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Veröffentlicht am 29.09.2023

Schwammig, verschwurbelt, vage

Meine Männer
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Die Norwegerin Victoria Kielland beschäftigt sich in ihrem Roman „Meine Männer“ mit der historischen Figur der Brynhild/Bella/Belle Gunness, einer Frau, die aus Norwegen um die Jahrhundertwende 1900 herum ...

Die Norwegerin Victoria Kielland beschäftigt sich in ihrem Roman „Meine Männer“ mit der historischen Figur der Brynhild/Bella/Belle Gunness, einer Frau, die aus Norwegen um die Jahrhundertwende 1900 herum in die USA auswanderte und dort begann ihre Ehemänner bzw. später auch Anwärter auf eine Ehe umbrachte. Der Roman setzt bereits beim ärmlichen Leben der Siebzehnjährigen (damals noch) Brynhild auf einem norwegischen Bauernhof, auf welchem sie als Magd angestellt ist, ein. Sie scheint wild verliebt in den Hoferben, lässt sich auf sexuelle Kontakte ein, die zwischen leidenschaftlichem und gewaltvollem Sex oszillieren und wird von ihm schwanger. Nach der Offenbarung ihm gegenüber prügelt er nicht nur das Kind aus ihr heraus, sondern scheinbar auch einen Teil ihres Vertrauens in die Menschen, spezieller die Männer. Nach dem Umzug in den Norden der USA beginnt sie Männer aus dem Weg zu räumen und sackt deren Geld ein, um vorgeblich ihre Kinder zu ernähren.

Das, was in der oben zusammengefassten Inhaltsangabe so verständlich und übersichtlich klingt, ist es im Text von Kielland keinesfalls. Kielland schreibt in einer Art und Weise vage, verschwurbelt, schwammig und nichtssagend, dass man zwischenzeitlich vergisst, um was es im Roman eigentlich geht. Obwohl nur 185 Seiten kurz, erschien dieser Roman so unaushaltbar lang, wie die Sätze der Autorin. Da der Schreibstil nicht immer mal wieder zwischendurch nur einen verschachtelten, vagen Satz präsentiert, über den man dann genüsslich nachdenken könnte, sondern durchweg derart formuliert wird, verliert man irgendwann die Lust daran, das Geschrieben tiefgründig verstehen zu wollen. Was zu Beginn noch wie die poetische, intensive Darstellung der ersten, verhängnisvollen Liebe dieser zukünftigen Serienmörderin wirkt, stellt sich schnell als durchgängiger Schreibstil heraus, der in seiner Schwammigkeit und künstlicher Aufgeladenheit mit philosophischer Tiefe das eigentliche Geschehen vollkommen überdeckt. Zwischenzeitlich hatte ich sogar vergessen, dass es um eine Mörderin geht, so vage werden ihre Handlungen dargestellt. Man springt von einer Anekdote zur nächsten, ohne sich irgendwo festhalten zu können.

Um vorab besser einschätzen zu können, ob man diesen Schreibstil aushält, habe ich hier nur drei Stellen herausgegriffen, die aber exemplarisch für den gesamten Roman stehen, für jeden einzelnen Satz in diesem Buch:

„Der durchgeprügelte Kopf, der Druck hinter den Augen, es hörte nie auf, jedes Mal explodierte dieselbe Erinnerung und rieselte langsam zu Boden, das schmelzende schwarze Licht breitete sich in jeden Winkel aus und stachelte hoch ins Gesicht, Gottes große Hand hob sie empor durch die Nacht, hinauf ins Licht, durch die Wolken hindurch, bis sie unter sich das sandig wüste Flussbett sah, alles was noch immer dort am Grund lag, trug sie zwischen den Bäumen hindurch, zu der stinkenden schwarzen Lache.“ (S. 51)

Am Anfang eines solchen Bandwurmsatzes hat man noch das Gefühl: Okay, ich habe eine Ahnung, was gemeint sein könnte. Aber mit zunehmender Aneinanderreihung von merkwürdigen Metaphern, verliert man jeglichen Halt und fragt sich, warum man das noch liest.

Im Verlauf wird es aber auch nicht besser:

„Bella war umgeben von ihresgleichen, Blut, Tränen und Urin, es flimmerte lautlos und ruhig, die Trauerweiber, die dasselbe Schiff genommen hatten wie sie, Familien, die lebten und starben, und trotzdem erkannte sie sich nicht wieder, es gab keine bewährte Liebe, nur einen Hauch Routine.“ (S. 121)

oder

„Und die anhaltendste Bewegung war weder Sehnsucht noch Liebe, sondern das Schlagen der Schmetterlingsflügel im Garten, war der Tod, das Auge, das dauernd Blickkontakt aufnahm, das anhaltendste, ewige Flimmern.“ (S. 157)

Alles verstanden? Es ändert übrigens nichts, wenn man den Kontext kennt, aus dem diese Zitate stammen.

Es tut mir leid, sehr hätte mich dieses Thema der ersten großen weiblichen Serienmörderin der USA literarisch aufgearbeitet interessiert. Aber bei dieser unglaublich vagen Sprache, konnte ich leider nicht viel bis gar nichts aus der Lektüre mitnehmen, denn an keiner Stelle (außer zu Beginn) hat mich dieser Roman abgeholt und mitgenommen in das Leben und die Psyche von Brynhild/Bella/Belle, von der ich so gern mehr erfahren hätte. So bleibe ich ahnungslos zurück und kann leider auch meinerseits nicht die Lektüre weiterempfehlen. Und dabei hat mich das tolle Cover doch gleich angelockt, die Leseprobe zumindest Interesse geweckt, der Roman dann aber doch enttäuscht. Schade.

2/5 Sterne

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Veröffentlicht am 29.09.2023

Eindrückliches Debüt der Nobelpreisträgerin

Sehr blaue Augen
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Aktuell erscheint im Rowohlt Verlag eine von Tanja Handels ins Deutsche überführte Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman „The Bluest Eye“ aus dem Jahre 1970. Vervollständigt wird die vorliegende ...

Aktuell erscheint im Rowohlt Verlag eine von Tanja Handels ins Deutsche überführte Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman „The Bluest Eye“ aus dem Jahre 1970. Vervollständigt wird die vorliegende Ausgabe durch ein Vorwort der Autorin selbst aus dem Jahre 2008 sowie ein Nachwort der afrodeutschen Buchautorin, Journalistin und Podcasterin Alice Hasters.

Morrison erschafft in ihrem Roman eine kleine Welt in einem Ort an den Großen Seen gelegen (also nicht den Südstaaten!) um das Jahr 1940 herum. In dieser Welt kommen eigentlich kaum weiße Menschen vor, trotzdem strotzt hier alles vor Rassismus. Denn wie wir eindrücklich nach der Lektüre von Morrisons Roman wissen: Es braucht nicht unbedingt die physische Anwesenheit von Weißen, um das Joch des Rassismus auf eine Schwarze Gemeinde wirken zu lassen.

Die kleine Pecola Breedlove führt als Elf- bzw. Zwölfjährige ein Leben in Elend und Armut, ohne viel Liebe von ihren Eltern zu erfahren und gleichzeitig als Außenseiterin in dieser Gemeinde zu gelten. Über vier Jahreszeiten beginnend mit dem Herbst hinweg begleiten wir nun Pecola aus verschiedenen Erzählperspektiven heraus. Eine davon ist Claudia, die mit ihrer Schwester Frieda Wegbegleiterin von Pecola ist und uns bereits auf den ersten Seiten eine harte Wahrheit mitteilt, der wir uns bis zum Ende des Buches mit all seinen Ursachen und Auswirkungen annähern werden: Pecola wird ein Kind von ihrem Vater bekommen. Gleichzeitig ist Pecola diejenige, die sich mehr als alles andere wunderschöne blaue Augen wünscht. Sie gilt in der Gemeinde als hässlich, die blauen Augen, wie bei dem Kinderstar Shirley Temple, sollen Erlösung bringen. Klar ist, hier hängen die Erfahrungen der Vorfahren Pecolas mit ihrem schlimmen Schicksal ebenso zusammen wie mit ihrem Wunsch, blaue Augen zu bekommen.

In ihrem leicht fragmentarisch aufgebauten Roman, ein Aufbau, der übrigens später die Autorin selbst gestört hat an ihrem Debüt, nähert sie sich mithilfe von vielen Deutungsebenen einem afro-feministischen Thema an. Wie wirkt sich der von den Weißen im Rahmen der Kolonisierung und des Sklavenhandels implementierte und noch Jahrhunderte bis zum heutigen Tage aufrechterhaltene Rassismus auf die betroffenen Schwarzen Menschen aus. Dabei geht sie ganz stark in die Tiefe und schlüsselt auf, wie Selbsthass auf die eigene Erscheinung genauso entsteht wie auch Colorismus. Unter Colorismus versteht man die Diskriminierung aufgrund unterschiedlich dunkler Hautnuancen, welcher innerhalb der Schwarzen Gemeinde vorhanden ist. Sehr dunkle Hautfarbe wird dabei als hässlich und damit negativ konnotiert, während hellere Hauttöne erstrebenswert erscheinen und eher präferiert werden. Gleichzeitig arbeitet die Autorin stichhaltig heraus, inwiefern die Frauen im Gegensatz zu den Männern ganz besonders diskriminiert werden.

Dies ist eine Abwärtsspirale, die einmal in Gang gesetzt bis hinunter auf die psychologische Mikroebene schwerst Versehrte zurücklässt. Im vorliegenden Fall stellt Pecola exemplarisch diese Person dar, die der Maschinerie zum Opfer fällt und auf schlimmste Art und Weise bezahlen muss für etwas, was dieses unschuldige Kind definitiv nicht verbrochen hat.

Wie Morrison sowohl versteckt durch viele Andeutungen, Metaphern und manchmal auch erschreckend direkte Formulierungen diesen Roman soziologisch wie auch psychologisch absolut stimmig erschafft, zeugt bereits von dem Talent und Ehrgeiz, der sie später zum Nobelpreis führen wird. Manche Formulierungen wirkten – zumindest in der aktuellen Übersetzung, wie dies im Original aussieht, kann ich nicht beurteilen – ab und an etwas sperrig. Der Einstieg in den Roman fiel mir zunächst nicht ganz leicht, aber mit zunehmender Seitenzahl entwickelte er einen massiven Sog. Es gibt so viel hier in den Zeilen und zwischen den Zeilen zu entdecken, was sicherlich mithilfe eines Austauschs mit anderen Leser:innen besser zu zutage gefördert werden kann, als in der Einzellektüre.

Somit bekommt die Autorin für ihren meisterhaften Debütroman und der Verlag mit seiner ausführlichen Neuauflage von mir aufgerundet die volle Punktzahl. Eine wirklich dringend zu empfehlende Lektüre zum Thema Rassismus und seine Folgen bis in die Tiefen der Psyche der Betroffenen.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 17.09.2023

Das Gaunermanifest

Die Regeln des Spiels
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Mit „Crook Manifesto“ (dt. Titel „Die Regeln des Spiels“) legt Colson Whitehead nach „Harlem Shuffle“ den zweiten Teil seiner „Harlem Trilogy“ vor. Somit begegnen wir hier erneut Ray Carney, den wir bereits ...

Mit „Crook Manifesto“ (dt. Titel „Die Regeln des Spiels“) legt Colson Whitehead nach „Harlem Shuffle“ den zweiten Teil seiner „Harlem Trilogy“ vor. Somit begegnen wir hier erneut Ray Carney, den wir bereits aus dem Vorgängerroman kennen, ebenso wie andere Figuren, die man schon damals lieben oder hassen gelernt hat. Carney, der sich einige Jahre ganz ohne krumme Geschäfte allein auf sein Möbelgeschäft konzentriert hat, kommt in den 1970ern an und mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts wird er auch wieder in die Kriminalität gezogen. Der Auslöser passt zum amüsant-lakonischen Schreibstil Whiteheads: Seine Tochter möchte der The Jackson Five live sehen, die Tickets sind heiß begehrt und schon längst ausverkauft, also muss sich Carney an alte, halbseidene Kontakte wenden, um an die Tickets zu kommen. Dies setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, die wir in drei Buchabschnitten mit dem bereits aus „Harlem Shuffle“ bekannten zwei bis drei Jahressprüngen nun miterleben.

Wie schon erwähnt, glänzt auch dieser Roman von Colson Whitehead mit einem großartigen Schreibstil zwischen amüsant-lakonisch, soziologisch-beobachtend und klug-knallharten Feststellungen. Sofort schafft es der Autor uns in das New York, oder spezieller das Harlem, der 1970er Jahre hineinzusaugen. Die Atmosphäre aus dem Versuch der Menschen zum sozialen Aufstieg und der zunehmenden Verwahrlosung des Viertels wird von Zeile eins an greifbar. Während die einen sich durch Korruption und die anderen mithilfe von Brandstiftung und Versicherungsbetrug die Taschen voll schlagen, verarmt die Masse und lebt in heruntergekommenen Häusern mit der ständigen Angst vor Drogen, Kriminalität, dem Abbrennen des eigenen Wohnblocks und der willkürlichen Polizeigewalt. Dazwischen befindet sich Ray Carney und sein väterlicher Freund Pepper. Carney sticht wie schon bekannt durch seine treffsicheren Beobachtungen zur Möbelauswahl an einem Ort des Verbrechens hervor; Pepper durch seine stoische Ruhe und gleichzeitig explosiv auftretende Gewalt. Beide Figuren wachsen der Leserschaft während des Romans richtig ans Herz, man ist voller Empathie, wenn nicht gar Sympathie, für die beiden. Denn Whitehead schafft es, dass niemand eindimensional „gut“ oder „böse“ dargestellt wird. Alle Figuren bewegen sich im Graubereich. Es wird nichts beschönigt und trotzdem merkt man den Figuren ihre Menschlichkeit an. Dies hat der Autor zur wahren Perfektion gebracht.

Inhaltlich erfahren wir unglaublich viel über die Zusammenhänge von städtebaulicher Entwicklung, Korruption,Fehlplanungen und schlechtem Handling durch die gewählten Volksvertreter. So wird ein Stadtviertel der Minderheiten, ebenso wie Teile Brooklyns und der Bronx, abgehängt, vernachlässigt und geht ganz nach dem „Broken Window“-Prinzip den Bach runter. Aber auch ganz dem Buchtitel (sowohl dem Original- als auch dem deutschen Titel) nach geht es darum, mit welchen Regeln das Spiel der Ganoven gespielt wird. So heißt es auf Seite 221:

„Man hatte eine Hierarchie des Verbrechens, des moralisch Akzeptablen und Nichtakzeptablen, ein Gaunermanifest, und wer sich an einen weniger strengen Kodex hielt, war eine Kakerlake. Ein Nichts.“

Und das Prinzip der Kriminalität auf höherer Ebene wird auf Seite 316 kurz und umso eindringlicher festgehalten:

„Nicht auszurottende Bestechung, wie die nicht auszurottende Brandstiftung. Ist es erst einmal in Gang gekommen, hört es nicht mehr auf.“

Fast alle meine Kritikpunkte am Aufbau des Romans haben sich in Luft aufgelöst als ich erfuhr, dass dieser zu einer Trilogie gehört und ein Abschluss der Reihe erst mit dem nächsten Roman von Whitehead zu erwarten ist. Die einzige, minimale Kritik an diesem ansonsten wirklich wie vom Autor gewohnt meisterhaft geschriebenen Roman: Ab und an gibt es kleine Längen im Text. Der Autor zeigt hier die Angewohnheit, häufig recht weit auszuholen und ausufernd zu berichten, wenn er eine Nebenfigur oder ein Szenario mithilfe von Rückblicken beschreibt. Das hat dann letztlich meist alles eine Funktion, trotzdem muss man sich da ein bisschen durchhangeln.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl ist zu Beginn noch an der ein oder anderen Stelle etwas holprig, in der Gesamtheit aber durchaus gelungen.

Somit kann ich die Lektüre des Romans definitiv empfehlen. Es ist allerdings ratsam zunächst „Harlem Shuffle“ zu lesen, da sehr viele Figuren aus diesem Vorgängerroman hier wieder auftauchen und manche Vorgänge als bekannt vorausgesetzt und nur noch einmal kurz umrissen werden.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Die Weißen können schlafen, die Schwarzen müssen dienen

Der Schlafwagendiener
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Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, ...

Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, der für den Großteil des Romans einen Zug von Montreal nach Vancouver im Jahre 1929 betreut, ins Zentrum ihrer Geschichte. Dieser muss nicht nur mit dem Rassismus der Passagiere und Vorgesetzten klarkommen, sondern auch seine Homosexualität verheimlichen, die ihn damals mindestens ins Gefängnis gebracht hätte. Wir folgen nun diesem Zug auf seiner vier Tage (plus) Tour quer durch Kanada und erleben auf eindrückliche Weise, wie menschenunwürdig Baxter und seine anderen Schlafwagendienerkollegen behandelt werden.

Mit Baxter hat die Autorin eine äußerst interessante Figur geschaffen. Er arbeitet schon seit vielen Jahren als Schlafwagenfahrer, das alles aber nur, um sich die Fortführung seines Zahnmedizinstudiums leisten zu können. Neben seinem Faible für Zahnstellungen und dentalen Erkrankungen ist er außerdem ein großer Science-Fiction-Fan und steckt stets die Nase in ein entsprechendes Buch. Aber diese beiden Eigenarten stellen natürlich keine Gefahr für ihn dar. Im Gegensatz dazu existiert jedoch eine ständige Bedrohung durch den massiven Rassismus und die Homophobie der damaligen Zeit. Mayr rückt nicht nur diese beiden Formen der Unterdrückung ins Zentrum ihrer Geschichte, auch Klassismus und die fehlenden Rechte der Arbeiterklasse werden aufgegriffen. Alles hängt hier ohne Frage miteinander zusammen und scheint Baxter zu zerstören.

Die Autorin entwirft sprachlich gekonnt verschiedenste Passagiercharaktere, die scheinbar alle nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick haben und auf sehr hohem Niveau über jede Kleinigkeit im Zug und in der Gesellschaft zum Meckern ansetzen. So schreibt sie auf Seite 46-47:

„Die Leute richten sich auf den weichen Matratzen ihrer Kojen ein, mitsamt ihren Koffern und Schachteln, ihren Hüten, Nachthemden und Morgenröcken, ihren überflüssigen Ansichten und den unerschöpflichen Bedürfnissen und Scheinbedürfnissen der Gutsituierten:…“

Während zu Beginn dieses Konglomerat aus Gutsituierten noch wie ein hochnäsiger Einheitsbrei wirkt, zeichnen sich vor allem zum Ende hin feine Differenzierungen zwischen den Fahrgästen ab, die einem nicht sämtliche Hoffnungen auf das Gute im Menschen verlieren lassen. Im absoluten Kontrast zum Leben auf der Seite der Bedienten im Zug und in der Gesellschaft steht das der Diener. Diese leben, stellvertretend dargestellt durch Baxter, am Existenzminimum, können sich kaum das Essen in der Angestelltenkantine leisten und arbeiten sich um ihre physische wie auch psychische Gesundheit, bekommen sie doch kaum Schlaf und Nahrung, sind ständig auf den Beinen. So entwickeln sich bei Baxter zunehmend Ausfallerscheinungen im Sinne von zum Beispiel kaum noch von der Realität zu unterscheidende Halluzinationen.

Wie lang so ein mehrtägiger Arbeitseinsatz, eingeschlossen in einem Zug, mit der ständigen Angst sogenannte Strafpunkte durch angebliches Fehlverhalten zu sammeln und letztlich entlassen zu werden, vermittelt Mayr passend durch ihren Schreibstil. Man hält das unablässige Klingeln nach dem „George“ (alle Schwarzen Diener erhielten den Namen George und wurden nicht bei ihrem richtigen Namen genannt), die nervenden Wünsche, Sonderbarkeiten und Typen der Passagiere kaum aus, hat das Gefühl der Zug und die Geschichte komme kaum voran, bis es dann doch endlich erlösend weitergeht. Zeitweise erscheinen 240 Buchseiten unendlich lang, aber das ist meines Erachtens literarisch so gewollt und erfüllt damit eine Funktion, nämlich die wichtige des „Show, don‘t tell“.

Trotzdem erzählt uns Mayr natürlich sehr viel mit ihrem Roman und weck dadurch nicht nur ein Bewusstsein für die vielen Wege der Unterdrückung von Minderheiten sondern auch für ein historisches Detail, welches sonst fast vergessen wäre, nämlich die „10 000 Black Men Named George“ (nach einem Filmtitel von Regisseur Robert Townsend), die Schwarzen Diener einer weißen Oberschicht. Übrigens ist der Filmtitel nur eine von sehr vielen Literatur- bzw. Quellenhinweisen, die die Autorin ihrem Buch angehängt hat. Neben der großartigen Recherchearbeit der Autorin sollte außerdem noch die ebenso großatige Übersetzungsleistung von Anne Emmert gewürdigt werden, die den Text von Mayr gekonnt ins Deutsche gebracht hat.

Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für dieses Buch mit einem selten beleuchteten Setting.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Volle Punktzahl in der A- und B-Note

Seemann vom Siebener
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Im Freibad darf nicht fotografiert werden. Das weiß doch jeder und jede. Lenny ist dafür vor 25 Jahren aus dem Freibad von Bademeister Kiontke verbannt worden. Nun kehrt Lennard als gefeierter Kunst- und ...

Im Freibad darf nicht fotografiert werden. Das weiß doch jeder und jede. Lenny ist dafür vor 25 Jahren aus dem Freibad von Bademeister Kiontke verbannt worden. Nun kehrt Lennard als gefeierter Kunst- und Kriegsfotograf wieder in seine Heimat zurück, denn Max, ein ehemaliger Jugendfreund ist gestorben und seine Beerdigung steht an. Doch statt zur Beerdigung geht Lenny ebenso wie Joe, Josefine, die Witwe von Max, erst einmal am letzten Wochenende der Saison ins alte Freibad. Aber eigentlich dreht sich die Geschichte von Arno Franks Roman „Seemann vom Siebener“ gar nicht so richtig um diese beiden Figuren. Nein, er dreht sich um viele Personen, die an diesem einen Tag das Freibad besuchen und alle ihren Gedanken und Problemen nachhängen. So auch Isobel, eine hoch betagte Dame, deren Ehemann das Freibad erbaute und die noch heute als ehemalige Lehrerin von vielen Freibadbesucher:innen erkannt wird. Und noch viele andere.

Arno Frank erschafft ein ganz wunderbares Tableau in diesem Freibad an diesem einen Tag im September. Jede Person bekommt ihr zugewiesene Kapitel, in denen wir in ihre Gedankenwelt eintauchen dürfen. Wirklich brillant gibt der Autor jeder Figur ihre eigene, personale Erzählstimme, die neben dem reinen Inhalt der geschriebenen Worte, allein schon durch die Form die jeweilige Figur vor dem inneren Auge entstehen lassen. Ein Mädchen bekommt als einzige die Ich-Erzählstimme zugewiesen. Sie ist es, die vorhat an diesem Tag vom gesperrten Siebeneinhalb-Meter-Turm einen Seemann-Köpper zu springen.

Ich bin absolut begeistert davon, wie es Frank schafft, mit nur wenigen Pinselstrichen seine Figuren lebendig werden zu lassen. Man glaubt es kaum, aber auf den nur knapp 240 Seiten taucht man so tief in die Psychen der Personen ein, dass man das Gefühl hat, gerade selbst vom Siebener gesprungen und fast bis auf den Grund der Dinge getaucht zu sein. Oder, um ein anderes Bild zu verwenden: Bei richtig gut geschossenen Portrait-Fotografien hat man das Gefühl das ganze Leben dieser Menschen, ihre Wünsche und Sorgen herauslesen zu können. So gelingt dies Arno Frank in seinem Roman.

Deshalb gibt es kurzerhand von mir die volle Punktzahl sowohl in der A- als auch in der B-Note für dieses Lesehighlight und eine absolute Leseempfehlung!

5/5 Sterne

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