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Veröffentlicht am 11.09.2023

Alles „nur“ ein Traum?

Chich
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Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen ...

Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen des Traums eingreifen kann. Ein wissenschaftlich hoch spannendes Thema, welches Jonas R. Kairies in einer postapokalyptischen Rahmenhandlung aufgreift.

Der Protagonist des Romans besitzt die Fähigkeit zum Klarträumen und wird immer tiefer in die Handlung seiner Klarträume hineingezogen. Im vermeintlichen Wachzustand lebt er in einer Welt, die in einer nicht näher bezeichneten Zukunft, nach einem nicht näher bezeichneten Zusammenbruch der Gesellschaft angesiedelt ist. Sein älterer Mentor Alfons leitet ihn darin an, seine Klarträume genauer zu betrachten und sich diese zunutze zu machen. Ein bestimmter Klartraum taucht dabei immer wieder auf: Der Protagonist findet sich in einer scheinbar vormittelalterlichen Zeit wieder, in einem fremden Körper, der von Narben gezeichnet ist und auf die Menschen abstoßend wirkt. Die Sprache der Menschen versteht er nicht, auch kann er sich nicht laut ausdrücken. Schnell wird klar, er hat keine Ahnung, wie man in dieser Zeit überlebt, ist er doch einen gewissen technischen Stand aus seiner Wachzeit gewöhnt.

Kairies entwirft geschickt diese beiden Welten aus postapokalyptischer Wiederaufbauphase und antiker Landschaft. Während wir in seiner Wachzeit mehr über die neuen gesellschaftlichen Strukturen erfahren, die mit Ressourcenknappheit versucht eine neue Ordnung zwischen den Menschen aufzubauen, wird sehr realistisch dargestellt, wie verloren ein moderner Mensch zu Vorzeiten sein würde. Dort gibt es zwar noch Wälder, Pflanzen, Tiere aber sich diese zunutze zu machen, muss erlernt sein. Zum Glück steht dem Ich-Erzähler bald ein Junge zur Seite, der ihm hilft, im Wald und in der Dorfgemeinschaft über die Runden zu kommen. Nur verschwimmen damit auch zunehmend für den Protagonisten die zunächst noch deutlichen und später nur noch feinen Linien zwischen Traum und Realität.

Die größte Stärke des Romans zeigt sich meines Erachtens in der Fähigkeit Kairies diese beiden Welten, obwohl in einem phantastischen Setting, unglaublich realistisch und glaubhaft zu erschaffen. Der Protagonist ist menschlich und kann daher nicht einfach alles. So fühlt man sich selbst in die Situation versetzt, wie man als verwöhnter, moderner Mensch überhaupt in diesem Traumszenario überleben würde. Geschrieben ist das alles in einem soliden Stil, der ab und an saloppe, alltagssprachliche Formulierungen einbindet, insgesamt aber sprachlich durchaus auf einem sehr guten Niveau changiert. So taucht man ganz schnell in die angebotenen Atmosphären ein und liest süffig und gern das Buch, möchte nach dem Cliffhanger zum Schluss am liebsten sofort mit dem, bisher noch nicht erhältlichem, Nachfolgeband weitermachen. Nach meinem Geschmack hätte es gerne noch mehr Ausführungen zum postapokalyptischen Erzählstrang, in den wir immer wieder zurückkehren, geben können. Wie aber bereits der Titel zeigt, liegt die Gewichtung des Romans eindeutig auf dem Phänomen des luziden Traums und der Frage nach der Realität. Was ist Wirklichkeit? Können wir dies tatsächlich klar festlegen? Und was sind eigentlich Träume? Wohin führen sie uns? Kairies stellt mit diesem Roman auf philosophischer Ebene das Konzept des Träumens in Frage, beleuchtet es und sortiert es neu.

Kleinere formelle Schwachstellen des gedruckten Buches stelle ich bei meiner Bewertung hinten an und runde auf 4 Sterne auf. Deshalb kann ich Interessierten die Lektüre dieses Buches über das Wesen von Klarträumen wirklich empfehlen. Ich habe es sehr gern gelesen. Personen, die selbst sehr intensiv und luzide träumen, werden sich hier mitunter wiederfinden und Menschen, denen dies nicht gegeben ist, können sich in diese Erfahrungen hineinfallen lassen und etwas Neues erleben.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 05.09.2023

Unentdecktes „Grooming“ in der Kirchengemeinde

Die Stärkste unter ihnen
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In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen ...

In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.“ Ich musste den Begriff selbst erst nachschlagen. Ist zwar das Vorgehen durchaus bekannt, so hat das ganze jetzt auch einen Namen. Und mit dem Roman von Seemann bekommt es auch noch eine Geschichte.

Da ist Milena, die im Alter von 15 Jahren eine „Beziehung“ mit dem 35jährigen, verheirateten Kirchenmitarbeiter Nick gerät. Nick ist bei allen Kindern und Jugendlichen in der Kirchengemeinde beliebt. Er weiß mit jungen Menschen umzugehen, so scheint es von außen. Nur wenige fragen sich, warum er ausschließlich Jugendliche in seinem Freundeskreis hat und sich scheinbar gar nicht mit Gleichaltrigen abgibt. Die „Beziehung“ von Milena und Nick wird sechs Jahre anhalten, bis sie den Absprung schaffen und sich von ihm trennen wird. Das erfahren wir gleich zu Beginn des Romans, wenn Milena kurzerhand nach der Trennung in 2014 zu Josh nach Irland reist und sich direkt in die nächste merkwürdige Verbindung wirft.

Mithilfe von Rückblicken erfahren wir nach und nach, wie diese „Beziehung“ zwischen Milena und Nick zustande gekommen ist und welche Abscheulichkeiten die verliebte Milena alles ertragen musste. Bis zum Schluss bezeichnet sie die Verbindung zum Täter Nick als „feste Beziehung“, nimmt zwar zunehmend wahr, dass da etwas nicht richtig sein kann, bleibt aber für lange Zeit in dem Gefühl des Verliebtseins verhaftet. Nick unterdessen hat nicht nur mit der 15jährigen von Beginn an Sex, sondern überredet sie auch, mit fremden Männern Sex zu haben. Das wird alles im Anfangsteil des Romans ungeschönt beschrieben und hier sei eine Warnung an alle ausgesprochen, die mit solchen Beschreibungen nicht gut klarkommen, denn was Seemann beschreibt ist wirklich heftig.

So stellt sich schnell eine absolute Fassungslosigkeit aufgrund des Missbrauchs an Milena ein, die Seemann durch ihre direkte Sprache eindringlich zu evozieren weiß. Immer wieder möchte man dieses Mädchen aus dieser schrecklichen Verbindung herausreißen und schützen. Allein das Wissen vom Beginn des Romans, dass diese „Beziehung“ ein Ende haben wird, lässt einen die Beschreibungen aushalten. Sehr geschickt zeigt Seemann gleichzeitig durch die Zeitebene in 2014 auf, dass Milena aufgrund dieser vollkommen falschen Beziehungserfahrung zu Nick noch viele Jahre gezeichnet sein wird. Sie schafft es nicht zum gleichaltrigen Josh, der auch eine sehr merkwürdiger Zeitgenosse ist, eine adäquate Beziehung aufzubauen, bläst sie ihm doch direkt zur Begrüßung einfach mal eben einen. Wie vor den Kopf gestoßen liest man diese Szenen und muss sich erst einmal auf diese verqueren Verhaltensweisen einstellen.

Neben dieser authentischen Darstellung von Milena stellt meines Erachtens eine Stärke des Romans dar, dass, wenn auch nur ganz kurz, auch „nette“ Seiten von Nick aufblitzen, die verdeutlichen, warum Milena so viele Jahre trotz allem an Nick festgehalten hat. Die Trennung nach so vielen Jahren, obwohl es zuvor schon mehr als genug heftige Auslöser hätte geben können, wirkt dann doch irgendwie recht unverhofft und plötzlich. Das ging mir dann doch etwas schnell und hätte gern noch näher aus der Innensicht Milenas erklärt werden können. Auch springen wir letztlich noch einmal in die Gegenwart und erfahren, wie es mit Nick weitergegangen ist. Das wird dann nur kurz angerissen, ist aber eigentlich eine ganz schöne Bombe. Auch wundert man sich zuvor, dass die Ehefrau von Nick so gar nichts mitbekommen haben will von seinen Machenschaften. Das wäre für mich alles noch im literarischen Sinne zu tolerieren gewesen, leider hat der Roman aber meines Erachtens einen wirklich großen Schwachpunkt: Die Eltern oder generell die Familie von Milena findet im Roman nicht eine einzige Erwähnung. Die Figur Milena scheint im luftleeren Raum zu existieren. Nun könnte es ja sein, dass die Eltern physisch und/oder psychisch abwesend waren und sie erst dadurch zum Opfer dieses Groomings hat werden können. Aber dafür gibt es keinerlei Anhalt im Buch. Die Eltern existieren einfach nicht in der Erzählung. Und das ist für mich gerade bei diesem Thema einfach inakzeptabel. Bei einer 15Jährigen, die übrigens schon zuvor mit 14 Jahren eine sexuelle Beziehung hatte, spielen die Eltern doch noch in irgendeiner Weise eine Rolle. Diese auszusparen lässt eine klaffende Lücke zurück. Es gibt innerhalb des Romans keine Erklärung für diese literarische Entscheidung. Ich habe eine ganz wilde Vermutung, die aber in keinster Weise gesichert ist: Die Protagonistin hat dasselbe Geburtsjahr wie die Autorin; sie heißt Milena, die Autorin Selina; und die Autorin schreibt in der Danksagung an ihre Eltern folgendes: „Bitte blättert bei einigen Kapiteln einfach weiter.“… Vielleicht hat die Geschichte der Protagonistin ihre Inspiration in der realen Welt und eventuell sollten hier die Angehörigen geschützt bzw. nicht involviert werden. Keine Ahnung. Aber fachlich und literarisch kann ich diese Entscheidung nicht gutheißen.

So runde ich bei einem ansonsten sehr guten Roman letztlich doch noch auf 3 Sterne ab. Lesenswert ist der Roman definitiv trotzdem, nur gefestigt sollte man bezogen auf die Thematik schon sein, bevor man die Lektüre beginnt.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.09.2023

Tolle Sprache aber zu zerfaserte Geschichte über Gewalt

NOVA
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Davide ist Neurochirurg an einem italienischem Klinikum. Gewalt brauchte er bisher nie anwenden, wenn er seine behandlungsbedürftigen Patient:innen durch feine Schnitte im Gehirn rettet. Als im Privaten ...

Davide ist Neurochirurg an einem italienischem Klinikum. Gewalt brauchte er bisher nie anwenden, wenn er seine behandlungsbedürftigen Patient:innen durch feine Schnitte im Gehirn rettet. Als im Privaten sein jugendlicher Sohn und vor allem seine Ehefrau in einem Restaurant von einem fremden Mann angepöbelt, angebaggert und angegrapscht werden, reagiert Davide nicht, beobachtet alles aus einer sicheren Distanz heraus. Es greift ein Unbeteiligter ein, indem er selbst Gewalt anwendet, um den Übergriffigen zur Räson zu rufen. Während wir in den Alltag der Familie eintauchen, sucht sich Davide Hilfe, um sich die Fähigkeit zur Gewaltanwendung anzueignen, denn bisher ist er der Meinung, einfach dazu gar nicht fähig zu sein. Alles gipfelt in einem Showdown, in dem das Leben der Familie in Gefahr gerät. Wie wird sich Davide verhalten?

Gleich ab dem ersten Satz habe ich mich in die Sprache und Fabulierkunst von Fabio Bacà verliebt. Christine Ammann bringt mit ihrer Übersetzung aus dem Italienischen diesen Roman wirklich zum sprachlichen Meisterwerk, indem sie die in Masse angewandten Fachbegriffe aus der Neurologie, welche in das Denken der gesamten Familie eingezogen sind, wirklich sehr gekonnt ins Deutsche überführt. Mit einem stark selbstironischen Unterton wird hier eine hoch gestochene Sprache verwandt, die Substantive aneinander reiht, komplizierte Satzkonstruktionen und anspruchsvolle Inhalte verwendet. Gerade weil das alles mit viel Ironie geschieht, macht es so einen Spaß den Text zu lesen. Fachlich sind die Ausflüge in die Neurologie und Psychologie dabei korrekt vom Literaten Bacà wiedergegeben. Wirklich eine Freude. Allerdings wechselt zum Ende hin der Ton des Romans hin zu einem ernsten mit einer soliden, aber unauffälligeren Sprache, sodass damit auch der Fokus des Ganzen zunehmend verloren geht.

Der inhaltliche Fokus ist für mich auch das größte Problem am Buch. Folgt man noch den Alltagsgeschichten der Familie, die mitunter losgelöst vom Gesamttext wirken, noch über weite Strecken gern, so fragt man sich zunehmend, was uns der Autor mit dem Roman vermitteln möchte. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Gewalt immer noch mehr Gewalt nach sich zieht und dass Gewalt, egal mit welchem Zweck, unangebracht ist. Selbst zur Selbstverteidigung? Ich weiß es nicht. Der Roman bietet mir hier allerdings wenig neue Denkansätze, er wird zunehmend zu einer unfokussierten Geschichte über Gewalt im Alltag. Eine Quintessenz fällt mir allerdings schwer zu formulieren.

Die Zeichnungen der Figuren funktionieren als Skizzen, hätten aber auch noch tiefgründiger ausgearbeitet werden können. Man bekommt einen kleinen Eindruck, fast wie bei einer Kurzgeschichte, aber für einen Roman scheinen sie zu kurz gegriffen. Auch zaubert der Autor ganz zum Schluss eine vollkommen unerwartete Handlung einer Figur aus dem Hut, die im Roman keine Grundlage hat und erst im Nachhinein von einer anderen Figur erläutert wird. Das bewirkt zwar ein spektakuläres Finale für den Roman, entbehrt aber auch der notwendigen Unterfütterung und wirkt dadurch unglaubwürdig, wenn auch nicht vollkommen unmöglich.

Wenn es nur nach der Sprache gehen würde, der Roman hätte von mir 5 von 5 Sternen bekommen. Leider zerfasert er aber inhaltlich zu stark und lässt die Intention des Autors vermissen. Somit lande ich bei wirklich sehr guten 3 Sternen (3,5) und würde den Autor durchaus weiter im Blick behalten mit der Hoffnung, dass er sich zukünftig noch besser thematisch fokussieren kann.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 30.08.2023

Vom nur scheinbaren Aufstieg aber der Psyche im freien Fall

Das Ende ist nah
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In Amir Gudarzis Debütroman „Das Ende ist nah“ entwirft er die Geschichte des jungen Mannes A., welcher nach den Protesten 2009 in seinem Heimatland Iran eigentlich nach Kanada flüchten will, aber in Österreich ...

In Amir Gudarzis Debütroman „Das Ende ist nah“ entwirft er die Geschichte des jungen Mannes A., welcher nach den Protesten 2009 in seinem Heimatland Iran eigentlich nach Kanada flüchten will, aber in Österreich hängen bleibt. Wir begleiten ihn nun nicht nur auf seinem Weg durch den unbarmherzigen Dschungel der Bürokratie und des gesellschaftlichen Lebens in Österreich hin zum anerkannten Asyl, sondern auch durch Rückblicke in seine Vergangenheit und zu den Geschehnissen, die ihn letztlich zur Flucht gezwungen haben.

A. ist Student des Faches „Szenisches Schreiben“ in Teheran als die Proteste gegen das Mullah-geführte Regime immer dringlicher und auch gefährlicher für die Teilnehmenden wird. Im sozialen Brennpunkt im Süden Teherans aufgewachsen, geht A. den Weg der Bildung, der ihn mitten ins Herz der Proteste führt und damit auch zu polizeilichem Arrest und Folter. Als ihm später eine Gefängnisstrafe droht, verlässt er das Land und landet in Österreich. Dort wird zwar zum Glück keine Folter mehr angewandt, trotzdem scheint der Aufenthalt im Transit zwischen anerkanntem Asyl und einer unvorhersehbaren Ausweisung zurück nach Iran psychisch immer belastender für A. zu werden. Häufig mit Ignoranz und Hass konfrontiert und nur selten mit Mitmenschlichkeit und Wärme verschlechtert sich A.s Zustand rapide. Die wankelmütige Beziehung zur deutschen, in Wien lebenden Sarah scheint A. eine Zeit lang Halt zu bieten, ihn jedoch auch zunehmend zu belasten.

Amir Gudarzi, dessen Erlebnisse aus seinem eigenen Leben sicherlich in diesem Roman mit eingeflossen sind, wobei das Ausmaß nicht abzuschätzen ist, brilliert in seinem im Deutschen verfassten Debütroman mit einer überraschenden Romankonstruktion und einer fesselnden Sprache zwischen poetischen Formulierungen und berichtartigen Beschreibungen von grauenvollen Erlebnissen sowohl im Iran als auch in Österreich. Wie klar und ungeschönt sich Gudarzi mit seinem Heimatland aber auch der österreichischen Gesellschaft und ihre Reaktion auf den Geflüchteten A. auseinandersetzt, ohne ausschließlich einseitig zu erzählen, hat mich vollends überzeugt. Ist der Roman noch zu Beginn von schwer verdaulicher, physischer Gewalt geprägt, nimmt mit dem Wechsel nach Österreich immer stärker die psychische Gewalt zu, die auf A. trifft. Grandios ist letztlich gemacht, wie Gudarzi unter anderem durch die Einteilung des Buches in die Abschnitte von „Mezzanin“ (für alle, die es nicht wussten – ich gehöre dazu – ist dies ein in Österreich gebräuchlicher Begriff für ein Halbgeschoss) bis „Vierte Etage“ den bürokratischen Aufstieg A.s bis zur Anerkennung des Asylantrags darstellt und gleichzeitig in einer Gegenbewegung sich der psychische Zustand der Figur aufgrund der massiven Belastungen, unter denen er zu leiden hat, zunehmend verschlechtert. Die Figur Sarah, welcher immer ausgedehntere Kapitel für ihre Sichtweisen zur Verfügung gestellt werden, spielt dabei eine wichtige Rolle. Sind teilweise ihre Passagen durchaus anstrengend in der Lektüre, hat das alles doch einen Sinn, den wir allerdings erst zum Schluss erfahren. Somit lohnt sich bei diesem Roman eine Zweitlektüre ganz besonders.

Mir hat der Roman wirklich ausgesprochen gut gefallen. Sowohl der Erzählstil als auch die Konstruktion des Romans haben mich von Beginn an ganz fest gepackt und bis zuletzt nicht mehr losgelassen. Ich konnte mit jedem Szenenwechsel sofort in die Atmosphäre der Szenerie, ob nun Rückblick in die Vergangenheit oder Geschehen in der Gegenwart des Romans, eintauchen und habe alles bildlich vor mir gesehen. Gudarzi spielt auch mit den Zeitformen und den Erzählperspektiven, begründet dieses Spiel aber ganz klar mit Hinweisen Text:

„Ich schreibe auch jetzt im Präsens, weil ich versuche, alles zu rekonstruieren, alles aufs Neue zu erleben. Ich könnte auch in der Vergangenheitsform schreiben, aber ich schaffe es nicht, weil ich offensichtlich etwas verloren oder vergessen habe und es dort wiederfinden muss. Beim Schreiben springe ich immer zwischen den Zeiten hin und her – die Sprache als Zeitmaschine.“

Ich habe durch den Roman von Amir Gudarzi wirklich sehr viel Neues sowohl über die Zustände im Iran als auch bezogen auf die Zeit nach dem Ankommen in einem Land, welches noch nicht das Asylgesuch einer geflüchteten Person anerkannt hat, entdecken können, weshalb er von mir definitiv die volle Punktzahl bekommt. Diesen Autor werde ich auf jeden Fall im Blick behalten, denn er ist eindeutig für unkonventionelle Überraschungen gut.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 22.08.2023

Krimi? Dystopie? Beides?

Hund 51
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In „Hund 51“ bekommen wir eine Welt präsentiert, die mindestens dreißig Jahre in der Zukunft liegt, denn der Hilfspolizist Zem Sparak musste vor dreißig Jahren mit Mitte Zwanzig aus seinem Heimatland Griechenland ...

In „Hund 51“ bekommen wir eine Welt präsentiert, die mindestens dreißig Jahre in der Zukunft liegt, denn der Hilfspolizist Zem Sparak musste vor dreißig Jahren mit Mitte Zwanzig aus seinem Heimatland Griechenland fliehen, als dieses nach seiner staatlichen Insolvenz von dem Megakonzern GoldTex übernommen und in eine Müllhalde umgewandelt wurde. Nun lebt er in einer Megacity mit dem Namen Magnapolis, welche ein Konglomerat aus Ex-Bürgern verschiedenster Nationen zu sein scheint. Die Stadt ist in verschiedene Zonen (von Zone 1 für die absolute Reichen-Elite über Zone 2 für die Bessergestellten über Zone 3 für die ärmlichen Malocher) eingeteilt und Sparak lebt und arbeitet in Zone 3 als sogenannter „Hund“, denn er spürt kriminellen Fährten nach. Für die Ermittlungen zu einem brutalen Mordfall muss er nun mit Salia Malberg, einer Kommissarin aus Zone 2, zusammenarbeiten. Er entspinnt sich eine verstrickte Ermittlung, die sie bis in die höchsten Kreise Magnapolis‘ führt.

Bei dem Roman „Hund 51“ weiß man irgendwie nie so richtig, mit was man es hier eigentlich zu tun hat. Ist es ein Krimi oder eine Dystopie? Kann es auch beides sein? Ich denke, es hätte beides und darüber hinaus auch noch gut werden können, wenn der Autor nicht aus beiden Genres die absoluten Standards abgespult hätte.

Der Krimi-Anteil, der im Verlaufe des Romans immer mehr die Überhand gewinnt, ist mit klassischen Rollen, klassischen Dialogen und auch einem klassischen Plot bestückt. „Klassisch“ meint hier „wie ein 08/15-Krimi“, denn es gibt die etwas abgehalfterten, mit seinem Leben hadernden Altermittler, die junge, ambitionierte Jungermittlerin aus besseren Kreisen, dialoglastige Sequenzen, in denen Überlegungen zum Tathergang usw. diskutiert werden, Guter-Cop-böser-Cop-Verhöre, politische Verstrickungen, die wahnwitzige, bis schlecht nachvollziehbare Zusammenhänge zwischen den Taten und zwei konkurrierenden Politikern offenlegen. Letztlich ein einfacher Spannungsbogen von „Wer war es?“ und „Warum?“. Allerdings interessierte mich die Auflösung zuletzt kaum noch, da ich den ganzen politischen Intrigen nicht mehr so recht folgen konnte.

Der Dystopie-Anteil beschreibt vor allem in der ersten Hälfte des Romans eine Szenario, dass hinlänglich aus anderen Werken bekannt ist und ein wenig bis stärker an „Bladerunner“ etc. denken lässt. Wir erfahren durch Rückblicke nur sehr spärlich, wie es eigentlich zum Bankrott und dem Komplettverkauf eines ganzen Landes an einen Konzern kommen konnte. So richtig klar werden die Hintergründe bis zum Schluss nicht. Da bleibt Gaudé recht oberflächlich und auch an den Standards des Genres verhaftet. Es gibt wieder einmal die Zonen, die Arm und Reich voneinander trennen, es gibt Gesundheitsimplantate, die ein längeres Leben versprechen, was aber nur den Reichen zugänglich gemacht wird. Ironischerweise begeht Gaudé den Fehler, dass selbst in 2055 (oder später, wir bekommen keine Zeitangabe im Buch) noch Polizeiakten und ähnliche Unterlagen in Papierform existieren… Und das, wo wir doch jetzt schon kaum noch Papierakten in Krankenhäusern usw. führen. Nun denn, es zeigt, dass der Autor eher mit simplen Ideen glänzt statt mit einem durchdachten Worldbuilding dieser Zukunftswelt.

Ich hatte ehrlich gesagt, nicht so viel Krimi und mehr Dystopie erwartet. Sprich, ich hätte gern mehr über diese zukünftige Welt erfahren und hätte nicht die ganzen politischen Verwicklungen und Intrigen zum Schluss noch gebraucht. Die beiden Hauptfiguren sind zwar gut skizziert, aber auch dort hätte es noch mehr psychologische Tiefe geben können. Während mich der Roman größtenteils mit seiner soliden Schreibe gut unterhalten, manchmal vielleicht etwas verwirrt hat, finde ich das Ende allerdings nicht sonderlich gelungen. Um es deutlicher zu sagen: Das Ende ist hanebüchen, nicht nachvollziehbar und lächerlich, wenn es nicht so ernst wäre. Es hat mich einfach nur noch aufgeregt und verärgert, ob seiner fehlenden Glaubhaftigkeit.

Zuletzt könnte man konstatieren, dass zwar die Idee gar nicht schlecht ist, einen Krimi-Plot mit einer Dystopie zu koppeln, manchmal es aber auch einfach gut ist, entweder das eine oder das andere zu machen, dafür dann aber auch kreativ und ausgegoren.

2,5/5 Sterne

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