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Veröffentlicht am 23.07.2023

Ein Wimmelbild an Motiven und Gesellschaftskritik

Der Kaninchenstall
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In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. ...

In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. Das ist wild, überbordend und experimentell.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die 19jährige Blandine Watkins in einer heißen Sommernacht aufgeschlitzt auf dem Boden ihrer WG-Apartment C4 liegen und ihren Körper im Zuge dessen verlassen wird. Das Apartment ist eins von vielen in einem günstigen Sozial-Wohnblock, genannt „Der Kaninchenstall“. Sofort wird aber der Blick von dieser angerissenen Szenerie wieder weg gelenkt hin zu anderen Apartments, hin zu anderen Bewohnern dieses Sozialbaus. Wir treten einen Schritt zurück ein paar Tage in die Vergangenheit und nähern uns dann zusammen mit verschiedenen Beteiligten erneut dieser verhängnisvollen Nacht.

Über verschlungene Pfade erfahren wir stückchenweise mehr über den Hintergrund von Blandine, aber auch von anderen Personen, sogar gerade verstorbenen, die gar nichts mehr zum eigentlichen Plot beitragen. Durch diese Methode nimmt die Autorin Personen aus der Hollywood-High-Society ebenso ins Visier wie ganz einfache Menschen mitten im Nirgendwo der USA. Wir lernen einen Ort, Vacca Vale, südlich des Lake Michigan gelegen, kennen, der mit der Reagan-Ära anfing unterzugehen und sich nun versucht neu zu erfinden. Statt Auto- und Metallindustrie sollen digitale Start-Ups in den Ort gelockt werden. Dafür muss ein (das einzige) Naherholungsgebiet des Ortes bebaut werden, etwas, was Blandine nicht akzeptieren will und sich dagegen wehrt.

Aber eigentlich ist es schwer, die Handlung dieses Buches sinnvoll zu illustrieren. Greift doch der Roman sehr viele aktuelle gesellschaftliche Themen der USA auf. Die Protagonisten sind vielmehr Spiegel der Gesellschaft. In ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen erkennt man sehr heiß diskutierte Themenkomplexe der vergangenen Jahre wieder. Machtmissbrauch und Missbrauch durch Personen mit Macht, Klimawandel und Umweltkatastrophen, soziale Medien und dadurch unsozial gewordene Menschen, und und und. Häufig bringt die Autorin diese Themen ganz latent durch ihre Figuren ein, manchmal aber auch mit der Holzhammer-Methode, wenn gerade Blandine (durchaus pointierte und nachvollziehbare) Monologe zu Problemthemen hält. An einer Stelle hat mich das gestört, da es nicht mehr zur Romanhandlung zu passen und Blandine in diesem Moment aus ihrer Rolle innerhalb der Szenerie zu treten scheint. Im Großen und Ganzen konnte ich allerdings akzeptieren, dass dieses Anreißen von Themen dem Stil dieser jungen amerikanischen Autorin, die scheinbar alle sie belastenden Themen in ihr Erstlingswerk einbringen wollte, entspricht. Mein Lesefluss wurde dadurch nicht unterbrochen.

Über weite Strecken bin ich der Autorin sehr gern in ihr wildes Wimmelbild der maroden amerikanischen Gesellschaft gefolgt, vor allem, da sie immer wieder (pop-)kulturelle Motive aufgreift, die sich durch den Roman ziehen. So tauchen immer wieder weiße Kaninchen auf, die eine potentielle Realitätsflucht, ähnlich wie Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau und damit ins Wunderland gefolgt ist, andeuten. Auch Parallelen zur Dorothy („Der Zauberer von Oz“) werden angedeutet. Taucht dann auch noch im Buch ein verstorbener Kinderstar auf, muss man gleich an Judy Garland denken, die die Dorothy mimte. Neben diesen Anspielungen, von denen ich wahrscheinlich nur die Hälfte erkannt habe, ist der Roman aus wiederkehrenden Motiven zusammengesetzt. So geht es immer wieder um Reizüberflutung, überreizte Haut, Hypersensibilität, Mystik bzw. Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte, psychedelische Farben und andere Wahrnehmungselemente. Traumatisierung einzelner wird mit Kapitalismuskritik gepaart. Ab und an könnte der Roman dadurch überladen wirken, ergibt aber meines Erachtens im Gesamtkonzept Sinn und lässt nachvollziehen, warum die Autorin mit David Foster Wallace vergleichen wird, auch wenn sie seine Klasse definitiv (noch) nicht erreicht.

Allein mit dem Ende des Romans konnte ich weniger anfangen. Für mich wirkte das Ganze nicht so richtig rund und ließ mich eher unbefriedigt zurück. Ohne um den heißen Brei herumzureden: Ich habe das Ende wahrscheinlich auch gar nicht gänzlich verstanden.

Insgesamt hat mir dieser Roman aber sehr gut gefallen. Ich bin Tess Gunty sehr gern in den Kaninchenstall gefolgt, war angefixt durch die Rahmenhandlung, deren Grundstock ja schon auf den ersten beiden Seiten gelegt wurde und habe ihre Anspielungen bzw. die Suche nach diesen geliebt. Von mir gibt es daher eine Leseempfehlung für Mutige, die einen experimentellen Stil mit wechselnden Erzählperspektiven und mitunter visuellen Elementen gepaart mit Gesellschaftskritik auf vielen Ebenen gern lesen. Eine neue kreative literarische Stimme, die ich gern in der Zukunft weiterverfolge.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.07.2023

Eine Familiengeschichte mit überraschenden Offenbarungen

Nur ein paar Nächte
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„Nur ein paar Nächte“ basiert schon einmal auf einer eher untypischen Grundvoraussetzung. Ben ist alleinerziehender Vater, okay soll es geben. Aber er ist derjenige gewesen, der unbedingt ein Kind haben ...

„Nur ein paar Nächte“ basiert schon einmal auf einer eher untypischen Grundvoraussetzung. Ben ist alleinerziehender Vater, okay soll es geben. Aber er ist derjenige gewesen, der unbedingt ein Kind haben wollte in seinem Leben. Seine damalige Partnerin wollte dies allerdings nie, hatte es ihm gleich zu Beginn der Beziehung klargemacht. Als sie schwanger wird, treffen sie die Abmachung, dass sie für ihn das Kind austragen wird, er aber danach ein eigenes Leben mit dem Kind beginnt. Dieses Kind ist Mia, 12 Jahre alt zum Zeitpunkt der Haupthandlung des Romans. Und damit steigen wir gleich in den Tumult ein. Mia will nämlich zusammen mit ihrem 6jährigen besten Freund von Stuttgart nach Hamburg fahren, um ihre Mutter kennenzulernen. Das geht schief und kurz bevor die Polizei sie wieder zuhause bei Ben absetzt, klingelt dessen Vater an die Haustür und bittet um Asyl. Bens Mutter hat ihn rausgeworfen, nachdem er sie betrogen hat.

Nun spielt sie auf einer Ebene die Handlung des Romans an genau diesem einen Wochenende ab, als nicht nur Bens Vater bei ihm und Mia auftaucht, sondern nach und nach ein großes, improvisiertes Familientreffen entsteht und endlich Geheimnisse ausgesprochen werden müssen, um eine Klärung untereinander zu erreichen. Außerdem erfahren wir durch Rückblicke immer mehr über die Beziehungen der Personen untereinander und den anbahnenden Geschehnissen aus der Vergangenheit, die alle in diesem Wochenende enden. Dabei wechselt der Autor die personale Erzählperspektive zwischen den Figur durch, was den Roman – neben den Rückblicken – unglaublich auflockert und bessere Einblicke gewährt.

Nach und nach kommt es somit zu direkten und indirekten Offenbarungen über die Figuren des Romans, mit denen man als Leser:in mitunter gar nicht gerechnet hat. Unglaublich süffig liest man sich durch das Familienchaos, was aber durch die liebevolle Art, mit der der Autor mit seinen Figuren umgeht, immer auch nachvollziehbar und sympathisch in der Gesamtheit wirkt. Die kurzen Kapitel fliegen nur so vorbei und nebenbei hat man Anteil an einem fast familientherapeutischen Wochenendworkshop. Das könnte jetzt sehr moralinsauer klingen, ist es aber nicht. Verschiedene Seiten zu verschiedenen Standpunkten werden ausgeleuchtet und es tut einfach gut, mal ein Buch zu lesen, in dem gezeigt wird, wie heilend es sein kann, sich miteinander auszusprechen.

Literarisch ist der Roman jetzt kein Highlight. Er ist sprachlich solide verfasst und wirkt hauptsächlich über den (sozial-)psychologisch interessanten Plot. Spannend wird es durch die überraschenden Offenbarungen über die Figuren. Gerade was die Tochter Mia betrifft kommt etwas im Laufe des Buches heraus, was ganz einfach nur toll ist, dass es in einem Roman aufgegriffen wird. Allein kurz vor Schluss gibt es noch so eine Offenbarung von Bens Schwester, die natürlich auch zum Familientreffen angereist ist, die dann doch etwas too much rüberkommt. Da tritt etwas eher Unwahrscheinliches auf, was ein kleines bisschen das Fass zum überlaufen bringt bezüglich ungewöhnlicher Lebensereignisse.

Insgesamt hat mir der Roman gut bis sehr gut gefallen. Hätte sich der Autor zum Schluss ein wenig mit dem Eifer zurückgehalten, hätte es mir noch besser gefallen. Trotzdem gibt es meinerseits eine Leseempfehlung für diese sympathische Familiengeschichte.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 03.07.2023

Der Keim der Gewalt

Lieblingstochter
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Die Schweizerin Sarah Jollien-Fardel thematisiert in ihrem Roman „Lieblingstochter“ eine familiäre Problematik, die sie selbst wohl auch kenne, dennoch sei ihr laut einem Interview wichtig zu betonen, ...

Die Schweizerin Sarah Jollien-Fardel thematisiert in ihrem Roman „Lieblingstochter“ eine familiäre Problematik, die sie selbst wohl auch kenne, dennoch sei ihr laut einem Interview wichtig zu betonen, dass es sich hierbei nicht um ihre eigene Geschichte handele.

Es geht um eine Frau, die in einem Dorf voller „Wegseher“ im Wallis zusammen mit ihrer älteren Schwester bei den Eltern aufwächst. Alle im Dorf sehen weg, wenn es darum geht, dass der Vater der Familie seine Ehefrau und die Kinder regelmäßig zusammenschlägt, die ältere Tochter sogar vergewaltigt. Um mit dieser Bürde psychisch irgendwie zurechtzukommen, verinnerlicht die ältere Tochter, dass sie die „Lieblingstochter“ des Vaters sei. Erzählt wird uns die Geschichte aus der Ich-Perspektive der Jüngeren. Diese begleiten wir bis in ihr Erwachsenenleben und erfahren dadurch, welche Folgen dieser Keim der Gewalt bei ihr hinterlassen hat.

Mit einer rauen, schnörkellosen Sprache, die die Autorin ihrer Protagonistin in den Mund legt, erfahren wir vieles aus dem Leben eines Mädchens und später einer Frau, welche scheinbar – bis auf ein einziges Mal – von der direkten körperlichen Gewalt des Vaters verschont geblieben ist. Sie erklärt es sich damit, dass sie dem Vater sehr ähnelt und er deshalb kaum an sie Hand angelegt habe. Dass der Vater einen aggressiven Keim in ihr gepflanzt hat, scheint bestätigt, wenn sie als Erwachsene und eigentlich dem Elternhaus Entwachsene selbst wütende Ausbrüche zeigt und mit ihren Liebsten ähnlich umzugehen scheint, wie dies damals ihr Vater getan hat.

Die stärksten Momente des Buches liegen dort, wo die Autorin mit ihrer unverblümten Sprache durch reines Erläutern des Geschehens, ohne viel Interpretation, die Wucht beschreibt, mit der der Vater handelt. Es bleibt einem beim Lesen der Atem weg, wenn der Vater noch die erwachsene Protagonistin angreift und sie zurückfällt in ihre aus der Kindheit tief verwurzelte Hilflosigkeit und Schockstarre. Auch kann man sich aus dem Text gut herleiten, wie die Beziehungsfähigkeit eines Menschen noch über viele Jahre hinweg durch eine solch gewalttätige Kindheitserfahrung geprägt wird.

Mir war das Buch aber insgesamt ein wenig zu stark verdichtet. Gern hätte die Autorin ein bisschen tiefer in die Psychologie der Figuren einsteigen dürfen. Außerdem empfand ich die Erzählperspektive an manchen Stelle nicht ganz stimmig. So scheint es, dass die Protagonistin ihre Geschichte aus der Zukunft heraus erzählt, hat sie doch z.B. das Wissen, wenn sie das erste Mal zu einem Psychotherapeuten geht, dass sie diesen noch mehr als zehn weitere Jahre besuchen wird und sagt uns dies auch. Wenn wir also davon ausgehen, dass die Erzählerin zu Beginn ihrer erzählten Geschichte bereits alles weiß, was die Erwachsene weiß, passt eine Sache gar nicht zusammen: Sie erwähnt zu Beginn, dass sie selbst als Kind vom Vater verschont geblieben sei, ihre Schwester hingegen sei sogar von ihm vergewaltigt worden. Später im Roman sagt sie jedoch, er habe auch sie vergewaltigt. Was aus der reinen Kindersicht Sinn macht, nämlich als Schutzmechanismus vor dem Trauma sich nicht an das Geschehene erinnern zu können, macht meinen Sinn mehr, wenn die an Erkenntnissen und vielen Jahren der Psychotherapie Gereifte uns ihre Geschichte von Anfang an erzählt. Aber vielleicht habe ich auch einfach etwas missverstanden…

Insgesamt empfinde ich dieses Buch als ein sehr wichtiges, welches sehr gut die Zusammenhänge von Gewalt in der Familie und zukünftige Beziehungsfähigkeit literarisch interessant darstellt. Lesenswert ist es auf jeden Fall und – wie ich finde – aufgrund der reduzierten Sprache auch „erträglich“ im Sinne von: man schafft es, das Schreckliche, was beschrieben wird, zu ertragen beim Lesen.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Vier Geschichten und ein mythischer Fels

Der weiße Fels
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Anna Hope zentriert die vier Geschichten ihres aktuellen Romans um einen mythisch aufgeladenen Fels an der Pazifikküste Mexikos herum. Ausgangspunkt ist die Geschichte einer nicht näher benannten Schriftstellerin, ...

Anna Hope zentriert die vier Geschichten ihres aktuellen Romans um einen mythisch aufgeladenen Fels an der Pazifikküste Mexikos herum. Ausgangspunkt ist die Geschichte einer nicht näher benannten Schriftstellerin, die mit ihrer vierjährigen Tochter und dem fremdgehenden Ehemann im Frühjahr 2020 aus Großbritannien nach Mexiko reist, um sich im Rahmen einer Pilgerreise für die Geburt ihrer Tochter zu bedanken. Denn erst nach einem Ritual der indigenen Bevölkerung wurde ihr Kinderwunsch erfüllt. Die Reise wird für sie die Gelegenheit darstellen, das Weiterführen ihrer Ehe zu überdenken.

Man sollte sich nicht von der Leseprobe zum Buch „abschrecken“ lassen, denn es geht in „Der weiße Fels“ bei weitem nicht nur um eine Schriftstellerin mittleren Alters, die mit ihrer Ehe hadert. Weit gefehlt. Wir springen zwar nicht in Raum aber definitiv in der Zeit. Denn schon der nächste Buchabschnitt beschäftigt sich nicht mehr mit „der Schriftstellerin“ sondern mit „dem Sänger“. Man braucht den Klappentext des Buches nicht, um schnell herauszulesen, dass es sich dabei um den Sänger der „The Doors“, Jim Morrison, handelt. Mr. Mojo Risin befindet sich im Jahre 1969 nämlich in einer Sinnkrise unter dem Druck des überwältigenden Erfolgs seiner Band und dem Eindruck von vielen verschiedenen Substanzen in seinem Körper. Nun begleiten wir ihn ebenso bei einer Art Pilgerfahrt zum weißen Fels. Dann springen wir wieder ein Stück in der Zeit zurück und landen im Jahre 1907, in dem „das Mädchen“ gerade aus ihrer Heimat verschleppt wird; ein Mädchen aus der indigenen Gemeinschaft der Wixàrika/Yoeme, welche seit den ersten kolonialen Bestrebungen der Krone Spaniens auf den amerikanischen Kontinenten verfolgt und ausgerottet wurde und noch immer wird. Und genau zu diesen Anfängen der Kolonisierung springen wir dann auch noch. Ins Jahre 1775 zu „dem Leutnant“, der mit Zwischenstation in der Nähe des weißen Felsens sich mit mehreren Schiffen nach Norden aufmachen soll, um die Bucht von San Francisco als einer der ersten Europäer zu vermessen und kartografieren.

Das Buch ist, wie bereits auf der ersten Seite, dem Inhaltsverzeichnis, klar wird, konzentrisch aufgebaut. In der Mitte steht der weiße Fels mit einem eigenen Kapitel und wir bewegen uns zunächst aus dem Jahre 2020 rückwärts darauf zu und ab der Hälfte auf dem Zeitstrahl wieder nach vorn zum Jahre 2020. Die Geschichten um die vier Protagonist:innen könnten auch für sich stehende Novellen darstellen, werden von Anna Hope jedoch geschickt miteinander zu einem runden Roman verzahnt. Diese Struktur des Romans hat mir sehr gut gefallen. Sie erinnerte mich an Michael Christies „Das Flüstern der Bäume“, in welchem die Kapitel genauso angeordnet, hier aber an die Jahresringen eines Baumes angelehnt sind.

Hope schreibt süffig und weiß durch ganz unterschiedliche Szenarien zu überzeugen. Die einzelnen Geschichten beinhalten neben dem weißen Fels als zentralen Moment aber noch weitere Parallelen. So geht es immer auch um Zwänge, Verpflichtungen, Ausbeutung, Unfreiheit und das Suchen nach der Freiheit. Seien es die Verpflichtungen in einer Familie und Ehe, die Zwänge der körperlichen Abhängigkeit, die Loyalität zur Krone oder die Unfreiheit der Verfolgung aufgrund der ethnischen Herkunft. Alle Protagonist:innen hadern mit der Freiheit. Ebenso zieht sich das Thema der Kolonisierung Mittelamerikas und die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch alle Texte und damit auch durch alle Zeiten. Über fünfhundert Jahre lang wurden diese Menschen verfolgt, das wird durch diesen Roman an persönlichen Geschichten mal mehr mal weniger stark subtil dargestellt.

Allein das Ende des Romans, welches wieder zurückzoomt auf „die Schriftstellerin“ und ihre Probleme, konnte mich nicht ganz überzeugen, wird doch besonders im mittleren Teil die ganz große Historie des Kolonialismus aber im Kleinen anhand von Einzelschicksalen erzählt. Trotzdem handelt es sich hierbei um ein definitiv lesenswertes Buch, welches das Licht auf eine Weltregion und deren indigene Bevölkerung wirft, die bezogen auf die Dekolonisierung (ein Begriff, den die Autorin in ihren ausführlichen Anmerkungen am Ende des Buches aufgreift) bisher nur selten in der Literatur aufgegriffen wurde. Eine sehr bereichernde und dennoch leichtfüßige Lektüre.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Eine leise Dystopie, die umso lauter nachhallt

Und dann verschwand die Zeit
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Um ehrlich zu sein, konnte ich mit dem philosophisch-verkopften Vorgängerroman von Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ gar nichts anfangen. Zum Glück ist mir erst jetzt während des Schreibens ...

Um ehrlich zu sein, konnte ich mit dem philosophisch-verkopften Vorgängerroman von Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ gar nichts anfangen. Zum Glück ist mir erst jetzt während des Schreibens der Rezension aufgefallen, dass es sich hierbei um dieselbe Autorin handelt, sonst hätte ich vielleicht vorschnell die Finger von „Und dann verschwand die Zeit“ gelassen. Da hätte ich wirklich etwas verpasst!

In ihrem aktuellen Roman entwirft die Autorin ein dystopisches Szenario, welches in der nahen Zukunft im Küstengebiet Großbritanniens angesiedelt ist. Gleich zu Beginn wird klar: das Meer hat sich die Küste hinauf gefressen und eine Flussmündung ist langfristig überflutet. Eine zusammengewürfelte Truppe versucht im „High House“, einem - schon dem Namen zu entnehmend - etwas erhöht liegendem Anwesen mit Garten, Wasserrad und Holzofen abgeschnitten vom Umland zu überleben. Dieses Szenario könnte man sich ganz leicht als apokalyptischen Blockbuster vorstellen, in dem sehr viel und vor allem sehr laut passiert. Aber so ist das Buch von Greengrass überhaupt nicht angelegt.

Das Figurenensemble zum Beispiel besteht aus einem Halbgeschwisterpaar. Bei Eintreffen im High House, ist Caro noch keine 20 Jahre und ihr kleiner Halbbruder Pauly erst ca. vier Jahre alt. Sie musste schon früh eine mütterliche Rolle übernehmen, war doch die leibliche Mutter von Pauly schon vor den Ereignissen, die zur Übersiedlung ins High House geführt haben, mehr ab- als anwesend. Die Klimaforscherin schien mehr Interesse daran zu haben, die Welt vor der Klimakatastrophe zu schützen, als Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Als die beiden im High House ankommen, leben dort aber bereits zwei Personen. Die ungefähr Mitte 20jährige Sally und ihr Großvater Grandy. Nun müssen sich diese Menschen nicht nur mit den anstehenden Naturkatastrophen arrangieren sondern auch mit sich untereinander. Greengrass lässt dabei ihre Leserschaft tief in die Köpfe drei der Protagonisten eintauchen, indem sie im wechselnden Rhythmus Sally, Caro und Pauly als Ich-Erzähler:innen pro Kapitel einsetzt. Wir erfahren dadurch immer mehr, wie es zu dieser Ausnahmesituation gekommen ist und bleiben meist ganz nah an den persönlichen Erfahrungen der Protagonist:innen.

Da sich die Autorin sowohl bezogen auf die Figuren aber auch das geografische Umfeld im Mikrobereich bewegt und gar nicht ein weltumfassendes Makrobild des Zustandes der Erde und der Menschheit entwirft (jedoch durchaus an der ein oder anderen Stelle erahnen lässt), bleibt der Roman stets sehr ruhig in seiner Erzählweise. Es müssen nicht immer die großen Dramen ausgepackt werden, um zu zeigen, was die Veränderung unserer Lebensbedingungen auf dieser Erde ganz konkret für einzelne Personen bedeuten kann. Sie präsentiert uns auch keine eindeutigen Heldenfiguren oder Bösewichte, vieles bleibt grau und diesig wie die Landschaft im Roman.

Was mich zu einer weiteren Stärke dieses Romans führt: Die ruhigen ganz detaillierten Naturbeschreibungen der Autorin lassen ganz ohne Effekthascherei ein düsteres Bild der zukünftigen, und leider nicht mehr ganz so fernen, Lebensumstände für Flora und Fauna im Kopf der Leserschaft auferstehen. Durch Erzählstil, welcher nach und nach durch die Augen der verschiedenen Figuren diese Welt für die Lesenden sichtbar macht, wird man Stück für Stück in die düstere Atmosphäre eingesogen und kann sich nur sehr schwer daraus befreien.

Wenn man schon gar nicht erst in dieser Szenerie landen möchte, die sich weit ab von romantisierten Selbstversorgungsfantasien bewegt, so bietet einem die Autorin auch keinen klaren Ausweg daraus an. Sie lässt vieles offen und behandelt letztlich auch die Frage, wie lebenswert ein Leben ist, wenn man eine Katastrophe zwar überlebt hat, dann aber auch irgendwie weiterleben muss. Den Themen nähert sich Greengrass sehr ruhig, was den Inhalt des Buches während und nach der Lektüre nicht weniger laut nachhallen lässt. Für mich ein absolut empfehlenswertes Lesehighlight, fernab von jedem Katastrophentourismus.

„Man denkt, man hat noch Zeit. Und dann hat man plötzlich keine mehr.“

5/5 Sterne

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