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Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein Leben zwischen Kopenhagen und Paris

Annas Lied
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Koppel erzählt in Teilen die Lebensgeschichte seiner Großtante Anna, die nach dem 2. Weltkrieg von Dänemark nach Frankreich ging. Neben den Fakten ist der Roman aber auch mit viel Fiktion gefüllt.

Hannah ...

Koppel erzählt in Teilen die Lebensgeschichte seiner Großtante Anna, die nach dem 2. Weltkrieg von Dänemark nach Frankreich ging. Neben den Fakten ist der Roman aber auch mit viel Fiktion gefüllt.

Hannah Koppelmann lebt in Kopenhagen mit ihren vier hoch musikalischen Brüdern und den Eltern, die eigentlich nach Amerika wollten, denen aber in Dänemark das Geld ausging. Die jüdische Familie lebt ein geselliges Leben mit zahlreichen Verwandten und Freunden. Bruche, die dominante Mutter, hält viel auf Tradition und bricht schier zusammen, als alle Söhne keine konventionelle jüdische Ehe eingehen. Alle Hoffnungen ruhen nun auf Hannah, die sich aber auch bereits verliebt hat und deren Traum es ist, Konzertpianistin zu werden.

Der erste Teil des Romans bis zum Kriegsende hat mir sehr gefallen. Das Familienleben, die hysterische Mutter (erinnert sehr an Mrs. Bennet), die Flucht nach Schweden und Hannah, die einen sehr selbstbewußten Eindruck macht. Das ändert sich jedoch im zweiten Teil der Geschichte, der in Frankreich spielt und Hannahs weiteres Leben erzählt. Hier ging es mir in der Handlung zu rasch, Teile der Geschichte schienen irgendwie zu fehlen und mit Hannahs Verhalten konnte ich wenig anfangen. Am schlimmsten war die Aussprache mit ihrer alten Mutter, die ja nur das Glück ihrer einzigen Tochter im Sinn hatte, aber die Söhne, deretwegen sie einst fast viermal gestorben wäre, waren nun die Helden, die besten aller Söhne und überhaupt. Das hat mich wirklich betroffen gemacht. Auch wenn das Ende etwas Versöhnliches hatte, stand mir immer das Wort "Vergeudung" vor Augen.

Insgesamt ein Roman, der die Lebensgeschichte einer jüdischen Frau von 1929 bis 2019 mit allen Höhen und Tiefen nachzeichnet. Der Roman läßt sich sehr gut lesen, hat mir im zweiten Teil aber nicht mehr so gut gefallen, aber das ist ja immer subjektiv. In jedem Fall einmal eine interessante Perspektive auf die NS- und Kriegszeit. Bei "Melnitz", den ich vorher gelesen hatte, aus der sicheren Schweiz heraus, hier aus dem besetzten Dänemark.

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Veröffentlicht am 23.07.2024

Die unbekannte Schöne

Clarice Lispector
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Die brasilianische Autorin Clarice Lispector (sprich: Clarissi); 1920-1977) galt aufgrund ihrer herausfordernden Persönlichkeit, ihres unkonventionellen Schreibstils und nicht zuletzt wegen ihres außergewöhnlichen ...

Die brasilianische Autorin Clarice Lispector (sprich: Clarissi); 1920-1977) galt aufgrund ihrer herausfordernden Persönlichkeit, ihres unkonventionellen Schreibstils und nicht zuletzt wegen ihres außergewöhnlichen Aussehens als mysteriöse Person. Ihren Debütroman „Nahe dem wilden Herzen“ habe ich gelesen, allerdings nicht mit Vergnügen. Ihr zweites Buch „Der Lüster“, habe ich nach 60 Seiten abgebrochen. Benjamin Moser schreibt dazu: „Obwohl darin [Der Lüster] in langen Abschnitten vorgeblich Ereignisse beschrieben werden, bestehen diese fast ausschließlich aus inneren Monologen, die nur von gelegentlichen dissonanten Dialog- oder Handlungsfetzen unterbrochen werden. […] Zwischen diesen Erleuchtungen muss der Leser auf langen Durststrecken den inneren Entwicklungen einer anderen Person in mikroskopischem Detail folgen.“ (S. 191) Dazu war ich gerade nicht bereit. Das Wort „Frustration“ (S. 197) fällt, wenn es darum geht, die Inhalte von Lispectors Romanen zusammenfassen zu wollen. Selbst die Übersetzung ihrer Text sei eine Herausforderung (S. 262), da versucht werde, etwas zu glätten, was gerade ihre Sprache ausmache.

Obwohl die Biografie auch ihre Längen hat - Moser geht schon sehr ins Eingemachte und interpretiert gerne - ist sie ohne Zweifel für das Lesen von Lispectors Texten sehr, sehr erhellend. Clarices Familie flüchtete 1920/21 nach Pogromen aus der Ukraine nach Brasilien und hatte zuvor Schreckliches erlebt. Die Mutter starb schließlich an den Folgen und dieser Verlust in jungen Jahren findet sich nahezu im gesamten Werk der Autorin wieder. Lispector hat ein interessantes Leben geführt, war Diplomatengattin und hat auf der ganzen Welt gelebt. Sie war mit den Intellektuellen ihres Landes eng verbunden und demonstrierte gegen die Regierung.
Moser breitet das Leben u.a. anhand von zahlreichen privaten Dokumenten von Familie und Freunden aus, was einen tiefen Einblick in das Innenleben der Autorin gewährt und aufzeigt, welche Motive durch welche Ereignisse beeinflusst wurden. Daneben werden die Verflechtungen mit Politik, anderen Autor:innen, Verlagen und Weggefährt:innen dargestellt. Mir war es oft einfach zu verwickelt, da ich z. B. fast alle Namen der brasilianischen Intellektuellen nicht kannte; alles en détail zu beschreiben, war ich aber schon von der Biografie, die Moser über Susan Sontag geschrieben hat, gewöhnt.
Insgesamt eine interessante Biografie, einer mir bis vor kurzem nur dem Namen nach bekannten Autorin. Extrem detailreich, durch kurze Kapitel dennoch gut lesbar, wenn man die 532 Seiten inklusive Anmerkungsapparat durchhält. Unverzichtbar sind die weiteren Anhänge: Karten der Westukraine und Brasiliens, ein Familienstammbaum, umfangreiche Fotoseiten und Literaturangaben, dazu Namen- und Ortsregister.
Wer die Autorin entdecken möchte, sollte tatsächlich zuerst die Biografie und dann ihre Werke - vielleicht nicht gerade „Der Lüster“ - lesen.

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Veröffentlicht am 19.06.2024

Mobbing auf Japanisch

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
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In der japanischen Gesellschaft hat die Gruppenkultur einen hohen Stellenwert. Mitglieder einer Gruppe teilen eine Meinung und halten sich an die Regeln. Wer davon abweicht, wird ausgeschlossen. Hilfe ...

In der japanischen Gesellschaft hat die Gruppenkultur einen hohen Stellenwert. Mitglieder einer Gruppe teilen eine Meinung und halten sich an die Regeln. Wer davon abweicht, wird ausgeschlossen. Hilfe von anderen Gruppenmitgliedern ist nicht zu erwarten, um nicht selbst ausgeschlossen zu werden. Dieses Phänomen ist als Mobbing auch bei uns bekannt, in Japan ist es aber in einer viel stärkeren Form vertreten und treibt jährlich zahlreiche Kinder und Jugendliche in den Selbstmord.


In exakt dieser Situation befindet sich Tsukuru Tazaki, als er in den Sommerferien seines zweiten Studienjahrs in seine Heimatstadt zurückkehrt und sich seine vier engsten Freund*innen von ihm abwenden. Ohne Vorwarnung brechen sie jeden Kontakt zu ihm ab und ein halbes Jahr lang ist der verzweifelte Tazaki dem Selbstmord nahe. Er überwindet die Krise ohne je zu erfahren, was das Verhalten der anderen ausgelöst hat. Als er 16 Jahre später seiner Freundin Sara von diesem Vorfall erzählt, besteht sie darauf, dass Tsukuru der Sache auf den Grund gehen solle, denn dieser Ausschluss stecke immer noch in ihm.


Das Grundgerüst der Geschichte ist schnell erzählt, aber es passiert so viel mehr - auch vieles, das man gar nicht einordnen kann. Und das hat es mir mit meinem ersten Murakami schwer gemacht. Die Alltagskultur in Japan mit ihren vielen möglichen Fallstricken ist mir nicht bekannt und die japanische Literatur mit ihren Eigenheiten ebenso wenig. Ich habe mir ganz viele Stellen mit Post-its markiert, die mir bedeutsam erschienen, aber wenig davon ist irgendwie aufgelöst worden. Es wird unheimlich viel nicht auserzählt und das betrifft auch ganz zentrale Fragen der Geschichte. Das läßt natürlich auf der anderen Seite viel persönlichen Interpretationsraum, aber es hat mich nicht "glücklich" gemacht. Ich kann verstehen, dass der Autor mit seinen Büchern, die philosophische Fragen aufwerfen, kafkaeske Elemente und oft surrealistische Parallel- oder Traumwelten enthalten, ein treues Publikum hat. Zudem ist seine Sprache sehr leicht zu lesen, sie ist weder hochgestochen noch kompliziert. Ich musste mir jedoch in der Sekundärliteratur anlesen, dass Murakami zunächst begann, seine Romane auf Englisch zu schreiben, was er nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrscht, und dann ins Japanische zurückübersetzt hat. So ist sein ganz besonderer, reduzierter Schreibstil entstanden. Mir kamen die Dialoge zum Beispiel sehr hölzern und frei von Gefühlen vor, so würde hier niemand sprechen. Ob das aber gerade den extrem höflichen Umgangston in Japan abbildet, kann ich auch nicht beurteilen.


Nicht nur ich tue mich damit schwer, Murakami zu verstehen, auch die Literaturkritikelite ist sich uneinig und versucht oft, den japanischen Erfolgsautor an westlichen Literaturwerten zu messen, was scheitern muss. Bekanntestes Beispiel dafür ist der Weggang von Frau Löffler aus dem Literarischen Quartett aufgrund der Besprechung eines Murakami-Romans.


Letztlich kann ich nur empfehlen, einen Selbstversuch zu starten und einfach ein Buch des Autors zu lesen, sich aber gleichzeitig ein wenig mit der japanischen Literatur insgesamt zu beschäftigen. Geschichten werden in Japan anders erzählt, das sollte man wissen. Man muss und kann nicht alles mögen und ich meine, man darf auch einen Erfolgsautor "auslassen".

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Veröffentlicht am 01.04.2024

Harry Hole kämpft sich aus dem Alkoholnebel

Blutmond (Ein Harry-Hole-Krimi 13)
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Mit Blutmond bin ich erstmals in die Welt von Harry Hole abgetaucht. Da hat mich ein ganz schön abgewrackter Polizist erwartet, dessen erklärtes Ziel es ist, sich zu Tode zu trinken und das nicht irgendwo ...

Mit Blutmond bin ich erstmals in die Welt von Harry Hole abgetaucht. Da hat mich ein ganz schön abgewrackter Polizist erwartet, dessen erklärtes Ziel es ist, sich zu Tode zu trinken und das nicht irgendwo in Norwegen, sondern in LA. Dort rutscht er in eine Situation hinein, in der es um Leben und Tod und fast eine Million Dollar geht. (Das war insgesamt ein bisschen drüber ...) Diese Begebenheit ist aber notwendig, damit er sich als Privatermittler für einen unter Mordverdacht stehenden Millionär in Oslo anheuern läßt, der mittels Harry seine Unschuld beweisen möchte. Das ist erstmal die Ausgangssituation.

Natürlich erfährt man während der Handlung auch einiges über die vorherigen Fälle, anders geht es auch nicht. Allerdings sind dies oft entscheidende Informationen, daher ist es wohl ratsam, die Serie von Beginn an zu verfolgen bzw. nicht erst so spät einzusteigen. Dennoch kann der Roman ohne weiteres für sich alleine gelesen werden, dann weiß man eben wer in Band 12 stirbt und wer der Täter ist.

Gefallen hat mir die Gruppe, die Harry um sich scharrt, um seine Ermittlungen zu betreiben. Da ist vom Drogendealer bis zum Todkranken alles dabei, die Teamtreffen werden im Krankenzimmer abgehalten. Das habe ich bisher auch noch nicht gelesen. Die Krimihandlung an sich war vielleicht etwas sehr gestreckt (immerhin 542 Seiten), hatte aber durchaus spannende Momente. Es besteht natürlich Zeitdruck bei der Mördersuche und es gibt einige falsche Fährten. Das reicht für mich aber nicht, um die vorherigen Bände auch zu lesen. Für eingefleischte Harry Hole-Fans, die den Charakter schon lange begleiten, dürfte es aber ein ziemlicher Leckerbissen gewesen sein, weil Harry nun wieder besser in Form und zurück in Oslo ist. Zudem endet der Band mit einem Cliffhanger, der schon Interesse für den nächsten Teil zu wecken vermag.

Jo Nesbø scheint übrigens kein Freund des Edvard-Munch-Museums in Oslo zu sein, das kommt nämlich an zwei Stellen im Buch ziemlich schlecht weg: "Wir nennen es Tschernobyl. Nicht vielen Architekten gelingt es, einen ganzen Stadtteil mit einem einzigen Gebäude zu zerstören, aber der hier hat das geschafft, das muss man ihm lassen." (S. 232) BTW das Gebäude möchte ich auch nicht vor der Haustür haben wollen.

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Veröffentlicht am 12.01.2024

Ein Cowboy im viktorianischen London

Die Frau in der Themse
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William Pinkerton, Sohn des berühmten Gründers der Pinkerton Detektei, sucht 1885 in London nach der Betrügerin Charlotte Reckitt. Gleichzeitig ist Adam Foole auf dem Weg zu ihr, beide verbindet eine gemeinsame ...

William Pinkerton, Sohn des berühmten Gründers der Pinkerton Detektei, sucht 1885 in London nach der Betrügerin Charlotte Reckitt. Gleichzeitig ist Adam Foole auf dem Weg zu ihr, beide verbindet eine gemeinsame kriminelle Vergangenheit. Da findet man einen abgetrennten Frauenkopf in der Themse und die Jagd nach dem Mörder beginnt.

Der Klappentext hörte sich so spannend an und der Roman versprach mit 900 Seiten einen opulenten und eleganten Krimi. Leider hat mich das Buch, das viel eher historischer Roman und Vater-Sohn-Geschichte ist, aber enttäuscht, es war stellenweise doch sehr zäh. Die Konfrontation des aus den USA stammenden und bürgerkriegserfahrenen Pinkerton mit den Herren von Scotland Yard ist lesenswert, ebenso wie die Episoden aus dem Bürgerkrieg oder die aus der Londoner Unterwelt. Diese Passagen habe ich nahezu atemlos gelesen. Der Autor scheut kein Blut und keinen Dreck. Vielfach wurde bemängelt, dass die Geschichte von den zahlreichen Rückblenden arg zerstückelt wird. Das ist sicherlich richtig, aber die Rückblicke sind auch wichtig, um die Charaktere zu verstehen. Schritt um Schritt kommen wir ihnen näher. Allerdings ist das alles einfach viel zu viel und die Geschichte verläuft sich in Einzelheiten und Details. Verschiedene Lebensläufe werden akribisch ausgeleuchtet und zersetzen und lähmen die Handlung irgendwie. Etwa als wenn man von Hamburg nach München fährt und der Zug macht ständig einen Umweg über Berlin. Der Autor hat es verstanden, die jeweilige Atmosphäre sehr gut darzustellen, man ist als Leser jeweils mitten im Geschehen, aber die Figuren sind mir nicht nahe gekommen. Die Kernhandlung war mir dann auch trotz der 900 Seiten zu dünn. Am Ende habe ich mich gefragt, ob das wirklich alles war.

Ein historischer (Kriminal-)Roman, der stellenweise zu fesseln vermag und eine großartige Atmosphäre vermittelt. Er war mir aber um einiges zu lang, zu ausschweifend und daher zu zäh.

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