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Veröffentlicht am 29.09.2023

Eindrückliches Debüt der Nobelpreisträgerin

Sehr blaue Augen
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Aktuell erscheint im Rowohlt Verlag eine von Tanja Handels ins Deutsche überführte Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman „The Bluest Eye“ aus dem Jahre 1970. Vervollständigt wird die vorliegende ...

Aktuell erscheint im Rowohlt Verlag eine von Tanja Handels ins Deutsche überführte Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman „The Bluest Eye“ aus dem Jahre 1970. Vervollständigt wird die vorliegende Ausgabe durch ein Vorwort der Autorin selbst aus dem Jahre 2008 sowie ein Nachwort der afrodeutschen Buchautorin, Journalistin und Podcasterin Alice Hasters.

Morrison erschafft in ihrem Roman eine kleine Welt in einem Ort an den Großen Seen gelegen (also nicht den Südstaaten!) um das Jahr 1940 herum. In dieser Welt kommen eigentlich kaum weiße Menschen vor, trotzdem strotzt hier alles vor Rassismus. Denn wie wir eindrücklich nach der Lektüre von Morrisons Roman wissen: Es braucht nicht unbedingt die physische Anwesenheit von Weißen, um das Joch des Rassismus auf eine Schwarze Gemeinde wirken zu lassen.

Die kleine Pecola Breedlove führt als Elf- bzw. Zwölfjährige ein Leben in Elend und Armut, ohne viel Liebe von ihren Eltern zu erfahren und gleichzeitig als Außenseiterin in dieser Gemeinde zu gelten. Über vier Jahreszeiten beginnend mit dem Herbst hinweg begleiten wir nun Pecola aus verschiedenen Erzählperspektiven heraus. Eine davon ist Claudia, die mit ihrer Schwester Frieda Wegbegleiterin von Pecola ist und uns bereits auf den ersten Seiten eine harte Wahrheit mitteilt, der wir uns bis zum Ende des Buches mit all seinen Ursachen und Auswirkungen annähern werden: Pecola wird ein Kind von ihrem Vater bekommen. Gleichzeitig ist Pecola diejenige, die sich mehr als alles andere wunderschöne blaue Augen wünscht. Sie gilt in der Gemeinde als hässlich, die blauen Augen, wie bei dem Kinderstar Shirley Temple, sollen Erlösung bringen. Klar ist, hier hängen die Erfahrungen der Vorfahren Pecolas mit ihrem schlimmen Schicksal ebenso zusammen wie mit ihrem Wunsch, blaue Augen zu bekommen.

In ihrem leicht fragmentarisch aufgebauten Roman, ein Aufbau, der übrigens später die Autorin selbst gestört hat an ihrem Debüt, nähert sie sich mithilfe von vielen Deutungsebenen einem afro-feministischen Thema an. Wie wirkt sich der von den Weißen im Rahmen der Kolonisierung und des Sklavenhandels implementierte und noch Jahrhunderte bis zum heutigen Tage aufrechterhaltene Rassismus auf die betroffenen Schwarzen Menschen aus. Dabei geht sie ganz stark in die Tiefe und schlüsselt auf, wie Selbsthass auf die eigene Erscheinung genauso entsteht wie auch Colorismus. Unter Colorismus versteht man die Diskriminierung aufgrund unterschiedlich dunkler Hautnuancen, welcher innerhalb der Schwarzen Gemeinde vorhanden ist. Sehr dunkle Hautfarbe wird dabei als hässlich und damit negativ konnotiert, während hellere Hauttöne erstrebenswert erscheinen und eher präferiert werden. Gleichzeitig arbeitet die Autorin stichhaltig heraus, inwiefern die Frauen im Gegensatz zu den Männern ganz besonders diskriminiert werden.

Dies ist eine Abwärtsspirale, die einmal in Gang gesetzt bis hinunter auf die psychologische Mikroebene schwerst Versehrte zurücklässt. Im vorliegenden Fall stellt Pecola exemplarisch diese Person dar, die der Maschinerie zum Opfer fällt und auf schlimmste Art und Weise bezahlen muss für etwas, was dieses unschuldige Kind definitiv nicht verbrochen hat.

Wie Morrison sowohl versteckt durch viele Andeutungen, Metaphern und manchmal auch erschreckend direkte Formulierungen diesen Roman soziologisch wie auch psychologisch absolut stimmig erschafft, zeugt bereits von dem Talent und Ehrgeiz, der sie später zum Nobelpreis führen wird. Manche Formulierungen wirkten – zumindest in der aktuellen Übersetzung, wie dies im Original aussieht, kann ich nicht beurteilen – ab und an etwas sperrig. Der Einstieg in den Roman fiel mir zunächst nicht ganz leicht, aber mit zunehmender Seitenzahl entwickelte er einen massiven Sog. Es gibt so viel hier in den Zeilen und zwischen den Zeilen zu entdecken, was sicherlich mithilfe eines Austauschs mit anderen Leser:innen besser zu zutage gefördert werden kann, als in der Einzellektüre.

Somit bekommt die Autorin für ihren meisterhaften Debütroman und der Verlag mit seiner ausführlichen Neuauflage von mir aufgerundet die volle Punktzahl. Eine wirklich dringend zu empfehlende Lektüre zum Thema Rassismus und seine Folgen bis in die Tiefen der Psyche der Betroffenen.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 17.09.2023

Das Gaunermanifest

Die Regeln des Spiels
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Mit „Crook Manifesto“ (dt. Titel „Die Regeln des Spiels“) legt Colson Whitehead nach „Harlem Shuffle“ den zweiten Teil seiner „Harlem Trilogy“ vor. Somit begegnen wir hier erneut Ray Carney, den wir bereits ...

Mit „Crook Manifesto“ (dt. Titel „Die Regeln des Spiels“) legt Colson Whitehead nach „Harlem Shuffle“ den zweiten Teil seiner „Harlem Trilogy“ vor. Somit begegnen wir hier erneut Ray Carney, den wir bereits aus dem Vorgängerroman kennen, ebenso wie andere Figuren, die man schon damals lieben oder hassen gelernt hat. Carney, der sich einige Jahre ganz ohne krumme Geschäfte allein auf sein Möbelgeschäft konzentriert hat, kommt in den 1970ern an und mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts wird er auch wieder in die Kriminalität gezogen. Der Auslöser passt zum amüsant-lakonischen Schreibstil Whiteheads: Seine Tochter möchte der The Jackson Five live sehen, die Tickets sind heiß begehrt und schon längst ausverkauft, also muss sich Carney an alte, halbseidene Kontakte wenden, um an die Tickets zu kommen. Dies setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, die wir in drei Buchabschnitten mit dem bereits aus „Harlem Shuffle“ bekannten zwei bis drei Jahressprüngen nun miterleben.

Wie schon erwähnt, glänzt auch dieser Roman von Colson Whitehead mit einem großartigen Schreibstil zwischen amüsant-lakonisch, soziologisch-beobachtend und klug-knallharten Feststellungen. Sofort schafft es der Autor uns in das New York, oder spezieller das Harlem, der 1970er Jahre hineinzusaugen. Die Atmosphäre aus dem Versuch der Menschen zum sozialen Aufstieg und der zunehmenden Verwahrlosung des Viertels wird von Zeile eins an greifbar. Während die einen sich durch Korruption und die anderen mithilfe von Brandstiftung und Versicherungsbetrug die Taschen voll schlagen, verarmt die Masse und lebt in heruntergekommenen Häusern mit der ständigen Angst vor Drogen, Kriminalität, dem Abbrennen des eigenen Wohnblocks und der willkürlichen Polizeigewalt. Dazwischen befindet sich Ray Carney und sein väterlicher Freund Pepper. Carney sticht wie schon bekannt durch seine treffsicheren Beobachtungen zur Möbelauswahl an einem Ort des Verbrechens hervor; Pepper durch seine stoische Ruhe und gleichzeitig explosiv auftretende Gewalt. Beide Figuren wachsen der Leserschaft während des Romans richtig ans Herz, man ist voller Empathie, wenn nicht gar Sympathie, für die beiden. Denn Whitehead schafft es, dass niemand eindimensional „gut“ oder „böse“ dargestellt wird. Alle Figuren bewegen sich im Graubereich. Es wird nichts beschönigt und trotzdem merkt man den Figuren ihre Menschlichkeit an. Dies hat der Autor zur wahren Perfektion gebracht.

Inhaltlich erfahren wir unglaublich viel über die Zusammenhänge von städtebaulicher Entwicklung, Korruption,Fehlplanungen und schlechtem Handling durch die gewählten Volksvertreter. So wird ein Stadtviertel der Minderheiten, ebenso wie Teile Brooklyns und der Bronx, abgehängt, vernachlässigt und geht ganz nach dem „Broken Window“-Prinzip den Bach runter. Aber auch ganz dem Buchtitel (sowohl dem Original- als auch dem deutschen Titel) nach geht es darum, mit welchen Regeln das Spiel der Ganoven gespielt wird. So heißt es auf Seite 221:

„Man hatte eine Hierarchie des Verbrechens, des moralisch Akzeptablen und Nichtakzeptablen, ein Gaunermanifest, und wer sich an einen weniger strengen Kodex hielt, war eine Kakerlake. Ein Nichts.“

Und das Prinzip der Kriminalität auf höherer Ebene wird auf Seite 316 kurz und umso eindringlicher festgehalten:

„Nicht auszurottende Bestechung, wie die nicht auszurottende Brandstiftung. Ist es erst einmal in Gang gekommen, hört es nicht mehr auf.“

Fast alle meine Kritikpunkte am Aufbau des Romans haben sich in Luft aufgelöst als ich erfuhr, dass dieser zu einer Trilogie gehört und ein Abschluss der Reihe erst mit dem nächsten Roman von Whitehead zu erwarten ist. Die einzige, minimale Kritik an diesem ansonsten wirklich wie vom Autor gewohnt meisterhaft geschriebenen Roman: Ab und an gibt es kleine Längen im Text. Der Autor zeigt hier die Angewohnheit, häufig recht weit auszuholen und ausufernd zu berichten, wenn er eine Nebenfigur oder ein Szenario mithilfe von Rückblicken beschreibt. Das hat dann letztlich meist alles eine Funktion, trotzdem muss man sich da ein bisschen durchhangeln.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl ist zu Beginn noch an der ein oder anderen Stelle etwas holprig, in der Gesamtheit aber durchaus gelungen.

Somit kann ich die Lektüre des Romans definitiv empfehlen. Es ist allerdings ratsam zunächst „Harlem Shuffle“ zu lesen, da sehr viele Figuren aus diesem Vorgängerroman hier wieder auftauchen und manche Vorgänge als bekannt vorausgesetzt und nur noch einmal kurz umrissen werden.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Abgefahrene Geschichte mit unerwarteten Richtungswechseln

Kachelbads Erbe
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„Kachelbads Erbe“ kommt zunächst wie ein Science-Fiction- und Phantastik-Roman daher mit seiner Geschichte um Kachelbad, der in den 1980er Jahren in Los Angeles für ein Kryonik-Unternehmen arbeitet. Er ...

„Kachelbads Erbe“ kommt zunächst wie ein Science-Fiction- und Phantastik-Roman daher mit seiner Geschichte um Kachelbad, der in den 1980er Jahren in Los Angeles für ein Kryonik-Unternehmen arbeitet. Er friert Menschen auf deren Wunsch und nach Zahlung beträchtlicher Summen direkt nach deren Ableben in flüssigen Stickstoff zusammen mit mehreren „kalten Mietern“ in große Tanks ein, damit diese in einer ferneren Zukunft, wenn es bessere Behandlungsmöglichkeiten, bessere Lebensumstände, bessere Was-auch-immer gibt, wieder aufgetaut und zum Leben erweckt zu werden.

Nun ist der Roman wirklich ganz erfrischend interessant geschrieben. Wir lesen nämlich die letzten quasi Memoiren von sechs „kalten Mietern“ ein und desselben Tanks. Sowie einleitend ein Kapitel verfasst von einer von Kachelbad angeworbenen Mitarbeiterin Rosary, wodurch wir nicht nur mehr über die Kryonik-Firma, erste Eindrücke von Kachelbad sondern auch dessen Fähigkeit sich unsichtbar zu machen, erhalten. Die Unsichtbarkeit, zu welcher nicht nur Kachelbad in der Lage ist, macht den phantastischen Teil dieses Buches aus. Die Sciene-Fiction kommt durch die Kryonik. Und ganz unerwartet breitet sich mithilfe der verschiedenen Dossiers zu den „kalten Mietern“ und deren Lebensgeschichten eine psychologische Tiefe aus, die ich zunächst gar nicht dem Stoff zugetraut hätte. Zuletzt dreht sich auch noch ein großer Teil des Romans um ein schwerwiegendes, medizinisch-gesellschaftspolitisches Tabuthema der 1980er Jahre, was dem Roman noch einmal einen ganz neuen Dreh verleiht.

Mich konnte Hendrik Otremba, der 1984 geborene deutsche Musiker, Autor und bildender Künstler, mit seinem zweiten Roman und dessen kreativer Umsetzung definitiv überzeugen. Mit jedem neuen Kapitel öffnete sich eine neue Welt. Zwischenzeitlich hatte ich zwar mal kurzzeitig das Gefühl, dass Otremba die Kurve nicht mehr kriegt und gar nicht mehr so richtig weiß, wohin er mit seinem Roman eigentlich will, konnte dann aber doch das Thema der Kryonik wieder einfangen. Das Ende des Romans ist für mich nicht wirklich greifbar geworden, aber genau das passiert ja bei Leuten, die sich unsichtbar machen können. Sie verschwinden und lassen die Umstehenden mit Fragezeichen in den Köpfen zurück. Das hat mir sehr gut gefallen. Eine wirklich empfehlenswerte Lektüre für alle, die mal literarisch etwas wagen möchten. Die Genregrenzen hin zum dunklen Thriller verwischen. Hier bekommt man nichts Eindeutiges, ein Puzzle, was man bis zum Schluss dabei ist zusammenzusetzen. Interessante Figurenzeichnungen, nicht alltägliche Handlung. 4,5 Sterne.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Warten auf Godot… ehm Cecilia

Tage ohne Cecilia
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Der Titel von Becketts Theaterstück ist mittlerweile zur Redewendung geworden, meinend ein Zwang zu langem und vergeblichem Warten. Unser Ich-Erzähler in dem Roman von Molina ist ein älterer Mann, der ...

Der Titel von Becketts Theaterstück ist mittlerweile zur Redewendung geworden, meinend ein Zwang zu langem und vergeblichem Warten. Unser Ich-Erzähler in dem Roman von Molina ist ein älterer Mann, der aus New York mit dem gesamten Hausstand nach Lissabon umgezogen ist. Jetzt fehlt eigentlich nur noch seine Frau, Cecilia, die als anerkannte Neurowissenschaftlerin ständig im Labor oder auf Tagungen unterwegs ist. Vielbeschäftigt, weshalb sie, laut dem Ich-Erzähler, erst verspätet in Lissabon, dem gemeinsamen Altersruhesitz, ankommen wird. Die Tage vergehen und gehen ineinander über, man verliert beim Lesen das Zeitgefühl, aber dieses scheint der Erzähler auch verloren zu haben, wie so einiges anderes.

Sprachlich ganz herausragend bietet Molina hier die psychologische Studie eines Verstandes, der im Warten zergeht. Stolz erzählt der Protagonistin von den Forschungen seiner Frau und weiteren neurologisch-psychologischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch von dem während des Wartens aus der Hausbibliothek angelesenen Wissens. So vertieft sich der Erzähler in der Autobiografie („Alone“) von Richard E. Byrd, der fünf Wintermonate allein in einer antarktischen meteorologischen Station verbrachte und scheinbar ähnliche Angstsymptome zeigte, wie auch unser Erzähler. Denn das sind die Themen, die sich durch die Gedanken des Erzählers und die Arbeit seiner Frau ziehen: Angst, Trauma, Krisensituationen. Der Erzähler überlebte mit seiner Frau 9/11 und schnell wird klar, dass sich seitdem in seinem Leben immer mehr verschiebt.

Moline erzählt dieses Kammerspiel dabei mit einer ruhigen, gefassten Stimme, nimmt sich Zeit für Beschreibungen und erhöht damit nur umso mehr die Spannung welche sich von Seite zu Seite steigert. Was ist mit Cecilia los, will man im Laufe des Buches immer dringender erfahren. Bevor sich der Autor zum fulminanten Finale aufmacht, stockt jedoch die Erzählung zu Beginn des letzten Drittels ein wenig. Zu ausufernd wird eine Szenerie geschildert, die später - meine Erachtens - keine tiefgreifende Rolle mehr spielt. Auch sprachlich erschient mir diese Passage weniger reizvoll wie der Rest des Buches. Der Autor findet jedoch zu seiner alten Stärke zum Schluss noch einmal zurück. Atemlos liest man die letzten Seiten und steigt vollends in die Psyche des Protagonisten ein. Das Ende lässt viele Deutungen zu, erscheint mir - so wie ich es deute - jedoch nicht komplett plausibel für die Lesenden. Dass das Denken des Protagonisten nicht immer plausibel und ihm auch nicht immer zu trauen ist, wissen wir zu diesem Zeitpunkt schon lange.

Dieser absolut lesenswerte Roman entführt seine Lesenden in die Psyche eines Mannes und in dessen Lissabonner Wohnung gleich mit. Bei kleineren Abstrichen zum Plot entscheide ich mich für die 4-Sterne-Bewertung bei insgesamt 4,5 Sternen. Ein wirklich feinfühliger Roman, der ganz anders als „Warten auf Godot“ nicht „nur“ zur Redewendung verkommen sondern definitiv auch tatsächlich gelesen werden sollte.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Die (unglaublich authentische) Kriegerin

Die Kriegerin
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In der deutschen Literaturwelt noch ein relativ unberührtes Thema aufzugreifen ist nicht so einfach. Zu fast allem ist schon vieles gesagt. Ein literarisch hochwertiger Roman über zwei Soldatinnen wirkt ...

In der deutschen Literaturwelt noch ein relativ unberührtes Thema aufzugreifen ist nicht so einfach. Zu fast allem ist schon vieles gesagt. Ein literarisch hochwertiger Roman über zwei Soldatinnen wirkt da regelrecht frisch und unverbraucht. Lisbeth hat ihre Grundausbildung bei der Bundeswehr vor vielen Jahren zusammen mit „Der Kriegerin“ absolviert. Die Kriegerin erhielt ihren Spitznamen in ebenjener Grundausbildung und behielt ihn seitdem. Während Lisbeth mittlerweile als Floristin arbeitet und gerade eben vor ihrem Leben in der Kleinfamilie mit Partner und Kleinkind geflohen ist, hat sich die Kriegerin für 12 Jahre verpflichtet und verbringt kaum ihre Zeit in Deutschland. Auf verschiedensten Auslandseinsätzen ist sie schon gewesen. Zuletzt ist es immer wieder Afghanistan, wohin sie geschickt wird. Nach vielen Jahren treffen sich nun die beiden zufällig im Winter an der Ostsee wieder und vertiefen eine zwischenzeitlich abgekühlte Freundschaft.

Sehr langsam und bedächtig erzählt Bukowski davon, was sogenannte „friedenssichernde Auslandseinsätze“ mit den Soldaten und Soldatinnen psychologisch machen. Denn dieser Roman ist über einen längeren Zeitraum erzählt. Immer wieder in regelmäßigen Abständen treffen sich Lisbeth und Die Kriegerin wieder, immer mehr sieht man dem psychischen Veränderung Der Kriegerin zu und steht dem ebenso hilflos wie Lisbeth gegenüber. Lisbeth, die an Neurodermitis leidet, einer Erkrankung, die so stark wie kaum eine andere psychosomatisch ihre Spuren hinterlässt. Die eigenen aber auch die psychischen Belastungen anderer schreiben sich in die Haut von Lisbeth ein. Durch Rückblicke erfahren wir Stück für Stück, was mit Lisbeth über ihr Leben hinweg passierte, bis zu dem Punkt, an welchem sie ihre Familie verlassen hat. Der Ausgangspunkt des Romans. Gleichzeitig treibt die Autorin die Handlung um Die Kriegerin voran und lässt alles auf ein spannendes Finale hinauslaufen.

Zwischendurch kommt es zu ein, zwei recht großen Zufällen, die den Plot vorantreiben und zum Schluss wird geht alles dann gefühlt sehr schnell. Mir hätte ein durchgängig ruhiger Erzählstil mit einem methodischen Freilegen der Vergangenheit und der Auswirkungen auf die Psyche der Personen in der Gegenwart etwas besser gefallen, als es dann letztlich die Autorin mit dem angezogenen Erzähltempo gelöst hat. Geschenkt.

Das ist nur Gemecker auf hohem Niveau, denn insgesamt beleuchtet der Roman ein bisher übersehendes Themengebiet dermaßen authentisch und mitreißend, dass ich die volle Punktzahl dieser wichtigen Geschichte nicht vorenthalten will. Mich hat der Roman von Helene Bukowski gepackt und in eine emotionale Achterbahn gesteckt. Es ist gut, dass es Frauen in der Bundeswehr geben darf, und gleichzeitig bedarf es einer tiefgründigen Auseinandersetzung damit, was dies speziell zur Folge haben kann. Viele Eindrücke im Kampfeinsatz werden wohl bei allen Beteiligten eine ähnliche Wirkung haben, aber manche davon sind nun einmal spezifisch weiblich und sie gehören benannt. Umso besser, dass sich Bukowski nun damit beschäftigt.

Meines Erachtens handelt es sich hierbei um ein definitiv empfehlenswertes, sehr gut recherchiertes Buch. Der Roman legt den Finger in verschiedene traumatische Wunden von Frauen, oder um im Koordinatensystem des Romans zu bleiben: er kratzt immer wieder die Wunden auf, die scheinbar in der (weiblichen) Menschheitsgeschichte nie verheilen und sich immer wieder entzünden.

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