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Veröffentlicht am 08.08.2019

Die V.I.E.R. voll in ihrem Element

Nie zu alt für Heavy Metal. V.I.E.R. rocken Europa
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Kaum von ihrer Kreuzfahrt heimgekehrt, wenden die V.I.E.R. sich schon ihrem nächsten Abenteuer zu; dieses Mal reisen sie quer durch Europa. Der zweite Band der Krimireihe aus der Feder von Elisabeth Frank ...

Kaum von ihrer Kreuzfahrt heimgekehrt, wenden die V.I.E.R. sich schon ihrem nächsten Abenteuer zu; dieses Mal reisen sie quer durch Europa. Der zweite Band der Krimireihe aus der Feder von Elisabeth Frank und Christian Homma, „Nie zu alt für Heavy Metal. V.I E.R. rocken Europa“, ist im Juli 2019 bei Grafit erschienen und umfasst 272 Seiten.
Die V.I.E.R., das sind Gero Valerius, Ina-Marie, Eleonora und Rüdiger. Als Professor Ledoux‘ Doktorand, Viktor Jenko, spurlos mit wichtigen Unterlagen des Rezeptes für das alte Allheilmittel Theriak verschwindet, bittet dieser die vier Freunde um Hilfe. Doch der Fall entpuppt sich als komplexer und brisanter, als anfangs angenommen. Die Ermittlungen führen die V.I.E.R. quer durch Europa, wo es dann schließlich auf dem Heavy Metal-Festival in Wacken zu einem fulminanten Finale kommt.
In Manchem ähnelt dieses Buch dem ersten Teil der Reihe, doch keine Angst: Man kann dem Geschehen auch sehr gut folgen, ohne den ersten Band zu kennen, denn es gelingt dem Autorenduo sehr gut, alle wichtigen Informationen in den aktuellen Roman einzuarbeiten. Außerdem gibt es zu Beginn des Buches ein Verzeichnis, in dem die Protagonist/innen noch einmal vorgestellt werden. Man hat beim Lesen das Gefühl, liebgewonnene Freunde, die man schon lange kennt, auf ihrer Reise zu begleiten, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass Frank und Homma immer wieder Begebenheiten aus der Kindheit und Jugend der nun Erwachsenen einfügen. Liebevoll haben die Autor/innen ihre Figuren gestaltet, jede von ihnen hat ihre teils skurrilen Eigenheiten, es kommt auch immer wieder zu Animositäten, wenn Gero bspw. seine Alleingänge startet, aber letztlich ist es die Kombination, die das Team zu ihrem Ziel führt. Was man daraus lernen kann: Streiten ist gut, Vertragen ist besser, doch das gemeinsame Ziehen an einem Strang ist von nichts zu übertreffen.
Wie schon im ersten Teil, so begleiten Leserinnen und Leser die Helden auch hier auf einer Reise, dieses Mal eine durch Europa, genauer führt die V.I.E.R. ihr Weg von München über Celje in Slowenien, Venedig, London bis hin nach Wacken, wo es zu einem actionreichen Showdown kommt. In Gotland schließlich beenden sie ihre Reise und begießen erneut ihre Freundschaft. Dass die Autor/innen mit Herzblut bei der Sache sind, merkt man an der guten Recherche. Die einzelnen Stationen sind nicht nur mit Spannung, mehr oder weniger Action und Humor gespickt, nein, man erfährt als Leser/in auch viel über Land und Leute sowie Besonderheiten der jeweiligen Region. Mit Slowenien z.B. habe ich mich noch nie beschäftigt und habe beim Lesen gedacht: Dorthin lohnt sich eine Reise bestimmt auch. Aber auch die Szenen rund um ein venezianisches Kostümfest sind sehr ansprechend und machen Lust auf den „Karneval in Venedig“. Lediglich die Exkursion nach London hat m.E. den ansonsten bestehenden Spannungsbogen doch sehr unterbrochen. Ausruhen können Lesende und Protagonist/innen immer wieder bei den Zwischenstationen in München, wo gemeinsam das Erlebte resümiert wird – für die Leser/innen eine willkommene Möglichkeit, sich vom Trubel zu erholen und die eigenen Gehirnzellen einzuschalten: Zum Mitraten lohnt sich dieser Krimi nämlich allemal.
Interessante Informationen erhalten Interessierte zudem über den im Mittelalter als Wundermittel gepriesene „Theriak“ sowie die Möglichkeiten der Astronomie - auch hier habe ich viel Wissenswertes erfahren.
Die Szene in Wacken zu lesen, bringt Heavy Metal-Freunde auf ihre Kosten, hat man doch fast das Gefühl, dabei zu sein. Insbesondere Rüdiger ist hier voll in seinem Element und man kann nicht anders, als sich mit ihm mitzufreuen oder mitzustöhnen, wenn Elli z.B. vergisst, mit der „Pommesgabel“ zu grüßen oder Gero es bei seinem Versuch, authentisch zu wirken, dann doch übertreibt.
Auch wenn im Klappentext von „Menschenopfern“ die Rede ist, brauchen zartbesaitete Krimileser/innen dieses Buch nicht zu scheuen: Es ist absolut unblutig, es dominieren eine angenehme Spannung in Kombination mit feinem Humor.
Insgesamt hat mir diese Kombination aus Spannung, Reiseführer und Humor wieder sehr gut gefallen, und ich kann allen Freund/innen humorvoller Kriminalliteratur nur empfehlen, in diese Reihe einmal hineinzuschnuppern.

Veröffentlicht am 06.08.2019

Bewegende Familiengeschichte(n) des 20. Jahrhunderts

Die Leben der Elena Silber
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Alexander Osangs Familienroman „Die Leben der Elena Silber“ ist im August 2019 im Fischer Verlag erschienen und umfasst 624 Seiten.
Konstantin Stein ist ein mäßig erfolgreicher Filmemacher. Als sein Vater, ...

Alexander Osangs Familienroman „Die Leben der Elena Silber“ ist im August 2019 im Fischer Verlag erschienen und umfasst 624 Seiten.
Konstantin Stein ist ein mäßig erfolgreicher Filmemacher. Als sein Vater, Claus, in ein Pflegeheim kommt, beginnt der Sohn, seine Familiengeschichte zu erforschen. Diese führt ihn zurück in das noch zaristische Russland, wo sein Urgroßvater einst als Revolutionär hingerichtet wurde. Für dessen Tochter, Elena, Konstantins Großmutter, beginnt damit ein neues Leben, das sie schließlich nach Deutschland führt und sich noch auf das Leben der heutigen Generation auswirkt.
Alexander Osang erzählt die gut ein Jahrhundert umfassende Geschichte dieser Familie auf verschiedenen Zeitebenen, wobei er auch anachronisch vorgeht: Die Begebenheiten in der Gegenwart werden immer wieder durch Phasen, die in der Vergangenheit spielen, unterbrochen. Dabei thematisiert er wichtige Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die deutsche und auch russische Geschichte betreffend: Russische Revolution, Aufbau und Leben in der UdSSR, Zweiter Weltkrieg, Kriegsende und Nachkriegszeit, die Gründung zweier deutscher Staaten und schließlich das Leben in der DDR. Zudem werden die verschiedenen Handlungsorte nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart dargestellt, wenn Konstantin zum Beispiel mit seinen Eltern nach Sorau, dem heutigen polnischen Żary, in die Niederlausitz reist, oder mit seinem Cousin zusammen in die Heimatstadt seiner Großmutter, nach Gorbatow im Oblast Nischni Nowgorod.
Blitzlichtartig werden bedeutsam Episoden aus dieser Familiengeschichte beleuchtet und sehr lebendig sowie plastisch geschildert; man hat beim Lesen fast das Gefühl, dabei zu sein. Insbesondere die letzten Kriegstage im ursprünglich deutschen Żary, der Einmarsch der Roten Armee, aber auch das Verschwinden von Konstantins Großvater, Robert Silber, haben mich sehr beeindruckt. Sicher regen solche Szenen auch dazu an, über die eigene Familiengeschichte nachzudenken – mir ging es beim Lesen jedenfalls so, da ich mit Erzählungen aus dieser Zeit groß geworden bin.
Ein weiteres Thema, das diesen Roman durchzieht, ist der Umgang mit den alternden Eltern, die man irgendwann einfach nicht mehr allein versorgen kann und die vielleicht irgendwann zu Pflegefällen werden. Hier habe ich vieles beim Lesen ebenfalls als sehr realitätsgetreu empfunden, sei es Konstantins Unverständnis für diesen letzten Schritt, sei es die Entwicklung seines Vaters selbst.
Osangs Sprache und Stil sind flüssig zu lesen. Zu Beginn eines jeden Kapitels sind Handlungsort und –zeit angegeben, weshalb es leicht fällt, sich trotz der verschiedenen Handlungsstränge zu orientieren. Zu Beginn des Romans gibt es eine Auflistung der Familienmitglieder sowie in der vorderen und hinteren Buchklappe eine Karte, auf der die Orte eingezeichnet sind, bzw. einen Familienstammbaum; auf beides habe ich beim Lesen immer wieder gerne zurückgegriffen, erleichtert es doch ebenfalls die Orientierung.
Das Cover zeigt einen Mädchenkopf mit einem geflochtenen Haarkranz von hinten, passt also sehr gut zu den unterschiedlichen Epochen sowie der Titelfigur, Elena Silber.
Insgesamt präsentiert Alexander Osang mit „Die Leben der Elena Silber“ eine eindrucksvolle Reise in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich flüssig und interessant lesen lässt, zum Nachdenken und ggf. Reflektieren der eigenen Familiengeschichte anregt, die aber auch viel Wissenswertes über diese Zeit zu bieten hat für diejenigen, die hier weniger bewandert sind. Ich kann dieses Buch jedenfalls als Lektüre wärmstens empfehlen.

Veröffentlicht am 05.08.2019

Eine vergnügliche Reise in die Kunst und das Hohenlohische

Die Kuh kennt keinen Feiertag
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Zum ersten Mal ermitteln Milka Mayr und Kommissar Paul Eichert in „Die Kuh kennt keinen Feiertag“ gemeinsam im Hohenlohischen. Dieser 317-seitige Regionalkrimi aus der Feder von Bernd Gunthers ist im März ...

Zum ersten Mal ermitteln Milka Mayr und Kommissar Paul Eichert in „Die Kuh kennt keinen Feiertag“ gemeinsam im Hohenlohischen. Dieser 317-seitige Regionalkrimi aus der Feder von Bernd Gunthers ist im März 2019 bei Gmeiner erschienen.
Milka Mayrs Kumpel und Kunstsachverständiger Max Holl stürzt ausgerechnet an ihrem 35. Geburtstag auf dem Weg zu ihr mit seinem Ultraleichtflugzeug ab. Vermutet die Polizei anfangs noch einen Unfall, so steht für Milka sogleich fest: Es muss sich um Mord handeln. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Mitschüler und mittlerweile „Kriminalhauptkommissar (A12!)“, Paul Eichert, nimmt Milka die Ermittlungen auf, die nicht zuletzt auch sie in Gefahr bringen.
Ich habe den Roman mit etwas gemischten Gefühlen beendet, wie ich gestehen muss.
Der Kriminalfall an sich ist logisch aufgebaut, es werden verschiedene Spuren gelegt, Motive und Verdächtige angeführt, sodass man als Leser/in bis zum Schluss miträtselt, was denn hinter den Ereignissen stecken mag. Auch die Auflösung an sich ist nachvollziehbar und teils überraschend. Allerdings gestalten sich die Ermittlungsarbeiten an sich eher zäh, was zum einen an den doch recht zahlreichen Nebenschauplätzen liegt, zum anderen an den Protagonist/innen selbst, vor allem am Kommissar selbst, der sich allzu oft das Ruder von Milka aus der Hand nehmen lässt, was jeglichem Realitätssinn entbehrt.
Andererseits punktet der Krimi auf jeden Fall mit seiner guten Recherche: Als Leser/in taucht man tief in Landschaft und Besonderheiten der Region Hohenlohe ein, wenn Orte nicht nur besucht, sondern auch deren Geschichte dargestellt wird. Zudem gleicht die Reise durch diese Region einer kulinarischen, und ebenso sprachliche Eigenheiten kommen nicht zu kurz.
Ein weiterer Pluspunkt dieses Buches sind die sehr anschaulichen Informationen des Autors zum Themenkomplex Bildende Kunst, Kunsthandel und Kunstfälschung. Leserinnen und Leser erfahren viel über verschiedene Kunstströmungen, den Umgang mit „entarteter Kunst“ im Dritten Reich sowie die Schattenseiten des Kunsthandels.
Menschen, die sich für diese beiden Sujets interessieren, werden also voll auf ihre Kosten kommen.
Sprachlich ist das Werk gerade anfangs recht anspruchsvoll zu lesen, da Gunthers viele Schachtelsätze sowie ungewöhnliche Ausdrücke verwendet, was den Lesenden doch Einiges an Konzentration abverlangt und bestimmt nicht jedermanns Sache ist. Erst im Laufe des Romans werden die Sätze etwas überschaubarer. Aufgrund des Satzbaus und der Lexik erscheinen auch einige Dialoge, vor allem zwischen Milka und Paul, eher gestelzt. Dieses hatte auch zur Folge, dass es mir beim Lesen schwerfiel, das genaue Verhältnis der beiden zueinander zu eruieren. Kommt man allerdings mit diesem Sprachstil zurecht, kann man durchgängig einen feinen Humor ausmachen, der die Lektüre auch zu einem heiteren Lesevergnügen werden lässt.
Die Protagonist/innen und sonstigen Charaktere sind detailliert geschildert; jedoch erscheint mir Milka für ihre 35 Jahre doch ein wenig unreif, was nicht zuletzt mit ihrem familiären und beruflichen Hintergrund zusammenhängen mag. Klug scheint sie allemal zu sein, doch täte es ihr gut, ihren Horizont ein wenig zu erweitern, aus dem häuslichen Umfeld herauszutreten. Desgleichen wünsche ich dem Kommissar, dass er mehr Durchsetzungsvermögen entwickelt.
Das Cover ist für alle Kuhfans eine Augenweide und passt sehr gut zum Titel des Buches, der sich auch im Inhalt widerspiegelt, wenn Milka zwischen Arbeit im Kuhstall und Ermittlungen hin- und herpendelt.
Als Krimi hat mir der Roman eher weniger zugesagt, als Reise in die Welt der Kunst und das Hohenlohische allerdings hat er mir einige vergnügliche und lehrreiche Lesestunden bereitet, weshalb ich insgesamt dreieinhalb von fünf Lesesternen vergebe. Und auf jeden Fall bin ich gespannt darauf, wie Milka und Paul sich weiterentwickeln.

Veröffentlicht am 04.08.2019

Alles nur ein Spaß?

R.I.P.
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Bei Yrsa Sigurdardóttirs Thriller „R.I.P.“ handelt es sich um den dritten Fall für Kommissar Huldar und Psychologin Freyja; er ist im Juni 2019 bei btb erschienen und umfasst 448 Seiten.
Die 16-jährige ...

Bei Yrsa Sigurdardóttirs Thriller „R.I.P.“ handelt es sich um den dritten Fall für Kommissar Huldar und Psychologin Freyja; er ist im Juni 2019 bei btb erschienen und umfasst 448 Seiten.
Die 16-jährige Stella wird im Kino brutal ermordet. Und: Sie musste vor ihrem Tod ihren Peiniger um Verzeihung bitten. Doch wofür? Als Huldar und Freyja sich auf die Jagd nach dem Täter machen, wird bald ein zweiter Jugendlicher vermisst. Langsam stellen sich Zusammenhänge heraus, die die beiden Ermittelnden vermuten lassen, dass es nicht bei diesen Vorfällen bleiben wird. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.
Der Thriller ist an sich, typisch nordisch, spannend und brutal zu lesen, hat allerdings doch einige Schwächen. So wirkt die Auflösung des Falles für meinen Geschmack zu konstruiert: Zwar ist das Motiv an sich schlüssig, doch fragt man sich am Ende, wie weit Selbstjustiz eigentlich gehen kann. Die offenen Aspekte des Endes schließen eine Fortsetzung der Reihe nicht aus.
Des Weiteren ist zwar von Anfang an ein Spannungsbogen vorhanden, doch gibt es zu Beginn und in der Mitte einige Längen, die vor allem aus den privaten Animositäten und Gesprächen innerhalb des Ermittlungsteams resultieren.
Das Thema, das diesem Roman zugrunde liegt, ist brisant und hochaktuell: Cybermobbing und –bullying sowie, damit verbunden, soziale Netzwerke. Wie weit diese reichen, wozu (nicht nur) Jugendliche imstande sind, wird in diesem Werk klar dargelegt, ebenso dass Mobbing an sich kein neues Phänomen darstellt. Nur die Methoden und Möglichkeiten ändern sich eben. Doch nicht nur im Fall selber begegnet den Leser/innen dieses Problem, auch die Ermittlungen selbst werden davon überschattet, sei es, dass Huldar Probleme mit seiner Chefin hat, sei es, dass Freyja mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert wird. Ob dies gute Voraussetzungen sind, einen Fall zu lösen, würde ich in der Realität hinterfragen, im Buch klappt es jedoch.
Obwohl ich mit diesem dritten Teil neu in die Reihe eingestiegen bin, hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, dem Geschehen zu folgen, da die wichtigsten Informationen über die Protagonisten in den neusten Band eingeflochten wurden. Lediglich über das Verhältnis zwischen Huldar und Erla hätte ich am Anfang gern etwas mehr erfahren, vor allem da ihre Vorgeschichte doch sehr die aktuellen Ermittlungsarbeiten beeinflussen.
Sprachlich lässt sich dieser Thriller flott und fließend lesen. Mehrmals wird die Handlung durch Einträge in einen Blog unterbrochen, was beim Lesen hilft, sich in die Rolle der Gemobbten hineinzuversetzen und für Abwechslung beim Lesen sorgt.
Insgesamt handelt es sich bei „R.I.P.“ um einen spannenden Thriller, der in einem Rutsch gelesen werden will, der mich aber aufgrund der oben erwähnten Schwächen nicht völlig überzeugen konnte. Ein Buch, das sich gut lesen lässt - mehr aber eben auch nicht.

Veröffentlicht am 26.07.2019

Die Gräuel der Welt geballt und poetisch in Szene gesetzt. Ein grausam schönes Buch.

Die Kinder des Borgo Vecchio
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In seinem Roman „Die Kinder des Borgo Vecchio“, der im Juli 2019 im Aufbau Verlag erschien, stellt Giosuè Calaciura auf knapp 160 Seiten die Erbarmungslosigkeit der Welt am Beispiel des alten palermischen ...

In seinem Roman „Die Kinder des Borgo Vecchio“, der im Juli 2019 im Aufbau Verlag erschien, stellt Giosuè Calaciura auf knapp 160 Seiten die Erbarmungslosigkeit der Welt am Beispiel des alten palermischen Stadtviertels „Borgo Vecchio“ dar. Im Jahre 2017 erhielt der Autor für dieses Werk den „Premio Volponi“, einen italienischen Literaturpreis, der für besonderes bürgerliches Engagement verliehen wird.
Menschen, die im Borgo Vecchio leben, haben es schwer im Leben. So auch Mimmo, Cristofaro und Celeste, die schon in jungen Jahren vom Leben gebeutelt sind, von ihren Eltern geschlagen und vernachlässigt werden. Doch trotz allem träumen sie von einer besseren Zukunft und erhoffen sich Hilfe von Totò, dem Verbrecher und vermeintlichen Halbgott des Viertels. Doch sie ahnen nicht, dass auch er von einer besseren Welt träumt …
Das Borgo Vecchio selbst ist als Mekka des Bösen und der Grausamkeit dargestellt: Kleine, verwinkelte Gassen bieten eine Zuflucht für Kriminelle. Die Bewohner/innen verschließen ihre Augen vor der Brutalität von Cristofaros Vater und rotten sich nur zusammen, wenn die Ordnungshüter versuchen, das Chaos in den Griff zu bekommen. Behinderte werden wie Vieh gehalten, ja selbst der Geistliche des Viertels macht, gezwungen oder nicht, gemeinsame Sache mit den Ganoven. In dieser Welt aufzuwachsen, verlangt den Jugendlichen viel ab, doch nehmen sie kleine Attraktionen zum Anlass, der Welt zu entfliehen, z.B. das Auftauchen des abgehalfterten Pferdes Nanà, das als erfolgreiches Rennpferd Glanz in dieses Leben bringen soll; auch an anderen Stellen wird deutlich, dass die Kinder nicht von Grund auf schlecht sind. Leider macht das Schicksal den Einwohner/innen, teilweise selbst verschuldet (wenn Totò z.B. die Hure Carmela und ihre Tochter Celeste mittels Hochzeit aus dem Elend herausholen will, das neue Leben aber mithilfe von Diebstählen beginnen will), teilweise aber auch ohne eigenes Zutun, immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Und auch wenn das Buch selbst keine befriedigende Lösung der Torturen bietet, erscheint am Ende ein kleiner Hoffnungsfunke, wenn auf der Flucht im „Osten der (…) morgendliche Schimmer eines neuen Tages zu sehen“ ist.
Zart besaitete Leser/innen werden beim Lesen wahrscheinlich das eine oder andere Mal an ihre Grenzen stoßen, wenn z.B. Nanà die Rennen nur gewinnt, weil ihr Besitzer ihr vorher einen „rosenförmigen Dornensporen (…) in den Anus rammte“. Jedenfalls steht die bildhafte, ja poetische Sprache, der sich der Autor bedient, wenn er z.B. den Brotduft durch das Viertel ziehen lässt, in einem eklatanten Gegensatz zum Geschilderten selbst; dieses macht einen großen Teil des Reizes dieses Werkes aus und lässt die Brutalität umso abscheulicher erscheinen.
Fantasie, Traum, Realität, Rückblenden und fantastische Elemente, die als Metaphern zu verstehen sind, wechseln einander ab und fordern von Leserinnen und Lesern viel Konzentration, um dem Geschehen folgen zu können. Auffällig und ebenfalls eine Herausforderung sind die zahlreichen biblischen und christlichen Motive sowie Symbole, die den gesamten Roman durchziehen; von ihnen sollen hier nur das Judas- oder Schutzmantelmadonna-Motiv, Oster- und Weihnachtssymbolik sowie die „sprechenden“ Namen der Protagonist/innen als die Bekanntesten Erwähnung finden.
Ob die Welt wirklich so bestialisch ist oder sein muss, wie über weite Strecken dargestellt, und ob der Mensch nicht doch das Seinige dazutut, wie an manchen Stellen zu erahnen ist, ist eine Frage, die sich beim Lesen dieses Romans immer wieder stellt. Auf jedem Fall ist es dem Autor sehr eindrucksvoll gelungen, mich wieder einmal zum Nachdenken über das Böse in der Welt und die Hoffnung zu bewegen. Von mir erhält das Buch vier von fünf Lesesternen, allerdings sollte man sich beim Lesen der Schwere der Lektüre bewusst sein. Ein Buch, das einige Ansprüche stellt, jedoch auch viel zu sagen hat.