Spannender literarischer Thriller mit Tiefgang
Der Gott des Waldes"Der Gott des Waldes", das neue Buch von Liz Moore, weckt schon von der Aufmachung her enorm hohe Erwartungen: in der gebundenen Ausgabe sehr hochwertig mit fast 600 dicken Seiten aus robustem Papier, ...
"Der Gott des Waldes", das neue Buch von Liz Moore, weckt schon von der Aufmachung her enorm hohe Erwartungen: in der gebundenen Ausgabe sehr hochwertig mit fast 600 dicken Seiten aus robustem Papier, mit einem geheimnisvollen Titelbild, einem See, über den ein rosafarbener Blutstrom rinnt, der sich sogar haptisch vom Rest des Buches abhebt. Dazu Lobpreisungen an verschiedenen Stellen auf dem Schutzumschlag, die von einem "literarischen Thriller der Spitzenklasse", einem "seltenen Juwel" und einem "Meisterwerk" sprechen. So ein Marketing lässt also ein ganz besonderes Buch erwarten. Ist es das?
Ich lese sehr gerne anspruchsvolle Literatur und gelegentlich mal den einen oder anderen Krimi oder Thriller, kenne also beide Genres. Viele Thriller sind mir zu banal konstruiert und haben wenig glaubwürdige, sehr stereotype Figuren. Davon hebt sich der "Gott des Waldes" durchaus wohltuend ab: es wird nicht nur einfach eine sehr spannende Handlung erzählt, sondern das Setting und die Figuren regen auch zum Nachdenken über die Zeit zwischen 1950 und 1975 in den USA, die Geschlechterrollen damals, soziale Ungleichheit und die mit Geld und Macht einhergehenden Privilegien und unfairen Vorteile an. Damit bietet das Buch deutlich mehr als ein einfacher Krimi oder Thriller und kann sich durchaus als literarisch bezeichnen.
Die Handlung spielt überwiegend im Sommer 1975, mit Rückblenden erzählt aus der Perspektive der 1950er und 1960er Jahre, um die Hintergründe und insbesondere die Entwicklungen einer Familie zu zeigen. Wir befinden uns in den Adirondacks Mountains, wo die vermögende Familie Van Laar ihren Sommersitz hat und außerdem, gemeinsam mit einer befreundeten Familie, ein Abenteuerferiencamp für Kinder betreibt, in dem diese den Sommer verbringen, Spaß und Unterhaltung haben, neue Freundschaften knüpfen können und lernen, wie man alleine im Wald überleben kann.
Die Familie Van Laar ist sehr reich, verschlossen und konservativ, und sie möchte genau ein Kind pro Generation haben, damit niemand das Erbe teilen müsse: am besten einen Jungen, Peter Van Laar, der erste, der zweite, der dritte und der vierte. Peter Van Laar I, der Gründervater, ist schon verstorben, doch mit seinem Sohn, Peter Van Laar II, mittlerweile ein alter Mann, dessen Sohn, Peter Van Laar III, einem Mann mittleren Alters, und wiederum dessen Sohn Peter Van Laar IV, genannt "Bear", einem Kind, leben zeitweise drei dieser Peters van Laar in der großen, aus der Schweiz hergeschafften und in den USA wieder aufgebauten Villa "Self-Reliance" am Rande des Feriencamps. Jeden Sommer wird das Fest "Blackfly Goodbye" gefeiert, bei dem sich alle gemeinsam darüber freuen, dass die Zeit der lästigen, blutsaugenden Kriebelmücke "Blackfly" für die Saison zu Ende geht, und zu dem all jene eingeladen werden, die die Familie als Freunde ansieht oder von denen sie sich geschäftliche Vorteile erhofft.
Frauen gibt es natürlich auch in der Familie, generationenlang als angeheiratete Gattinnen, blass und machtlos an der Seite der übermächtigen und manipulativen Peters. "Bear", der jüngste Peter, scheint aus der Reihe zu schlagen, alle haben ihn als freundliches, empathisches und zugewandtes Kind beschrieben... bis er leider auf tragische Weise im Wald verschwunden ist. Nach seinem Verschwinden brauchte es einen neuen Erben und Peter III und seine Gattin Alice machten sich an diese Zeugung desselben... doch diesmal wurde es ein Mädchen, Barbara. Ein sehr rebellisches, unabhängiges Mädchen, das sich nicht unterdrücken lassen will und sich gegen die lieblose Erziehung auflehnt. Mit 12 oder 13 Jahren möchte Barbara auch am Feriencamp teilnehmen und es wird ihr gewährt - die Eltern sind froh, sich mit der rebellischen Tochter mal einen Sommer weniger herumschlagen zu müssen. Doch gegen Ende des Feriencamps verschwindet auch sie im Wald.
Dieses Buch hat einige sehr interessante Charaktere. Besonders gemocht habe ich die unangepasste und trotz all ihrer Kindheitsverwundungen selbstbewusste und ihren eigenen Weg gehende jugendliche Barbara. Weitere interessante Figuren sind Tessie Jo, genannt "T.J.", die ebenfalls nicht den Geschlechternormen der damaligen Zeit entspricht, wild und frei ist, sich androgyn kleidet, nicht heiraten will und ihren Weg geht. Sie hat das Glück, von ihrem Vater die Campleitung übertragen bekommen zu haben und damit eine Aufgabe und ein Einkommen zu haben. Außerdem gibt es Judyta, eine junge Ermittlerin polnischer Abstammung, die es als eine der wenigen Frauen bei der Polizei nicht leicht hat, aber auch mutig ihren Weg gibt. Tracy, eines der Ferienkinder, die sich mit Barbara anfreundet und diese bewundert. Oder Louise, mit schwierigem familiärem Hintergrund, die im Camp als Sommerbetreuerin arbeitet und sich um die Zukunft ihres jüngeren und von der Mutter vernachlässigten Bruders sorgt. Alice, die Frau von Peter III, eine wenig selbstbewusste Frau, die von ihrem Mann und dessen mächtiger Familie unterdrückt wird und sich in eine psychische Erkrankung und die Einnahme von Medikamenten flüchtet.
Das sind nur einige der Figuren, die wir in diesem umfangreichen Buch sehr genau kennen lernen, denn es wird abwechselnd aus der Perspektive verschiedener Charaktere erzählt. Dadurch, dass somit Perspektive und Erzählzeit wechseln, bekommen wir einen sehr vielschichtigen, umfassenden Einblick in die Welt des Buches. Es werden insbesondere ganz verschiedene Frauenfiguren gezeigt, die jeweils mit den Normen und Beschränkungen ihrer Zeit zu kämpfen haben und sich ganz unterschiedlich dazu positionieren. Aus männlichen Perspektiven wird nur selten erzählt - wenn ich nichts vergessen habe, gibt es nur einen männlichen Protagonisten, dessen Sicht wir lesend kennen lernen können: Carl, der im Camp arbeitet, dem jungen Bear viel beibringt und ihn als letzter vor dessen Verschwinden gesehen haben soll. Es könnte sein, dass das Buch mit dieser Darstellung eher weibliche als männliche Lesergruppen anzieht. Ach ja, und Jacob, einen verurteilten Frauenmörder, der aus dem Gefängnis ausgebrochen und auf dem Weg in diese Gegend ist, und der aus dessen Perspektive ganz selten zwischendurch auch erzählt wird.
Es ist keineswegs offensichtlich, was mit Bear und mit Barbara geschehen ist, und bis zum Ende des Buches gibt es so einige spannende Überraschungen, die sich aber durchaus plausibel in die Handlung einfügen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass für klassische Thriller-/Krimi-Lesende die Handlung etwas zu langsam voranschreitet bzw. sich in zu vielen Nebenaspekten verliert... um dieses Buch zu mögen, sollte man sich schon für mehr interessieren als für die Spannungsaspekte alleine (obwohl das Buch sich durchaus sehr spannend liest) und auch die sozialen Hintergründe interessant finden.
Es ist ein gutes Buch, ein solider literarischer Thriller, den ich sehr gerne gelesen habe und der mir neben Unterhaltung auch Aspekte zum Nachdenken geboten hat. Sehr geschätzt habe ich auch die leserfreundliche und hochwertige Gestaltung des Buches: so gibt es etwa eine Übersichtskarte des Camps und außerdem am Anfang der Kapitel Zeitleisten, die die Orientierung, wo wir uns zeitlich gerade in der Handlung befinden, sehr erleichtern.
Für ein 5-Sterne-Buch fehlt mir dennoch ein bisschen etwas. Insbesondere in der Auflösung und Verbindung der Handlungsstränge am Ende gab es Aspekte, die ich in Bezug auf die vorherige Figurenzeichnung und -entwicklung nicht sonderlich plausibel gefunden habe, dafür einen Stern Abzug (inhaltlich mehr dazu zu erwähnen würde spoilern). Dennoch insgesamt ein wunderschön gestaltetes, unterhaltsam und spannend geschriebenes und lesenswertes Buch.