Alles „nur“ ein Traum?
ChichNicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen ...
Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen des Traums eingreifen kann. Ein wissenschaftlich hoch spannendes Thema, welches Jonas R. Kairies in einer postapokalyptischen Rahmenhandlung aufgreift.
Der Protagonist des Romans besitzt die Fähigkeit zum Klarträumen und wird immer tiefer in die Handlung seiner Klarträume hineingezogen. Im vermeintlichen Wachzustand lebt er in einer Welt, die in einer nicht näher bezeichneten Zukunft, nach einem nicht näher bezeichneten Zusammenbruch der Gesellschaft angesiedelt ist. Sein älterer Mentor Alfons leitet ihn darin an, seine Klarträume genauer zu betrachten und sich diese zunutze zu machen. Ein bestimmter Klartraum taucht dabei immer wieder auf: Der Protagonist findet sich in einer scheinbar vormittelalterlichen Zeit wieder, in einem fremden Körper, der von Narben gezeichnet ist und auf die Menschen abstoßend wirkt. Die Sprache der Menschen versteht er nicht, auch kann er sich nicht laut ausdrücken. Schnell wird klar, er hat keine Ahnung, wie man in dieser Zeit überlebt, ist er doch einen gewissen technischen Stand aus seiner Wachzeit gewöhnt.
Kairies entwirft geschickt diese beiden Welten aus postapokalyptischer Wiederaufbauphase und antiker Landschaft. Während wir in seiner Wachzeit mehr über die neuen gesellschaftlichen Strukturen erfahren, die mit Ressourcenknappheit versucht eine neue Ordnung zwischen den Menschen aufzubauen, wird sehr realistisch dargestellt, wie verloren ein moderner Mensch zu Vorzeiten sein würde. Dort gibt es zwar noch Wälder, Pflanzen, Tiere aber sich diese zunutze zu machen, muss erlernt sein. Zum Glück steht dem Ich-Erzähler bald ein Junge zur Seite, der ihm hilft, im Wald und in der Dorfgemeinschaft über die Runden zu kommen. Nur verschwimmen damit auch zunehmend für den Protagonisten die zunächst noch deutlichen und später nur noch feinen Linien zwischen Traum und Realität.
Die größte Stärke des Romans zeigt sich meines Erachtens in der Fähigkeit Kairies diese beiden Welten, obwohl in einem phantastischen Setting, unglaublich realistisch und glaubhaft zu erschaffen. Der Protagonist ist menschlich und kann daher nicht einfach alles. So fühlt man sich selbst in die Situation versetzt, wie man als verwöhnter, moderner Mensch überhaupt in diesem Traumszenario überleben würde. Geschrieben ist das alles in einem soliden Stil, der ab und an saloppe, alltagssprachliche Formulierungen einbindet, insgesamt aber sprachlich durchaus auf einem sehr guten Niveau changiert. So taucht man ganz schnell in die angebotenen Atmosphären ein und liest süffig und gern das Buch, möchte nach dem Cliffhanger zum Schluss am liebsten sofort mit dem, bisher noch nicht erhältlichem, Nachfolgeband weitermachen. Nach meinem Geschmack hätte es gerne noch mehr Ausführungen zum postapokalyptischen Erzählstrang, in den wir immer wieder zurückkehren, geben können. Wie aber bereits der Titel zeigt, liegt die Gewichtung des Romans eindeutig auf dem Phänomen des luziden Traums und der Frage nach der Realität. Was ist Wirklichkeit? Können wir dies tatsächlich klar festlegen? Und was sind eigentlich Träume? Wohin führen sie uns? Kairies stellt mit diesem Roman auf philosophischer Ebene das Konzept des Träumens in Frage, beleuchtet es und sortiert es neu.
Kleinere formelle Schwachstellen des gedruckten Buches stelle ich bei meiner Bewertung hinten an und runde auf 4 Sterne auf. Deshalb kann ich Interessierten die Lektüre dieses Buches über das Wesen von Klarträumen wirklich empfehlen. Ich habe es sehr gern gelesen. Personen, die selbst sehr intensiv und luzide träumen, werden sich hier mitunter wiederfinden und Menschen, denen dies nicht gegeben ist, können sich in diese Erfahrungen hineinfallen lassen und etwas Neues erleben.
3,5/5 Sterne