Inspiriert zum Diskutieren über Recht und Gerechtigkeit
Die Strafverteidigerin Eva Herbergen ist eine Getriebene. Schwer lastet die Schuld auf ihr. Denn vor mehreren Jahrzehnten hat sie einem Mandanten Unrecht getan, war für ihn nicht so eine gute Strafverteidigerin, ...
Die Strafverteidigerin Eva Herbergen ist eine Getriebene. Schwer lastet die Schuld auf ihr. Denn vor mehreren Jahrzehnten hat sie einem Mandanten Unrecht getan, war für ihn nicht so eine gute Strafverteidigerin, wie sie sein hätte können, und das hat zu einer furchtbaren Tragödie geführt, an der sie sich mitschuldig fühlt (dies wird schon ganz zu Beginn erwähnt, aber erst im allerletzten Fall erfahren wir die Details dazu).
In Elisa Hovens ausgezeichnetem und sehr nachdenklich machendem Debütroman "Dunkle Momente" erleben wir, wie eben diese Strafverteidigerin an dieser Schuld leidet und nun in ihrem weiteren Berufsleben versucht, für größtmögliche Gerechtigkeit nach ihren individuellen Maßstäben zu sorgen - auch durch Eingriffe am Rande des Legalen oder durch solche, die sogar eindeutig illegal sind.
Dieses Buch ist also ganz sicherlich kein Musterbeispiel dafür, wie sich eine Strafverteidigerin ethisch und juristisch einwandfrei verhalten sollte. Und auch keine Dokumentation darüber, wie sich Strafverteidiger üblicherweise verhalten (hoffe ich mal). Denn wir haben eine nicht unbedingt sympathische, oft wenig selbstreflektierte Protagonistin, die sich oft nicht einwandfrei verhält oder sogar strafbar macht. Wir wünschen uns als Gesellschaft nicht, dass Strafverteidiger so handeln. Aber: genau durch diese Protagonistin und ihr Handeln wird das Buch besonders spannend und regt umso mehr zu interessanten Diskussionen an.
Denn es werden insgesamt neun Fälle vorgestellt, die alle auf die eine oder andere Weise jedenfalls moralisch, oft auch juristisch, nicht eindeutig sind. Ein paar Beispiele:
- Darf ein alter Mann, bei dem eingebrochen wurde, den jugendlichen Einbrecher erschießen? Auch von hinten und wenn dieser sich schon auf der Flucht befindet? Und wie sieht es damit aus, wenn dieser Mann danach unter einem Vorwand rechtliche Informationen einholt, um im Nachhinein Beweismittel zu fälschen, und sich vor einer seiner Meinung nach ungerechtfertigten Strafe zu schützen?
- Sollte es als strafmildernd gelten, wenn jemand, der schreckliche Verbrechen begangen, gefoltert und gemordet hat, selbst als Kindersoldat rekrutiert wurde und seitdem nur Schreckliches erlebt hat? Und inwiefern betrifft es uns in Mitteleuropa, wenn in Afrika oder anderswo Verbrechen verübt wurden, die keinen direkten Bezug zu uns haben? Dürfen und sollten wir darüber zu Gericht sitzen, mit unseren mitteleuropäischen Maßstäben und aus der Perspektive unserer deutlich behüteteren Herkunft?
- Wenn von 11 Männern auf einem Junggesellenabschied 10 nachweislich eine junge Frau misshandelt und vergewaltigt haben, aber alle die Tat leugnen, sodass nicht feststellbar ist, wer unschuldig ist: was ist schlimmer, wenn alle Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden oder wenn ein Unschuldiger mit ins Gefängnis geht?
- Wann, wenn überhaupt jemals, ist es moralisch gerechtfertigt, Unterlagen zu verschwinden zu lassen oder eine Geschichte zu verfälschen, um jemanden davor zu schützen, mit erschreckenden Wahrheiten über die eigene Familie konfrontiert zu werden?
All diesen und noch vielen weiteren ethischen Fragen muss sich die Strafverteidigerin Eva Herbergen stellen. Dabei bezieht sie aufgrund der Informationen, die sie jeweils im Moment der Entscheidung hat, moralisch Position, und entscheidet sich, aktiv in die Beweisermittlung einzugreifen, Beweise zu manipulieren oder verschwinden zu lassen, Falschinformationen an die Presse zu spielen oder fragwürdiges Verhalten ihrer Mandanten (z.B. eine Falschaussage, von der sie Kenntnis hat) zu decken. Eva meint damit im jeweiligen Moment, ethisch richtig zu handeln und ihre Entscheidungen vor ihrem eigenen Gewissen verantworten zu können. Mal entscheidet sie sich in die eine, mal in die andere Richtung, wird manchmal tätig, schweigt das nächste Mal.
Was das Buch besonders interessant macht, sind die vielen unerwarteten Wendungen. Die Wahrheit ist eben nicht unbedingt zu einem bestimmten Zeitpunkt eindeutig ersichtlich, weder für uns Lesende noch für Eva Herbergen selbst.
Unterstützt wird das noch dadurch - vermutlich von der Autorin bewusst so gewählt - dass die Täter bzw. Opfer oft sehr tendenziös und einseitig geschildert werden - vielleicht ähnlich, wie manche Strafverteidiger es vor Gericht machen würden, um ein bestimmtes, erwünschtes Bild ihres Mandanten zu zeichnen und die Geschworenen oder Richter in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wir dürfen nicht vergessen, die Position eines Strafverteidigers, einer Strafverteidigerin, ist keine neutrale, sondern eine parteiische, im Sinne der Interessen der eigenen Mandanten.
Mit dieser einseitigen Darstellung steuert die Autorin auch bewusst unsere Sympathien und Antipathien, und zeigt uns Lesenden gleichzeitig auf, wie manipulierbar wir sind. Denn jede Geschichte kann von vielen Blickwinkeln aus erzählt werden, und sieht ganz anders aus, je nachdem, ob die Perspektive des Opfers oder des Täters oder eines Zeugen eingenommen wird.
Doch oft sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. So stellt sich immer wieder im Nachhinein heraus, dass Eva Herbergens Eingreifen oder Verschweigen nicht nur juristisch, sondern auch moralisch äußerst fragwürdig war, und manchmal dazu beigetragen hat, Schuldige vor dem Gefängnis zu bewahren oder sogar Unschuldige dorthin zu bringen (was Eva Herbergen zum Zeitpunkt ihres Eingreifens natürlich nicht wusste).
Als Rahmenhandlung lernen wir Eva Herbergen auch privat ein bisschen kennen. Das Milieu ist ein für diesen Bereich typisches: Status, Geld und Schein spielen eine große Rolle. Man ist beruflich äußerst ehrgeizig, arbeitet viel, geht zum Ausgleich mit Gleichgesinnten in gehobene Restaurants essen, kleidet sich teuer, macht exquisite Reisen... und hat den Kinderwunsch solange verschoben, bis er sich leider in Evas Fall nicht mehr realisieren ließ. Einen kleinen Ausgleich schafft Evas Mann, ein bedachter, nachdenklicher und ihre Entscheidungen immer wieder (meist allerdings erfolglos) kritisch hinterfragender, ruhiger Literaturwissenschaftler.
Dennoch ist interessant an der Person Evas, dass sie eben nicht nur vom Wunsch nach Status und Erfolg, sondern vor allem von ihren Schuldgefühlen und dem Wunsch, Gerechtigkeit herzustellen, getrieben ist.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und gemeinsam mit anderen äußerst spannende Diskussionen darüber geführt. Es eignet sich wie kaum ein anderes Buch zum gemeinsamen Diskutieren, und es ist sehr spannend, was für unterschiedliche Wertepositionen sich dabei zeigen, selbst wenn man es in einer Gemeinschaft von Menschen diskutiert, die sich sonst in vielem ähnlich ist.
Damit macht es sehr nachdenklich darüber, woher unsere Werte kommen, womit wir diese verteidigen und warum sich diese in manchem von denen anderer Menschen, die anderes erlebt haben, unterscheiden. So zeigt das Buch auf, dass und warum sich das Rechtssystem eben nicht so einfach an irgendwelchen universalen Werten (so es diese überhaupt geben kann) orientierten kann und niemals das Gerechtsempfinden aller bedienen wird, sodass immer ein Spannungsverhältnis zwischen Recht und empfundener Gerechtigkeit bestehen wird.
Ich kann das Buch also allen, die sich für die Grenzbereiche des Rechts und der Moral interessieren, sehr empfehlen, mit einer Einschränkung: die vorgestellten Fälle werden eindringlich und detailliert in aller Brutalität geschildert und manches davon ist an der Grenze des Erträglichen für mitfühlende Menschen: es geht um Vergewaltigung, Folter, Mord (auch an Kindern), Kindersoldaten, Kannibalismus und viele weitere wirklich abscheuliche Themen. Wer sich davon schnell getriggert fühlt oder sich gerade in einer sehr sensiblen Lebensphase befindet, in der die Konfrontation mit solchen Abscheulichkeiten kaum erträglich ist, der sollte von diesem Buch besser Abstand nehmen.