Schlaflosigkeit, Narkose und Tagebücher
Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren ...
Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren der beiden Weltkriege, die Teilung Deutschlands und die Errungenschaften der Pharmakologie.
In kurzen Kapiteln und kleinen Szenen wird das Leben von Waisenkind Alma, die ihren Patenonkel Professor Lud Lendle ebenso heimlich liebt, wie sie heimlich seine Tagebücher liest, ebendiesem und dem Fräulein mit den geschichtlichen Ereignissen in Deutschland höchst geschickt verflochten. Dabei schimmert vieles oft nur durch, wird angedeutet oder in einem Nebensatz "versteckt". Die Dialoge und Gedanken der Personen werden eher nüchtern dargestellt, allerdings hat der Autor einen ganz eigenen Ton gefunden. Oft kurze, knackige Sätze, durchsetzt mit Witz und Ironie, Melancholie und treffenden Beschreibungen. Das liest sich fast durchgängig ganz leicht, verleitet aber dazu, die vielen klugen Sätze zu schnell zu lesen.
"Die Zeit flatterte an ihm vorüber, während er selbst stehen zu bleiben schien. Sein Leben, so viel war ihm mittlerweile klar, würde langsamer verstreichen, wenn er mehr erlebte. Dafür aber hätte man sich getrauen müssen, das Leben auf sich wirken zu lassen. Sich herzuschenken, es so tief zu inhalieren, dass es einen berührte. Er dagegen atmete flach hindurch." (S. 178)
Lud ist fasziniert vom Schlaf und fokussiert seine Forschungstätigkeit ganz auf den künstlichen Schlaf, die Narkose. So lenkt er sich ab, von der Person, an die er immer wieder denken muss. Alma sucht derweil im Wald, was sie von Lud nicht bekommen kann. Dann gibt es noch Luds Bruder Wilhelm und dessen Familie, aber dem Professor ist seine kleine WG näher. Am Küchentisch wird über Jahrzehnte politisches, persönliches und wissenschaftliches Geschehen diskutiert.
Erstaunlicherweise hatte ich bisher nichts von diesem Buch gehört. Wenn man sich ein wenig in diesen besonderen Sprachstil eingelesen hat, ist es ein Vergnügen. Ich wünsche dem Buch von Herzen noch viele Leser*innen.