Aline Abboud bezeichnet sich als "Halblibanesin mit ostdeutschem Migrationshintergrund", sie ist die Tochter eines in die DDR ausgewanderten Libanesen und einer ostdeutschen Mutter. Selbst ist sie im Jahr ...
Aline Abboud bezeichnet sich als "Halblibanesin mit ostdeutschem Migrationshintergrund", sie ist die Tochter eines in die DDR ausgewanderten Libanesen und einer ostdeutschen Mutter. Selbst ist sie im Jahr 1988, also kurz vor der Wende, geboren, und kennt die DDR nur aus Erzählungen ihrer Verwandten.
In diesem Buch geht es hauptsächlich um ihre Liebe zum Libanon, den sie in vielen Sommern ihrer Kindheit und Jugend und auch danach mit ihren Eltern besucht hat und wo sie unbeschwerte Wochen im Garten und am Meer gemeinsam mit ihren unzähligen Cousins, Cousinen, ihren Tanten und Onkeln und ihrer Oma und ihrem Opa verbringen konnte. Es ist ein sehr persönliches und liebevolles Buch, das die starke Bindung, die die Autorin zum Libanon und insbesondere zur dort lebenden Verwandtschaft väterlicherseits empfindet, spürbar und nachvollziehbar vermittelt. In vielen kleinen Szenen geht es um Begegnung, Familienausflüge, gemeinsame Zeit am Meer, Späße, Gastfreundschaft, Hochzeiten und andere Feierlichkeiten und Verbundenheit.
Aus dieser Perspektive habe ich das Buch gerne gelesen. Man darf sich nur nichts Falsches davon erwarten. Die Autorin schreibt, dass sie immer gerne einen Reiseführer über den Libanon schreiben wollte, ein solcher ist dieses Buch aber definitiv nicht. Punktuell habe ich immer wieder ein bisschen etwas über den Libanon gelernt, aber weit weniger, als es möglich gewesen wäre. Auf kulturelle und historische Hintergründe und auch auf die aktuellen politischen Konflikte oder die wirtschaftliche Lage wird nur ganz am Rande und in Verbindung mit der Autorin selbst und ihrer Verwandtschaft eingegangen, sodass mir das Buch darüber keinen tiefgreifenderen Einblick vermittelt hat.
Es ist auch kein Memoir im eigentlichen Sinne, in dem es um die Persönlichkeitsentwicklung der Autorin anhand ausgewählter Kapitel des eigenen Lebens, die in einen erzählerischen Bogen eingebunden werden, ginge... Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung der Autorin selbst oder auch anderer Charaktere findet in dem Buch kaum statt, auch gibt es nicht wirklich einen roten Faden, sondern es ist einfach eine Aneinanderreihung vieler kleiner Familienszenen, nett geschrieben, aber ohne tieferen psychologischen Hintergrund. Besonders interessant wird es wohl für alle Menschen sein, die sich der Autorin und ihrer Familie persönlich verbunden fühlen und sich damit besonders für diese eine Familie interessieren, wie zum Beispiel ihre 2024 geborenen Tochter, der das Buch unter anderem auch gewidmet ist.
So ist es insgesamt ein Buch, das für mich als Außenstehende ganz nett und unterhaltsam zu lesen war, aber vermutlich bei mir keinen tiefgreifenderen, langfristigen Eindruck hinterlassen wird, dafür hätte es entweder auf der Bildungs- und Sachebene oder auf der Ebene der psychologischen Charakterentwicklung mehr gebraucht.
"Umlaufbahnen", im englischsprachigen Original "Orbital" von Samantha Harvey hat im Jahr 2024 den Booker Prize gewonnen. Schon das Cover mit den bunten Kugeln und dem Weltraumnebel finde ich ganz zauberhaft, ...
"Umlaufbahnen", im englischsprachigen Original "Orbital" von Samantha Harvey hat im Jahr 2024 den Booker Prize gewonnen. Schon das Cover mit den bunten Kugeln und dem Weltraumnebel finde ich ganz zauberhaft, und es spiegelt wider, wie besonders dieses Buch ist. Samantha Harvey entführt uns mit ihrem Nature Writing mitten in ein Raumschiff, das viele Male am Tag die Erde umkreist.
Durch die Augen der sechs staunenden Astronauten erleben wir ihren Blick aus dem All auf die Welt und viele philosophische Gedanken dazu. Dabei gelingt es der Autorin, so plastisch zu schreiben, dass ich das Gefühl hatte, dabei gewesen zu sein im All, und dieses Gefühl wirkt auch jetzt, einige Tage nach Abschluss der Lektüre, noch in mir nach.
Hier ein paar ausgewählte Zitate, die die besondere Atmosphäre dieses einzigartigen Buches einfangen sollen:
Gleich am Anfang: "So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden. Mitunter träumen sie dieselben Träume - von Fraktalen und blauen Sphären und vertrauten Gesichtern in der Dunkelheit, vom leuchtenden, energiegeladenen Schwarz des Weltraums, das ihre Sinne überwältigt." (S. 7)
"Sie ziehen an Shanghai vorbei. Bei Tageslicht ist von der Stadt nur eine menschenleere Küste am Rand eines Kontinents in allen erdenklichen Farbtönen auszumachen. Es ist die vierte Erdumkreisung des Tages, die sie wach miterleben, und auch wenn ihre Umlaufbahn sie gen Osten führt, verschiebt sich aufgrund der Drehung der Erde ihre Route mit jeder vollen Umkreisung nach Westen, sodass sie sich - wie der Taifun - immer weiter landeinwärts bewegen, fort vom Pazifik, auf Malaysia und die Philippinen zu, und der Taifun hastet ihnen hinterher." (S. 63)
In diesem zweiten Zitat wird auch ein Taifun erwähnt, der auch sonst noch an mehreren Stellen im Buch vorkommt, sich verdichtet und heftiger wird und für die Menschen auf der Erde in den betroffenen Regionen eine große Gefahr darstellt - für das Raumschiff aber nicht.
Und so ist auch die Perspektive der sechs Astronauten eine aus der Distanz, aus der manches, insbesondere die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Welt, die Kontinente und große Wetterphänomene, sich klarer zeigt, während viele Details, insbesondere einzelne Staatsgrenzen und der Alltag der Menschen, unsichtbar wird und an Bedeutung verlieren. Damit lädt das Buch auch dazu ein, über die Bedeutung der Perspektive nachzudenken: je nachdem, von wo aus ich etwas betrachte, werde ich etwas ganz anderes sehen.
Es ist ein stilles, poetisches Buch, das ohne größere Spannungselemente auskommt. Es lebt von dem Rhythmus aus Blicken aus dem Fenster auf die Erde, so wie im zweiten Zitat, und der Beschreibung des Alltags der Crewmitglieder.
Die sechs Astronauten und Astronautinnen (zwei Frauen sind dabei) sind aus verschiedenen Ländern: zwei aus Russland (diese haben einen eigenen russischen Sektor, sind aber sonst ganz normal Teil des Teams) und je eine Person aus den USA, aus Großbritannien, aus Italien und aus Japan.
Wir erfahren so einiges Interessantes über die körperlichen Herausforderungen des Alltags im All: darüber, wie die Astronauten täglich trainieren müssen, um dem durch die mangelnde Schwerkraft im Fallen des Raumschiffes verursachten Muskelabbau vorzubeugen (und trotzdem werden sie bei der Rückkehr auf der Erde gesundheitlich beeinträchtigt sein, weil auch das Training nicht alles kompensieren kann), über die Geschmacklosigkeit des Essens im All, das Festhalten-Müssen an einem künstlich geschaffenen tagesähnlichen Rhythmus, die Sammlung allen Wassers, sogar der Tränen, und Wiederaufbereitung des Urins, diverse wissenschaftliche Experimente mit Mäusen, Weltraumspaziergänge, um etwas zu warten, Einsamkeit und Vermissen der geliebten Menschen daheim, Verpassen des Begräbnisses der eigenen Mutter... aber auch über die ursprünglichen Sehnsüchte und Träume der Kinder, die die Astronauten einmal waren, und wie sie den Funken in ihnen gezündet haben, der sie dazu gebracht hat, selbst den Weltraum bereisen zu wollen.
Und dann wieder und wieder und wieder der Blick aus den Fenstern auf die atemberaubende Welt: alle 45 Minuten wird es dunkel, und dann wieder hell, denn in eineinhalb Stunden umkreist das Raumschiff einmal komplett die Erde, und so erleben wir immer wieder, wie die Sonne auf- und untergeht und verschiedene Länder und Kontinente sichtbar oder unsichtbar werden.
Ein letztes Zitat (S. 198):
"Vielleicht gibt es nichts außer diesem Raumschiff, das still um einen unsichtbaren Felsbrocken kreist. Vielleicht war es so auch für die ersten Entdecker, die sich, in einer blinden Nacht auf See, viele Monate und Tausende von Kilometern von einer Küste entfernt, von der sie noch nicht sicher sein konnten, dass sie existierte, der Erde, ihrer Welt, so nahe fühlten, als wären sie die einzigen Menschen auf ihr, und in diesem Gefühl einen kurzen Moment des Friedens fanden."
Dieses Zitat drückt, wie so viele andere, für mich aus, wie dieses Buch ehrfürchtig machen kann vor der Schönheit unserer Welt, unserer Mutter Erde, der einzigen, die wir haben. Damit ist es auch ein Buch, das auf seine poetisch-stille Art wachrütteln kann und hoffentlich auch wird, diese unsere Erde zu achten und zu schützen, und somit genau in diesen Zeiten ein wichtiges Buch, dem ich viel Verbreitung wünsche.
"Strong Female Character" ist der Lebensbericht der schottischen Stand-Up-Comedienne Fern Brady, betrachtet unter der Perspektive ihres erst vor kurzem, in ihren 30ern Jahren, diagnostizierten Autismus. ...
"Strong Female Character" ist der Lebensbericht der schottischen Stand-Up-Comedienne Fern Brady, betrachtet unter der Perspektive ihres erst vor kurzem, in ihren 30ern Jahren, diagnostizierten Autismus. Fern Brady wurde als eines von mehreren Kindern in eine schottische Arbeiterfamilie geboren und war schon als Baby und Kleinkind auffallend anders: sie reagierte auf zu starke Reize mit spitzen Schreien, wollte nicht gestreichelt werden, kratzte sich an den Stellen, an denen sie von anderen berührt worden war, und schleuderte ihren Kopf gegen die Stäbe ihres Gitterbettes, wenn ihr etwas zu viel war. Außerdem war sie schon damals tollpatschig und ungeschickt.
Aber in den 80er Jahren war Autismus gesellschaftlich noch kaum ein Thema, für das die Menschen sensibilisiert waren, schon gar nicht bei einem Mädchen und in der Arbeiterklasse. Fern Brady hat die Form von Autismus, die man früher als Asperger-Syndrom bezeichnet hätte (diese Bezeichnung wird aufgrund der problematischen NS-Vergangenheit des Namensgebers nicht mehr verwendet, stattdessen wird auch diese Form nun allgemein unter den Autismus-Spektrums-Störungen subsummiert). Eine oft als "leicht" angesehene Form von Autismus (Fern selbst verwehrt sich aber gegen diese Zuschreibung und meint, leicht wäre höchstens die Außenwahrnehmung nicht Betroffener, weil diese Autisten so gut im Maskieren wären), die mit keiner sonstigen kognitiven Beeinträchtigung und oft auch speziellen Begabungen und einem sehr guten Gefühl für Sprache einhergeht. Die Sicht auf das Asperger-Syndrom war lange und ist zum Teil bis heute von den Experimenten des Namensgebers geprägt, und diese bezogen sich ausschließlich auf männliche Kinder vor der Pubertät. Auch deshalb ist es bis zum heutigen Tag für ältere autistische Menschen und ganz besonders für Frauen sehr schwierig, eine Diagnose zu bekommen.
Die sehr intelligente, Bücher und Sprachen liebende und selbständig recherchierende Fern hatte durchaus schon als Jugendliche den Verdacht, von dieser Form des Autismus betroffen zu sein, las sich in die jeweiligen Diagnosekriterien ein, erkannte sich wieder und sprach dieses Thema gegenüber Ärzten an. Leider geriet sie dabei immer wieder an solche, die in diesem Gebiet nicht kompetent genug waren, aber diese Schwäche auch nicht etwa eingestanden und sie weiterverwiesen hätten, sondern aufgrund von Falscheinschätzungen leugneten, dass Fern von dem Thema betroffen sein könnte, etwa weil sie Augenkontakt halten könne (etwas, das intelligente autistische Menschen im Laufe des Lebens lernen können) oder weil sie einen Freund hatte (auch das ist absolut kein Ausschlusskriterium). Und anfangs glaubte Fern ihnen und ihrer Autorität auch, es waren ja Ärzte.
Dabei kämpft sie ihr Leben lang damit, sich in der oft unverständlichen sozialen Umwelt zurechtzufinden, hat immer wieder psychische Krisen und Zusammenbrüche aufgrund von Reizüberflutung (sogenannte Meltdowns, im Rahmen derer sie nicht anders kann, als Möbel zu zertrümmern), missbraucht Medikamente, die sie sich vom Schwarzmarkt besorgt, wird immer wieder von den Eltern rausgeschmissen, finanziert ihr Studium aus Geldnot als Stripperin und ist immer wieder suizidal.
Es dauert Jahrzehnte, während sie auf ihrer Suche danach, zu verstehen, was mit ihr los war, immer mehr Anzeichen dafür findet, dass sie mit ihrem Verdacht recht hat (u.a. durch das großartige Buch "Aspergirls" von Rudy Simone, das sich für sie wie eine exakte Beschreibung ihres Lebens und ihrer Herausforderungen las), bis sie an eine kompetente Spezialistin für erwachsene Autistinnen gerät und eine offizielle Diagnose erhält. Mutig setzt sich Fern nun mit ihrem autobiografischen Buch dafür ein, für das Thema hochfunktionaler Autismus, insbesondere bei Frauen, zu sensibilisieren und darüber aufzuklären, und leistet damit einen wertvollen Beitrag dafür, dass andere Betroffene früher Unterstützung erhalten und nicht Jahrzehnte lang danach suchen müssen.
Beim Lesen des Memoirs empfand ich tiefes Mitgefühl und viel Respekt für diese starke und intelligente, reflektierte junge Frau, die trotz all dieser Handicaps nicht aufgegeben hat und sich sowohl eine berufliche Karriere als Stand-Up-Comedienne, die ihr Freude bereitet, als auch endlich eine Diagnose und damit eine Erklärung für ihr Anders-Sein erkämpft hat, und die damit auch noch so offen und mutig in die Welt hinausgeht. Mir persönlich, die ich mich schon viel mit dem Thema Autismus beschäftigt habe, war Fern Brady beim Lesen auch sehr sympathisch, ich mag, wie mutig und reflektiert sie ist.
Wer sich noch nicht so gut mit Autismus auskennt, der könnte einige Szenen in Ferns Leben so empfinden, als ob sie unsympathisch wäre, aber viel davon spiegelt einfach das mit ihrer Neurodivergenz einhergehende mangelnde Verständnis für nonverbale Kommunikation und für die oft unausgesprochenen, komplexen und sich subtil situativ anpassenden Regeln des sozialen Miteinanders wider. So schlägt Fern etwa beim Fortgehen einer anderen jungen Frau, von der sie beleidigt wurde, mit einer Flasche auf den Kopf, in der Annahme, das sei Selbstverteidigung, denn die andere hätte sonst sie auch körperlich angegriffen. Zum Glück kommt die andere mit einer relativ leichten Verletzung und Fern mit einer Geldstrafe davon. Hier meine Hochachtung vor Fern, dass sie solche Ereignisse, die sie in einem kritischen Licht dastehen lassen könnten, überhaupt in ihr persönliches Buch mitaufgenommen hat, das hätte sie ja nicht müssen.
Gleichzeitig ist ihr, wie vielen autistischen Menschen, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit wichtiger als das Erzeugen eines möglichst positiven Bildes von sich selbst. Und sie möchte mit der Schilderung dieses und weiterer Ereignisse auch dafür sensibilisieren, wie viele autistische Menschen aufgrund ähnlicher Vorfälle Probleme mit dem Gesetz bekommen, im Gefängnis landen, härter als nicht-autistische Menschen verurteilt werden, z.B. weil vor Gericht für die Härte der Bestrafung ausgesprochene Reue eine große Rolle spielt, und nicht-autistische Menschen meist viel besser darin sind, diese glaubhaft vorzuspielen, auch wenn sie sie nicht empfinden, und weil allgemein Justiz- und Gesundheitsssystem noch kaum für die Bedürfnisse autistischer Menschen sensibilisiert sind.
Soziologisch betrachtet sehr interessant ist auch das Zusammenspiel mehrerer Benachteiligungen, das Fern in ihrem Buch beschreibt und analysiert: so spielt es für viele Situationen in ihrem Leben eine Rolle, dass sie nicht nur autistisch ist, sondern außerdem eine Frau und aus der Arbeiterklasse. Ein Junge wäre mit viel höherer Wahrscheinlichkeit schon als Kind diagnostiziert worden, da er viel stärker den prototypischen Bildern eines Autisten entsprechen würde. Und Eltern aus einer anderen Sozialschicht hätten vermutlich auch andere Mittel zur Verfügung gehabt, um ihr Kind besser zu fördern (auch wenn Fern einräumt, dass ihre Eltern das ihnen Bestmögliche getan haben und ihr z.B. auch bei knappen finanziellen Mitteln Klavierunterricht ermöglichten, etwas, von dem sie bis heute als Ressource profitiert) und finanziell zu unterstützen, und möglicherweise auch Zugang zu einer differenzierten Diagnostik schon früher im Leben zu bekommen.
Somit ist es auf vielen Ebenen ein sehr lesenswertes und interessant geschriebenes Buch, das ich allen, die sich für Neurodiversität, Autismus und generell für verschiedenste Lebensumstände und die Herausforderungen, die sie mit sich bringen, interessieren, nur wärmstens ans Herz legen kann. Danke, Fern, fürs mutige Teilen deiner Lebensgeschichte!
"Babel" ist ein ganz besonderer, zauberhafter Roman, wie ich in der Form noch keinen gelesen habe. Das Buch wird teilweise als Fantasy-Buch vermarktet und mit Harry Potter verglichen, aber das wird dem ...
"Babel" ist ein ganz besonderer, zauberhafter Roman, wie ich in der Form noch keinen gelesen habe. Das Buch wird teilweise als Fantasy-Buch vermarktet und mit Harry Potter verglichen, aber das wird dem Buch (und auch Harry Potter, das ein großartiges Werk, aber ganz anders ist) überhaupt nicht gerecht. Zwar gibt es ein kleines Fantasy-Element in dem Buch - das Silberwerken, eine Form von übersetzungsbezogener Magie, die an Silberbarren gebunden ist - doch ist das Buch insgesamt viel eher anderen Genres zuzuordnen: eine Mischung aus historischem Roman in einer alternativen Realität, Sachbuch über das Übersetzen und vor allem ist es ein sehr aufklärerischer Roman mit einer klaren Mission, nämlich für das Unrecht des Kolonialismus und die vielen offenen und subtilen Unterdrückungsmechanismen, denen alle, die keine weißen Männer sind, in den letzten Jahrhunderten ausgesetzt waren und bis heute in vielen Bereichen ausgesetzt sind, zu sensibilisieren. Es ist ein sehr progressives Buch zu Identitäten und Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit dem Kolonialismus.
Deshalb: wer sich hauptsächlich spannende Unterhaltung und Fantasy erwartet, der ist hier falsch. Das bedeutet nicht, dass das Buch nicht an vielen Stellen auch spannend ist... aber es sind über 700 Seiten und die Handlung lässt sich Zeit, sie schreitet gemächlich voran, und es dauert schon einmal um die hundert Seiten, bis Robin aus Kanton überhaupt in Oxford ankommt, dazwischen sind eine lange Schiffsreise, einige Jahre bei seinem Ziehvater und viele Gedanken über kulturelle und sprachliche Unterschiede und über das Übersetzen zu finden.
Auch danach ziehen sich viele kluge philosophische Überlegungen durch das Buch und man lernt unglaublich viel über die Herausforderung des Übersetzens und wird dafür sensibilisiert, wie viele Ungenauigkeiten auch beim sorgfältigsten Übersetzen passieren, weil sich ganz viele Wörter und Redewendungen niemals zu 100 % identisch aus einer Sprache in die andere übertragen lassen, ohne dass etwas verloren geht. Mit diesen Unschärfen arbeitet das fantastische Element des Silberwerkens, das Silberbarren genau durch die Bedeutungslücke einer Übersetzung zwischen zwei Sprachen mit einer magischen Funktion auflädt.
Angekommen in Oxford begleiten wir den jungen Robin bei seiner Einführung ins studentische Leben dort, bei seiner Faszination für Sprache und Übersetzung und beim Knüpfen enger Freundschaften mit den drei anderen Studierenden aus seinem Jahrgang: Ramy, ein junger muslimischer Mann aus Indien, Victoire, eine dunkelhäutige Französin haitianischer Abstammung und Letty, als einzige eine Britin, aber als Frau im 19. Jahrhundert gesellschaftlich benachteiligt und damit ebenfalls eine, die sich ihren Zugang zu dieser elitären Universität und dem Übersetzungsstudium im Turm Babel hart erkämpfen hat müssen. Das gemeinsame Studium und die gemeinsamen Ausgrenzungserfahrungen schweißen die vier zusammen... bis der Lauf der Geschehnisse ihnen harte Entscheidungen abringt und ihre Freundschaft auf eine schwere Probe stellt.
"Babel" ist ein Buch, das auf vielen Ebenen bildet, sensibilisiert und zum genauer Nachlesen anregt. Zwar stellt es sich als fiktiv-fantastisches Werk dar, aber viele der darin beschriebenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen genauso wie viele historische Phänomene gab es tatsächlich, etwa den Kolonialismus, die Opiumkriege zwischen Großbritannien und China im 19. Jahrhundert und vieles mehr. Es regt dazu an, neue Perspektiven einzunehmen und all diese Dinge insbesondere durch die Brille marginalisierter und oft bis heute benachteiligter Menschen zu betrachten. Ich habe auch aus historischer Sicht beim Lesen des Buches sehr viel über diverse Themen gelernt und werde nun noch weiter dazu recherchieren.
Dabei stellt es viele Fragen, auch durchaus unbequeme, z.B. zur Legitimation von Gewalt, wenn diese als einziger Weg erscheint, einen Umbruch durchzusetzen und bestehende Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Es regt auf vielen Ebenen zum Nachdenken und Diskutieren an und ist damit ein sehr wichtiges und besonderes Buch.
Ich habe nur einen kleinen Kritikpunkt, der sonst grundsätzlich meiner Begeisterung keinen Abbruch tut: etwas einseitig fand ich, dass das Buch - mit kleinen Ausnahmen, die ich aber nicht sonderlich überzeugend fand - sehr dazu anregt, nur mit all den marginalisierten Individuen und Gruppen mitzufühlen, während ich die Darstellung der weißen Hegemonialmacht und ihrer Vertreter insgesamt als sehr plump, unsensibel und einseitig wahrgenommen habe (gut möglich, dass viele so sind/waren, aber wohl doch auch nicht alle). Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Richtung, in die sich das Buch am Ende entwickelt, zur Förderung des Friedens, der Toleranz und Völkerverständigung beiträgt... aber vielleicht muss es das ja auch nicht.
Auch wer reine Unterhaltung sucht und sich nicht für die Feinheiten von Sprache, die Geschichte von Kolonialismus und Ausbeutung und deren Folgen bis heute usw. interessiert und nicht gerne Sachbücher liest, für den ist es vielleicht nicht das richtige Buch.
Ich persönlich habe viel aus der Lektüre mitgenommen, sowohl an Bildung als auch an Themen zur weiteren Diskussion und Reflexion. Es bleibt auf ganz vielen Ebenen ein sehr intelligentes, spannend geschriebenes und in vielerlei Hinsicht sensibilisierendes und damit wichtiges Buch.
Das Buch "Vor der Nacht" von Salih Jamal zeichnet sich durch eine ganz besonders schöne Sprache aus, mit vielen Metaphern, die zum Nachdenken anregen. Das beginnt schon ganz am Anfang und zieht sich durch ...
Das Buch "Vor der Nacht" von Salih Jamal zeichnet sich durch eine ganz besonders schöne Sprache aus, mit vielen Metaphern, die zum Nachdenken anregen. Das beginnt schon ganz am Anfang und zieht sich durch das ganze Buch:
"Da, wo ich bin, kann ich nicht ankommen. Und da, wo ich ankomme, kann ich nicht hin."
"Ich berichte von Leben, die auf Seelen gelegt worden sind, die dem Leben nicht gewachsen waren."
"Nichts war mehr an seinem Ort. Nicht mal ich selbst, als wäre ich aus der Landschaft gefallen."
"Meine Eltern schauten beide zueinander auf. Bis sie gemeinsam in den Abgrund hinabblicken mussten."
Diese eindringlichen Sprachbilder laden also beim Lesen immer wieder dazu ein, innezuhalten und zu reflektieren, das mochte ich sehr.
Inhaltlich ist es ein Buch, das von der Handlung her - insbesondere in der ersten Hälfte - auch ein Jugendbuch sein könnte. Durch die Augen von Jonas (dem im Heim von den anderen Kindern der Spitzname "Jimmy" gegeben wird) lernen wir ihn, einige weitere Kinder und deren Umgebung kennen. Die Kinder können alle aus verschiedensten Gründen nicht mehr daheim wohnen, ihre Eltern sind tot, im Gefängnis oder sonstwo verschollen, und so kommen sie in das Heim der "Wölfin" Vora, die gelegentlich Gewalt ausübt und die Kinder sonst ignoriert. Dort leben sie in Zweibettzimmern, und was den Kindern Halt gibt, ist die innige Gemeinschaft und der Zusammenhalt, der sie bald miteinander verbindet, und die gemeinsamen Ausflüge in den Wald hinter der Autobahn, aber auch das Füreinander-Einstehen, wenn eines von ihnen angegriffen wird. Diese Kameradschaft und Solidarität unter den Kindern ist schön zu lesen.
Dann werden die Kinder älter und verlassen das Heim Stück für Stück, manche dramatisch durch eine Flucht, manche relativ unspektakulär durch Adoption oder Erreichen des 18. Geburtstags. Und sie verlieren sich gegenseitig aus den Augen, bis Jimmy - angespornt durch eine zufällige Begegnung mit einem Mädchen aus dem Kinderheim - sie einen nach dem anderen wieder aufspürt und wir so erfahren, was weiter aus den nun erwachsenen ehemaligen Heimkindern geworden ist.
Bis hierhin war es ein sehr schönes und bewegendes Buch für mich, wenn auch die charakterliche Darstellung mancher Personen, z.B. der Heimleitung Vora und ihrer Tochter, für mich eher blass geblieben ist (was aber durchaus damit zu erklären ist, dass wir die beiden durch die Augen des noch nicht so reflektierten jugendlichen Jimmy wahrnehmen). Der zweite Teil des Buches wird dann aber sehr dramatisch und lässt an schlimmen Umständen und Klischees nichts aus: von Schwerstkriminalität inklusive mehreren Morden bis zu Prostitution, sehr toxischen Beziehungen, schweren Demütigungen und Drogensucht ist da alles dabei - in ein bisschen Slapstick-artig, kabarettistischer Form, sodass ich es inhaltlich nicht mehr ganz ernst nehmen konnte und hier gefühlsmäßig nicht mehr mitgeschwungen bin.
Die Botschaft des Buches, wie sehr eine schwere Heimkindheit das eigene Leben prägen kann und nachwirkt, ist eine wichtige. Dennoch war es für mich etwas zu viel an Dramatik, hier hätte ich mir mehr Differenzierung gewünscht. Und ob wie diese möglich gewesen wäre, weiß ich nicht - immerhin scheint es sich zumindest in Teilen um eine wahre Geschichte zu handeln und so ist es schwer zu beurteilen, was davon wahr ist bzw. was der Anonymisierung der beteiligten Personen dient.
Insgesamt war es jedenfalls ein gutes und nachdenklich machendes Buch mit sehr schöner Sprache, das ich gerne gelesen habe, und über das ich noch weiter nachdenken werde.