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Veröffentlicht am 14.04.2022

Menschliche und tierische Urgewalt

Wo die Wölfe sind
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Warum sollte sich die Umwelt renaturieren lassen, nur weil wieder Wölfe angesiedelt werden? Inti Flynn und ihr Team haben im schottischen Hochland mit ihrem Wolfsprojekt keinen guten Stand bei den Einheimischen. ...

Warum sollte sich die Umwelt renaturieren lassen, nur weil wieder Wölfe angesiedelt werden? Inti Flynn und ihr Team haben im schottischen Hochland mit ihrem Wolfsprojekt keinen guten Stand bei den Einheimischen. Von argwöhnisch bis aggressiv reichen die Reaktionen der Farmer und das Team fürchtet um jeden einzelnen Wolf, der ausgewildert wird. Intis ruppige Art, ihr Misstrauen gegenüber den Menschen im allgemeinen und ihre unterdrückte Sympathie für den Polizeichef machen die Arbeit nicht einfacher. Als einer der größten Widersacher des Projektes spurlos verschwindet, richtet sich der Verdacht sofort gegen die Wölfe. Zu Recht?

Es ist schon viel über das Buch geschrieben worden. Neben den wirklich interessanten und erschütternden Umweltaspekten, ist die Schilderung der Mirror-Touch-Synästhesie, unter der Inti leidet (einer sehr stark ausgeprägten emotionalen Empathie), ein absolut spannendes Feld. Diese Empathie geht so weit, dass die Protagonistin körperlich fühlt, was sie an ihrem Gegenüber beobachtet; von einfachen Berührungen bis zur Schmerzen, dabei ist es unerheblich, ob das Gegenüber ein Mensch oder ein Tier ist. Das macht ihre Arbeit mit Wölfen so besonders.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Es hat mich an manchen Stellen erschüttert, sehr stark berührt und zu Tränen gerührt. Allerdings gab es auch einige Szenen, die sich gezogen haben. Der Autorin wird eine große Sprachgewalt zugesprochen und dem kann ich nur zustimmen. Als Leser:in wird man völlig in die Geschichte eingesogen und klebt an den Figuren. "Zugvögel" habe ich nicht gelesen und kann daher keinen Vergleich anstellen. "Wo die Wölfe sind" kann ich aber absolut empfehlen, allerdings werden wieder einmal menschliche Abgründe aufgezeigt, die sich so aus dem Klappentext nicht ableiten lassen. Ein Roman, der zum Nachdenken anregt, über die Natur, die Tiere und die Menschen.

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Veröffentlicht am 31.03.2022

Schlaflosigkeit, Narkose und Tagebücher

Eine Art Familie
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Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren ...

Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren der beiden Weltkriege, die Teilung Deutschlands und die Errungenschaften der Pharmakologie.

In kurzen Kapiteln und kleinen Szenen wird das Leben von Waisenkind Alma, die ihren Patenonkel Professor Lud Lendle ebenso heimlich liebt, wie sie heimlich seine Tagebücher liest, ebendiesem und dem Fräulein mit den geschichtlichen Ereignissen in Deutschland höchst geschickt verflochten. Dabei schimmert vieles oft nur durch, wird angedeutet oder in einem Nebensatz "versteckt". Die Dialoge und Gedanken der Personen werden eher nüchtern dargestellt, allerdings hat der Autor einen ganz eigenen Ton gefunden. Oft kurze, knackige Sätze, durchsetzt mit Witz und Ironie, Melancholie und treffenden Beschreibungen. Das liest sich fast durchgängig ganz leicht, verleitet aber dazu, die vielen klugen Sätze zu schnell zu lesen.

"Die Zeit flatterte an ihm vorüber, während er selbst stehen zu bleiben schien. Sein Leben, so viel war ihm mittlerweile klar, würde langsamer verstreichen, wenn er mehr erlebte. Dafür aber hätte man sich getrauen müssen, das Leben auf sich wirken zu lassen. Sich herzuschenken, es so tief zu inhalieren, dass es einen berührte. Er dagegen atmete flach hindurch." (S. 178)

Lud ist fasziniert vom Schlaf und fokussiert seine Forschungstätigkeit ganz auf den künstlichen Schlaf, die Narkose. So lenkt er sich ab, von der Person, an die er immer wieder denken muss. Alma sucht derweil im Wald, was sie von Lud nicht bekommen kann. Dann gibt es noch Luds Bruder Wilhelm und dessen Familie, aber dem Professor ist seine kleine WG näher. Am Küchentisch wird über Jahrzehnte politisches, persönliches und wissenschaftliches Geschehen diskutiert.

Erstaunlicherweise hatte ich bisher nichts von diesem Buch gehört. Wenn man sich ein wenig in diesen besonderen Sprachstil eingelesen hat, ist es ein Vergnügen. Ich wünsche dem Buch von Herzen noch viele Leser*innen.

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Veröffentlicht am 28.03.2022

Auf dem schlüpfrigen Parkett der Politik

Rheinblick
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Die SPD hat mit großer Mehrheit die vorgezogenen Bundestagswahlen 1972 gewonnen, der beliebte Willy Brandt tritt seine zweite Amtszeit an. In Bonn brodelt es auf dem politischen Parkett. Es geht um Posten ...

Die SPD hat mit großer Mehrheit die vorgezogenen Bundestagswahlen 1972 gewonnen, der beliebte Willy Brandt tritt seine zweite Amtszeit an. In Bonn brodelt es auf dem politischen Parkett. Es geht um Posten und Pöstchen, um Intrigen, kleine und große Geheimnisse. Vor diesem Hintergrund agiert Hilde Kessel, die das Restaurant Rheinblick gegenüber vom Bundestag betreibt und die tägliche Politik hautnah miterlebt. In einer Bonner WG lebt die Krankenschwester Sonja, die unversehens ebenfalls mit dem aktuellen politischen Geschehen in Kontakt kommt - und zwar mit dem Kanzler selbst. Die wichtigen Koalitionsverhandlungen stehen an und Willy Brandt kann nicht daran teilnehmen. Wer steht auf seiner Seite und wer denkt nur an das eigene Vorankommen in Bonn?

"Bühlerhöhe" von Brigitte Glaser habe ich sehr gern gelesen. Mit "Rheinblick" habe ich mich schwerer getan. Die Gegensätzlichkeit der Schauplätze von Politiker-Restaurant und Studenten-WG (inklusive Taxi fahrendem Mitbewohner) ist geschickt gewählt, so können viele damals aktuelle Themen angesprochen werden. Das ist durchaus interessant, allerdings waren mir insgesamt die politischen Rangeleien an Hildes Tresen zu viel. Es gab dadurch durchaus Längen im Roman. Da half auch der eingestreute Mord nicht, um eine durchgehende Spannung zu erzeugen.

Der Schreibstil von Glaser hat mir gut gefallen und die Fakten sind wunderbar in die fiktive Geschichte um Hilde und Sonja eingeflochten. Die Figuren und ihre Probleme sind glaubhaft, allerdings bleiben Sonja und Hilde für mich etwas blass. Die Verbindung zwischen Sonja und Willy Brandt erschien mir zudem etwas konstruiert. Max und Konrad aus der WG haben mir besser gefallen und waren mir irgendwie näher.

Überzeugend der Anhang: Soundtrack, Literaturverzeichnis und Glossar.

Insgesamt ein Einblick in die interessante Politikgeschichte von 1972, gut recherchiert und geschrieben, allerdings mit Längen. Wer sich vor dem Geklüngel zwischen SPD und CDU an Hildes Tresen nicht fürchtet, den erwartet eine durchaus unterhaltsame Zeitreise.

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Veröffentlicht am 25.03.2022

Wie die Welt langsam verschwindet

Insel der verlorenen Erinnerung
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Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung ...

Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung daran. Es ruft keine Gefühle hervor, wenn Glöckchen, Bänder oder Briefmarken, Rosen, bestimmte Tiere oder gar Fotografien verschwinden. Nur wenige haben die Fähigkeit, die Erinnerung an diese verschwundenen Dinge zu bewahren. Diese Menschen sind das erklärte Ziel der Erinnerungspolizei, die immer häufiger, öffentlicher und brutaler auf die Suche nach diesen Personen geht. Wer Glück hat, findet einen Mutigen, der ihn versteckt. So findet der Verleger R Unterschlupf bei einer seiner Autorinnen, die bereits ihre Mutter an die Erinnerungspolizei verloren hat. Unaufhaltsam werden die Dinge auf der Insel weniger, das Überleben schwieriger.

In einer sehr poetischen, sanften, leisen und höflichen Sprache werden diese schlimmen Ereignisse, denen sich die Menschen scheinbar willenlos fügen, von der Protagonistin, eben jener namenlosen Romanautorin, aus der Ich-Perspektive erzählt. Die handelnden Charakter sind übersichtlich. Es sind drei Personen, die die Geschichte tragen. Neben der Autorin und ihrem Verleger gibt es noch einen alten Mann, der den beiden anderen hilft und mir während des Lesens besonders ans Herz gewachsen ist. Die Lebensumstände verarbeitet die Protagonistin in ihren Romanen. Ihre Texte sind Metafiktion in Ogawas Roman. Diese Textpassagen sind zunächst banal, entwickeln sich aber in eine bedrohliche Richtung, die immer mehr die Realität abbilden.

Die Geschichte handelt vom Verschwinden und Erinnern, vom Eingesperrtsein und der Hoffnung. Anspielungen finden sich nicht nur auf die NS-Diktatur, sondern auch z.B. auf "1984" von Orwell. Ogawas Roman läßt einen verstört zurück, regt aber auch unbedingt zum Nachdenken an. Nichts für ein lauschiges Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 19.03.2022

Mauerbau, Stufenbarren und Pressefotografie

Lebenssekunden
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Zwei Teenager im Jahre 1956, die für jeweils eine Sache brennen: Angelika wünscht sich nichts mehr, als Pressefotografin zu werden. Ihr Weg in diese Männerdomäne ist mit harten Rückschlägen verbunden. ...

Zwei Teenager im Jahre 1956, die für jeweils eine Sache brennen: Angelika wünscht sich nichts mehr, als Pressefotografin zu werden. Ihr Weg in diese Männerdomäne ist mit harten Rückschlägen verbunden. Schließlich schafft sie den Sprung vom beschaulichen Kassel ins pulsierende West-Berlin. Christine ist mit Leib und Seele seit Kindertagen Kunstturnerin. Das strenge DDR-Regime verlangt ihr viel ab und nimmt sie schließlich in den Kader für die Olympischen Spiele auf. Geht mit dem Einzug ins Sportinternat für sie ein Traum in Erfüllung? Derweil schwelt der Kalte Krieg über den privaten Schicksalen in Ost und West und die DDR beginnt 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer. Der letzte freie Übergang in den Westen wird verschlossen.

Hier fließen anschaulich und fesselnd aufbereitete Zeitgeschichte und zwei faszinierende Fachbereiche zusammen und bilden einen Roman, der inhaltlich für zwei gereicht hätte. Die Geschichten der jungen Frauen sind zum einen Ausnahmelebensläufe, zum anderen stehen sie aber auch stellvertretend für die Zeit und Politik zwischen Wirtschaftswunder und Mangelwirtschaft. Die Einblicke in die Welt der Fotografie und des Leistungsturnens habe ich als sehr interessant empfunden. Wer jedoch gar nichts damit anfangen kann, mag an einigen Stellen des Romans Längen finden.

Katharina Fuchs hat sich durch das Leben der bekannten Pressefotografin Barbara Klemm zur Figur ihrer Angelika inspirieren lassen. Klemm ist u.a. bekannt für ihre Aufnahmen bedeutsamer politischer Ereignisse, die sie aus einem ganz eigenen Blickwinkel gemacht hat. Ihre Fotos erzählen Geschichten. Diesen Aspekt hat Fuchs ihrer Figur ganz wunderbar mitgegeben. Insgesamt sind die Charaktere glaubhaft und bis in die Nebenrollen berührend beschrieben.

Der Roman las sich für mich sehr spannend und flüssig. Der Schreibstil von Katharina Fuchs hat mir sehr gut gefallen, jede Szene lief wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. Ein Schmöker voller Zeitgeschichte und Schicksal, den ich sehr empfehlen kann.

Erscheint am 1. April 2022 als Taschenbuch.

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