Herrliche Regency-Romance!
Wie man sich einen Lord angelt"»Nur wer reich ist, kann sich den Luxus der Ehre leisten […]. Und nur Männer haben das Privileg, ihr eigenes Vermögen zu machen. Ich habe vier Schwestern, die auf mich angewiesen sind, und die Berufe, ...
"»Nur wer reich ist, kann sich den Luxus der Ehre leisten […]. Und nur Männer haben das Privileg, ihr eigenes Vermögen zu machen. Ich habe vier Schwestern, die auf mich angewiesen sind, und die Berufe, die Frauen wir mir offenstehen - Gouvernante, Schneiderin vielleicht - würden nicht einmal ausreichen, um die Hälfte von ihnen zu kleiden und zu ernähren. Was soll ich also tun, außer mir einen reichen Ehemann zu suchen?«"
Kitty ist eine hinreißende weibliche Hauptfigur! - Schlau wie ein Fuchs, schlagfertig, selbstbewusst … aber auch bewundernswert selbstreflektiert und selbstlos. Für das Glück ihrer geliebten Schwestern ist sie ohne mit der Wimpern zu zucken bereit, ihr eigenes zu opfern. Kitty weiß genau, was sie will - und setzt alles daran, ihr Ziel zu erreichen. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie keine andere Wahl: Sie musste stark sein für ihre jüngeren Geschwister, die sich ganz auf sie verließen, musste pragmatisch denken, Optimismus ausstrahlen, auch wenn ihr selbst zum Weinen war, und schlichtweg die Person sein, die stets für jedes Problem eine Lösung findet. Auf ihren Schultern lastet eine enorme Verantwortung, und ihre Stärke hat mich unheimlich beeindruckt.
"Verzweifelt wünschte sie sich, es gäbe jemanden, mit dem sie diese Bürde teilen könnte, aber sie war ganz allein. Die Gesichter ihrer Schwestern blickten schweigend zu ihr auf, selbst jetzt noch so voller Überzeugung, dass sie es schaffen würde, sie alle zu retten. So, wie sie es immer getan hatte. Wie sie es immer tun würde."
Wie viele Menschen hätten an ihrer Stelle längst aufgegeben und sich stattdessen in Selbstmitleid gesuhlt - oder egoistisch gehandelt und sich nicht um familiäre Verpflichtungen geschert. Den Traum von einer Liebesheirat hat Kitty längst begraben, für sie zählt einzig das Wohlergehen ihrer Familie. Mit jedem Rückschlag, den sie erleidet, jedem Fettnäpfchen, in das sie aufgrund ihrer Unkenntnis der ungeschriebenen Gesetze des ton tappt, jeder Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt, scheint sie noch kämpferischer und fokussierter zu werden, und ich kam nicht umhin, ihre Resilienz und Determination zu bewundern.
"Die Zeit der Verzweiflung war vorbei. Sie würde sich - durfte sich - nicht so einfach besiegen lassen. Entschlossen schluckte sie ihre Tränen herunter und straffte die Schultern."
Kittys stark ausgeprägter Beschützerinstinkt lässt sie manchmal sogar den großen Plan vergessen, z.B. als sie ihre jüngere Schwester Cecily vehement verteidigt und vor einem für seine wandernden Hände bekannten Tanzpartner bewahrt. "Weniger charakterstarke Menschen mochten die Aufmerksamkeit dieses abscheulichen Mannes als notwendiges Übel betrachten, aber Kitty tat das nicht." Sie handelt in meinen Augen vollkommen richtig, bekommt aber sogleich die Empörung der Gesellschaft zu spüren: einen 'Gentleman' öffentlich derart zu brüskieren, welch Skandal! Jahrhunderte vor MeToo-Kampagnen setzt Kitty dem schmierigen Herrn klare Grenzen, bravo!
Die passionierten Dialoge zwischen den Hauptfiguren sind ein absoluter Traum! Enemies-to-Lovers-Romances gehören nicht ohne Grund zu meinen liebsten Tropes, bieten sie doch reichlich Gelegenheit für erhitzte, vor unterschwelliger Leidenschaft brodelnde Wortgefechte zwischen den Charakteren, ehe nach allerlei heftigem Schlagabtausch eine vorsichtige Annäherung erfolgt … und die gegenseitige Abneigung tieferen Emotionen gänzlich anderer Art weicht.
"»Pragmatismus?«, wiederholte er. »So nennt Ihr es also? Nicht vielleicht lieber Berechnung - Gier - Manipulation? Denn leider sind es diese weitaus weniger ehrbaren Worte, die ich Euch zuschreiben würde, Miss Talbot.«"
Wie oft rang ich mit Kitty um Beherrschung oder beglückwünschte sie zu ihren treffsicher platzierten Spitzen, die deutlich machten, dass sie dem sprachlichen Duell mit Lord Radcliffe mehr als gewachsen ist! Der Humor kommt hierbei nicht zu kurz; insbesondere über ihre spontanen morgendlichen Besuche bei Radcliffe habe ich mich köstlich amüsiert! Auch die Nebenfiguren sind vielschichtig ausgearbeitet worden; die Dynamik zwischen Kitty und ihrer Schwester Cecily sowie zwischen den Mädchen und ihrer 'Tante' Dorothy wurde überaus glaubwürdig und nachvollziehbar dargestellt.
Natürlich war mir bewusst gewesen, dass gerade Frauen, obendrein jene mit sehr begrenzten finanziellen Mitteln, es damals besonders schwer hatten, doch wie streng die Regeln für Erfolg auf dem sozialen Parkett waren, wurde mir erst hier vor Augen geführt. Es reicht nämlich bei Weitem nicht, diversen reichen Junggesellen vorgestellt zu werden - wobei schon allein dies zu bewerkstelligen einen Heidenaufwand bedeutet -, anschließend in hübschen Kleidern elegant über die Tanzfläche zu schweben, kokett die Augen niederzuschlagen, im richtigen Moment zu lächeln - aber ja nie undamenhaft laut zu lachen … Nein, um nicht auf den ersten Blick als nutzlose Bekanntschaft abgestempelt zu werden, muss man nachweislich aus guten Hause stammen: die richtigen Leute kennen (und vice versa), selbstverständlich vermögend sein, tadellos-sittsames Verhalten an den Tag legen, und, das ist ganz besonders wichtig, auf gar keinen Fall darf einem auch nur der Hauch eines Skandals anhaften.
Kittys Debüt in London gleicht einem Tanz auf dem Vulkan, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Bei all meiner Liebe für das Regency-Zeitalter bin ich dennoch dankbar, nicht mit ihr tauschen zu müssen und stattdessen im Hier und Jetzt leben zu dürfen, wo ich mittels solch brillanter Romane in diese für Frauen so herausfordernde Ära eintauchen kann. Dass viele Menschen damals ihr Glück lediglich in einer gewissen Außenwirkung sahen, deren Oberflächlichkeit schwerer wog als die wahre Liebe, scheint uns heutzutage unbegreiflich. Allerdings darf man nicht vergessen: einige der hier aufgeführten Strukturen, über die wir vielleicht instinktiv den Kopf schütteln, sind im Grunde weiterhin gang und gäbe. Ob es uns passt oder nicht, aber Geld regiert die Welt und 'Vitamin B' öffnet noch immer sämtliche Türen am schnellsten, beruflich wie auch privat. (Um beim Thema Londoner Adel zu bleiben: Selbst Everybody’s Darling Meghan Markle soll einst eine Freundin gefragt haben, ob diese nicht 'irgendeinen berühmten Engländer' kenne, den sie ihr vorstellen könnte; er solle aber bitte keinen miesen Ruf haben …)
Ein spezielles Lob verdient die hochwertige Aufmachung des Werkes. Die Innenseiten des Umschlags sind hinreißend gestaltet und mit ausgewählten Zitaten und Bildern verziert worden, das ungewöhnlichste Extra bildet allerdings das erweiterte, umklappbare hintere Cover, welches die Buchseiten umschließen und wie ein Lesezeichen verwendet werden kann.
Fazit: 5 Sterne!
Was für ein umwerfender Debütroman! Ich bin hin und weg. Wann erscheint Band 2? Bitte bald!! Von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung für alle Janeites, Bridgerton-Liebhaber und Regency-Fans!