wird.“
Nachdem der Anatom und Verena, die verkleidet als Mann und dank ihrer Intelligenz mit dem Rollenverständnis ihrer Zeit bricht, den Mordfall gelöst haben, Vesal aber dann doch vor Verfolgung durch den Vatikan nach Venedig fliehen muss, verlässt Verena mit Vesals Hauswirtschafterin Najat und mit Unterstützung des Universitätsrektors Gerolamo Cardano (1501-1576) die Stadt. Beide kutschieren die in Venedig vom Tizian-Schüler Jan Stephan van Calcar (1499-1546) geschnitzten hölzernen Druckstöcke für Vesals Lehrbuch „De Humanus Corporis Fabrica“ nach Basel zum Drucker Johannes Oporinus (1507-1568), wo die sieben Bände im Jahr 1543 erscheinen werden.
„Eine Woche war es her, dass sie nach Padua gekommen war. Eine Woche, in der ein ganzes Leben Platz gehabt hatte. Nun war es vorbei.“ Aktionsreich in der Fiktion, schildert Morell eindrucksvoll und authentisch den durch Vesal eingeleiteten medizinischen Fortschrift in der Renaissance. Zeitgemäß passend ist dabei die Gegenüberstellung abergläubischer, vermeintlicher Hexerei des Mittelalters, derer die kräuterkundige Verena in der Schweiz noch verdächtigt wurde, und der moderneren medizinischen Forschung. Durch die lebendige und gut recherchierte Erzählung ist auch dieser zweite Roman Leon Morells historisch äußerst interessant, wenn auch zugunsten der Handlung vereinzelt historische Fakten „angepasst“ wurden. Umso mehr motiviert dieser unterhaltsame und spannende Krimi, sich über das Leben Vesals genauer zu informieren.

Veröffentlicht am 10.02.2025

Macht Mut zum Weiterleben

Von hier aus weiter
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REZENSION – Im neuen Buch von Susann Pásztor (67) mit dem Titel „Von hier aus weiter“, im Februar beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, geht es um Trauer und Abschied nach dem Tod des Partners, ...

REZENSION – Im neuen Buch von Susann Pásztor (67) mit dem Titel „Von hier aus weiter“, im Februar beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, geht es um Trauer und Abschied nach dem Tod des Partners, um das allmähliche Loslassen und den notwendigen Willen zu einem glücklichen Weiterleben. Trotz dieses ernsten Themas, mit dem sich die Autorin bereits in ihrem mit dem Evangelischen Buchpreis prämierten Roman „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ (2017) beschäftigt hat, ist ihr erneut ein wunderbarer Roman gelungen, der es seinen Lesern dank durchgängiger Leichtigkeit ermöglicht, sich mit den Gedanken um Sterben und Tod zu beschäftigen, ohne sich davon bedrücken zu lassen. Stattdessen versucht die Autorin in einer gelungenen Mischung aus Feingefühl und Humor zu zeigen, dass es auch in schwierigsten Lebenssituationen immer einen Ausweg gibt, auf dessen Suche man sich auch auf seine Freunde verlassen sollte.
Im Roman lernen wir die frühere Lehrerin Marlene kennen, die vor 30 Jahren den bereits verwitweten Landarzt Rolf, Vater von drei Söhnen, geheiratet und damit trotz ihres Wunsches nach Unabhängigkeit ihr jahrzehntelanges Single-Dasein aufgegeben hatte. Nun hat der sterbenskranke Rolf den Freitod gewählt. Eigentlich hatte das Paar vereinbart, gemeinsam zu sterben, da Marlene keinen Sinn darin sah, ohne ihren Partner allein weiterzuleben. Doch Rolf hatte ihr im entscheidenden Moment ganz bewusst nur eine zu geringe Dosis des Medikaments verabreicht, so dass sie nach langem Schlaf neben ihrem verstorbenen Mann erwachte. Marlene ist verzweifelt, fühlt sich von Rolf verraten. Statt um ihren Partner zu trauern, ist sie auf ihn wütend, von ihm im Stich und allein gelassen worden zu sein. Sie zieht sich perspektivlos in die Isolation ihres Hauses zurück, verweigert sich allen Kontaktversuchen ihrer erwachsenen Stiefkinder und deren Familien sowie ihrer Freundinnen. Sie kann mit ihren Gefühlsschwankungen zwischen Wut und Trauer nicht umgehen, schluckt Beruhigungsmittel und plant immer noch, ihrem Rolf in den Tod zu folgen.
Als sie eines Tages einen Klempner im Haus braucht, erscheint ihr einstiger Schüler Jack. Der junge Handwerker ist momentan obdachlos, weshalb Marlene ihn im Haus aufnimmt. Aus Dankbarkeit kocht er für sie und umsorgt sie aufmerksam und einfühlsam. Mit einer Schnittwunde, die er sich bei der Küchenarbeit zugezogen hat, bringt Marlene ihn zu ihrer Freundin Ida, die vor Jahren die Arztpraxis ihres Mannes übernommen hatte. Die jungen Leute freunden sich an, versuchen gemeinsam, Marlene neuen Lebensmut zu geben, und bringen deren Alltag gehörig durcheinander. Da meldet sich plötzlich Marlenes frühere Freundin Wally aus Wien. Sie sei von Rolf beauftragt worden, nach seinem Tod Marlene einen Brief persönlich zu übergeben. Marlene erhofft sich darin eine Antwort auf die Frage, warum Rolf sie hat allein sterben lassen. In Begleitung von Jack und Ida macht sie sich auf die Reise.
Schon der Titel „Von hier aus weiter“ lässt keinen Zweifel an der Kernaussage des Romans. Er endet nicht mit Fragezeichen, sondern gleicht einer Aufforderung, auch nach dem Tod des Partners weiterzuleben. Susann Pásztor erzählt die Geschichte einer Frau, die sich selbst und ihr neues Leben erst finden muss, mit viel Feingefühl und einigem Witz, was schon in der ersten Szene deutlich wird: Während der Trauerfeier steckt Marlene in der Gasthoftoillette hinter der klemmenden, doch zum Glück hoch angebrachten Kabinentür fest. Kurzerhand schiebt sie sich unter der Tür durch, was ihr nur mit einiger Kraftanstrengung gelingt, da ihr Po stecken bleibt – dies alles unter aufmerksamer Beobachtung ihrer unerwartet im Waschraum anwesenden Stiefenkelin.
Susann Pásztor, die ehrenamtlich als Sterbebegleiterin tätig ist, schafft es, ohne jegliche Sentimentalität, aber mit berührender Leichtigkeit über den Tod zu schreiben. Sie versteht es, einfühlsam und lebensnah Marlenes Gefühle zwischen Trauer, Wut und Hoffnung zu verdeutlichen, um uns deren Handeln verständlich zu machen. Letztlich ist es aber die gelungene Balance zwischen Ernsthaftigkeit, Warmherzigkeit sowie dem lockerem Witz, der in Dialogen und einzelnen Szenen auszumachen ist, die dieses lebensbejahende Buch so lesenswert macht. Mit ihrem Humor nimmt uns die Autorin die Schwere des Themas, über das jederzeit nachzudenken zweifellos wichtig ist.