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Veröffentlicht am 06.12.2023

Solides Debüt mit Luft nach oben

Von hier betrachtet sieht das scheiße aus
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„Von einem Hochhaus stürzen, echt jetzt? Da war ich schon echt enttäuscht. Ich hätte, wenn schon, etwas Heroischeres oder Rockstarmäßigeres gewählt.“ Der beste Kumpel von Ben hat als seinen letzten (Aus-)Weg ...

„Von einem Hochhaus stürzen, echt jetzt? Da war ich schon echt enttäuscht. Ich hätte, wenn schon, etwas Heroischeres oder Rockstarmäßigeres gewählt.“ Der beste Kumpel von Ben hat als seinen letzten (Aus-)Weg den vom Hochhaus gewählt. Ben fällt da etwas anderes ein, um seinem von Zynismus durchseuchtem Leben als Wirtschaftsprüfer ein Ende zu setzen: Er will sich nach einer Karenzzeit von 50 Tagen von einem Auftragskiller umbringen lassen. So weiß er wenigstens nicht, wann und wie genau es passiert. Und muss nicht selbst den „Mut zum ersten Schritt“ (quasi) aufbringen. Wir erleben im Verlauf des Romans also die Veränderung, die in einem Menschen einsetzt, wenn dessen Lebenszeit klar bestimmt ist. Wir begleiten Ben dabei, wie er immer mehr seinen zersetzenden Zynismus fallen lässt und anfängt zu leben, bevor er sterben muss.

Die Geschichte von Ben und seinen Abenteuern erzählt Max Osswald flott und knackig aus der Ich-Perspektive Bens herunter. Dabei ist die Sprache durchaus derb und provokant, wie der Titel „Von hier aus betrachtet sieht das scheiße aus“ schon vermuten lässt. Es ist durchaus Humor zu erkennen, wenngleich er meinen um 10-15 Lebensjahre verpasst hat. Manche der doch recht häufig genutzten Aphorismen wirkt zu gewollt und können dadurch nicht wirklich punkten. So z.B.: „Selbstmord ist der Cousinenfick unter den Todesarten. Nicht verboten, fühlt sich aber nicht richtig an.“ Tja, Recht hat er. Aber muss das unbedingt sein? Es gibt auch viele Lebensweisheiten im Buch, die für sich genommen wirklich richtig und wichtig sind, aber hier einfach zu gehäuft auftreten. Der Autor spricht außerdem sehr viele Themengebiete, mitunter im Nebensatz an, lässt seine Protagonist:innen Sachen sagen, die eher wie info dump wirken, als dass sie zur Handlung beitragen. Das wirkt dann nicht immer authentisch eingeflochten. Da kommt schon einiges an Gesellschaftskritik zusammen. So galant gelöst, wie zum Beispiel in Marc-Uwe Klings Büchern (der Vergleich ist sicherlich aufgrund des Genres und Stils angebracht) ist die Vermittlung von gesellschaftskritischen Ansichten jedoch leider nicht. Da ist noch Luft nach oben für den Debütanten. Man merkt dem Text an, dass er vorgetragen werden will. Vielleicht wie eine auf das Buchformat ausgedehnte Variante eines Poetry Slam Beitrags. Ich könnte mir vorstellen, dass das Buch als Hörbuch auch durchaus besser funktioniert als in der gedruckten Form.

Atmosphärisch trifft der Autor jedoch sicherlich den Ton einer sinnsuchenden, unter Erfolgsdruck stehenden Generation, oder zumindest Teile dieser Generation. Ich finde es ja schrecklich Büchern dieses Label zu verpassen, durch welches sie gleich für eine ganze Generation sprechen sollen. Man kann dem Wandel von Ben vom absoluten Zyniker hin zu einem Menschen mit durchaus hoffnungsvolleren Ansichten durchaus gut folgen. Leider ist der Plot als solcher doch recht vorhersehbar. Hier hätte ich mir mehr Überraschungen gewünscht.

Gefallen hat mir besonders, wie der Autor herausarbeitet, dass wir Menschen untereinander um einiges weniger Probleme hätten, wenn wir ohne Rücksicht auf Verluste mal die Normen sprengen würden und offen und ehrlich miteinander reden. Denn dies gelingt Ben zunehmend. Sein Handeln wird mutiger mit Blick darauf, dass er eigentlich nichts mehr zu verlieren hat. So beginnt er erst richtig zu leben und auch tiefere Kontakte mit seinen Mitmenschen einzugehen.

Insgesamt hat mir das Buch durchaus gut gefallen. Ich habe dieses solide Erstlingswerk gern gelesen, sehe aber auch noch Ausbaupotential. Ich könnte mir vorstellen, das gerade jüngere Menschen um die 20 sich in diesem Buch gut wiederfinden und eine Lektüre für diese Personengruppe auch am ertragreichsten ist. Alle anderen bekommen eben relativ plakativ die traurigen aber wahren Erkenntnisse zu den Problemen unserer Gesellschaft und den darin lebenden Menschen aufgezeigt und können noch einmal für sich auffrischen, warum es sich lohnt, doch weiterzuleben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Mutige vor! Fordernde Lektüre sucht passende Leser:innen.

Ich und Jimmy
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Wer sich an die 400seitige Kurzgeschichtensammlung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1920-1977) in der Ausgabe des Manesse Verlags heranwagt, sollte viel Mut, Geduld und Intellekt mitbringen. ...

Wer sich an die 400seitige Kurzgeschichtensammlung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1920-1977) in der Ausgabe des Manesse Verlags heranwagt, sollte viel Mut, Geduld und Intellekt mitbringen. Ganze 30 Erzählungen versammelt das auf den ersten Blick sehr schön gestaltete Büchlein des Verlags. Diese sind entweder aus der Sicht einer oder über eine weibliche Figur geschrieben und befassen sich mit den Bedürfnissen, Wünschen sowie (Nachtschlaf-)Träumen aber auch Alltagserlebnissen ebendieser Mädchen und Frauen. Nun sind Träume ja meist sog. „zerrissene Geschichten“ und genauso verhält es sich auch mit den Erzählungen von Clarice Lispector.

Viele der Erzählungen wirken wie intellektuelle Fingerübungen der Autorin. Häufig hat sich eine in den Texten verpackte Aussage, eine Message für mich nicht herauskristallisieren können. Häufig war für mich unklar, wohin es gehen soll mit diesen Frauen aus der Oberschicht Brasiliens. Am Ende fast jeder Geschichte standen für mich große Fragezeichen, die jedoch nicht zur weiteren Beschäftigung mit dem Gelesenen anregen konnten. Selten wurde ich emotional berührt. Dies schaffte im Rückblick betrachtet allein die zweite Geschichte des Bandes „Die Flucht“, in welcher eine Ehefrau zumindest für einen Tag den Mut aufbringt, ihrem Ehemann und der Ehe den Rücken zu kehren und beginnt zu träumen. Von der Flucht aus Zwängen, Gedankengefängnissen und Alltag hin zu einem Leben in Übersee. Sie muss, aufgrund der wenigen einer Frau zu dieser Zeit (schätzungsweise 1940er Jahre) zur Verfügung stehenden Mittel und Freiheiten ihre Flucht abbrechen. Eine traurige einprägsame Geschichte, die nachhallt. Ein Großteil der restlichen Geschichten bleibt jedoch Arbeit für die Lesenden. Das muss nicht per se etwas Schlechtes bedeuten, ist in diesem Falle über das gesamte Buch hinweg jedoch eine äußerst ermüdende Arbeit. Immer wieder verstecken sich in den hoch anspruchsvollen Geschichten kleine, stilistisch wunderschöne Miniaturen. Sätze, die aber durch darauffolgende Formulierungen wieder verblassen ob ihrer Schönheit. Frau Lispector ist demnach durchaus eine begabte Autorin gewesen. Nur das Publikum sollte auch zu ihren Arbeiten passen. Man sollte sich auf Hochliteratur und äußerst kafkaeske Szenarien und Formulierungen einstellen, wenn man sich an diese anspruchsvolle Autorin heranwagt, denn es gibt nicht wenige Geschichten, in denen fast jeder Satz ein Rätsel ist, welches häufig ungelöst bleiben muss. So die wild assoziierte Geschichte um einen nächtlichen Traum „Wo wart ihr in der Nacht“ als exzentrischer „Höhepunkt“ der Sammlung mit Sätzen wie: „Doch sie streuten gemahlene Pfefferschoten auf ihre Genitalien und krümmten sich vor brennendem Schmerz. Und plötzlich der Hass. Sie brachten einander nicht um, verspürten aber einen so unerbittlichen Hass, dass es war, als träfe ein Wurfpfeil einen Körper. Und sie jauchzten, verdammt durch das, was sie spürten. Der Hass war Erbrochenes, das sie von einem größeren Erbrochenen befreite, dem Erbrochenen der Seele.“ (Definitiv die Geschichte, durch welche ich mich am meisten quälen musste.)

Um schon einmal ein Resümee zum Inhalt und Stil der Kurzprosa zu ziehen: Aufgrund der durchwachsenen Leseerfahrung würde ich an diesem Punkt als Bewertung 3 Sterne vergeben. Allerdings ist meines Erachtens hier die Ausgabe des Manesse Verlags als Gesamtheit zu betrachten und auch so zu bewerten:

Wie schon erwähnt, ist das Büchlein wirklich sehr hübsch gestaltet und liegt in seinem kleinen Format gut in der Hand. Allerdings gibt es meiner Meinung nach an einigen Stellen Minuspunkte in der editorischen Arbeit. So ist am augenscheinlichsten, dass sich an keiner Stelle im Buch oder auf dem Schutzumschlag biografische Angaben zur Autorin finden lassen. Wer das Buch im Buchladen zur Hand nimmt und noch nichts zur Autorin weiß, könnte nicht einmal das Geburts- und Sterbejahr zur groben historischen Einordnung erfahren! Bei egal welcher Lektüre ist das für mich eine absolute Grundlage für jede Buchveröffentlichung. Ich möchte einfach nicht eine Internetsuchmaschine für die aller grundlegendsten Informationen bemühen müssen. Darüber hinaus sind auch die einzelnen Geschichten nicht mit einer Jahreszahl versehen, sodass man sie historisch und biografisch einordnen könnte. Allein, dass sie chronologisch geordnet seien, erfährt man ganz zum Schluss der Lektüre, mehr aber auch nicht. Gerade ein Sammelband zu einer modernen Klassikerin sollte diese Einordnung anhand von original Veröffentlichungsjahren doch ermöglichen. Des Weiteren schwanken die zu den Geschichten vorhandenen 83 Anmerkungen, welche laut editorischer Notiz in Zusammenwirken aus Übersetzer und Manesse Verlag entstanden sind, stark in ihrer Qualität und Nachvollziehbarkeit. So geben viele Anmerkungen durchaus für das Verständnis der Sätze Lispectors wichtige Hinweise bezüglich genutzter Zitate, Anspielungen und genannten Personen. Andererseits fragt man sich, warum man den Lesenden dieser anspruchsvollen Geschichten nicht mehr Allgemeinwissen zutraut und extra erläutert wird, wer Händel, Kissinger oder Édith Piaf waren; und ein ausgerufenes „Viva!“ mit der Anmerkung versehen wird: „Port. «Leben!»“. An anderer Stelle erscheinen die Anmerkungen dann genauso wenig selbsterklärend und kryptisch wie der Text von Lispector selbst. Da klafft etwas in der Auswahl der Anmerkungen meilenweit auseinander, was den Lesefluss durchaus stört.

Schweren Herzens kann ich somit in der Gesamtheit dem Buch nur eine 2-Sterne-Bewertung geben, da es mir zu viele Punkte Abzug für die formelle Gestaltung gab. Das Buch würde ich nicht pauschal verurteilen und von der Lektüre ist durchaus nicht von vornherein abzuraten. Aber jede Person mit Interesse an der Autorin sollte sicherheitshalber in einem Buchladen mal aus dem ersten, dem mittleren und dem letzten Teil des Buches eine Geschichte lesen, um abschätzen zu können, ob die Lektüre wirklich für einen selbst passt. Die digitale Leseprobe, welche lediglich die ersten drei der insgesamt 30 Geschichten abbildet, ist definitiv noch keine valide Quelle für eine gute Entscheidung.

Also heißt es nun: Mutige vor! Diese fordernde Lektüre benötigt hochmotivierte Leser:innen, die Gefallen an im höchsten Maße anspruchsvoller Literatur haben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Dieses Buch wird nicht entfernt

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Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen ...

Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen Netzwerken gibt es dies leider zuhauf und es braucht Menschen (sog. Content-Moderator:innen), die sich diese Kommentare, Bilder und Videos anschauen, um entscheiden zu können, ob ein Beitrag gelöscht wird oder nicht. Diese Menschen werden noch so lange benötigt, bis ein Algorithmus die mitunter heiklen Entscheidungen selbst treffen kann. Bis dahin, werden unzählige Arbeiter:innen traumatisiert sein.

Hanna Bervoets Roman beschäftigt sich mit genau diesen Menschen im Schatten der Sozialen Medien. Er stellt den Bericht einer ehemaligen Mitarbeiterin dar, die unter belastenden Bedingungen allerlei belastende Beiträge gesichtet hat, deren Kolleg:innen traumatisiert die Firma verlassen haben und welche nun eine Klage gegen den Konzern anstrengen. Kayleigh, besagte Ex-Mitarbeiterin, verweigert sich jedoch einer Beteiligung an der Klage. Warum, beschreibt sie in ihrem Bericht, der für den aufdringlichen Anwalt der Kläger gedacht ist. Eigentlich, um diesem zu erläutern, warum sie keinesfalls so traumatisiert ist, wie ihre ehemaligen Kolleg:innen. So lesen wir nun die 122seitige Schilderung Kayleighs mit großer Spannung und auch Anspannung, ob der beschriebenen Kettenreaktion, die die Aufnahme der Arbeitsstelle in der besagten Firma für Kayleighs Leben und das ihrer Nächsten hatte.

In diesem Buch geht es keinesfalls allein darum, Katastrophentourismus zu betreiben und möglichst viele abartige, verstörende und schreckliche Szenen des Internets und damit menschlicher Abgründe zu erforschen. Dieser Schrecken ist nur ein Nebenprodukt der Lektüre, sofern man bisher in seinem Leben um derartige Beiträge drum herumgekommen ist. Hauptsächlich geht es darum aufzudecken, unter welchen Bedingungen Menschen dafür sorgen müssen, damit die ahnungslosen Nutzer:innen diverser Plattformen ihr sorgenfreies Surferlebnis genießen können. Es geht um sog. sekundäre Traumatisierungen, dass diese nicht immer die bekannten Symptome von Alpträumen, Gereiztheit, Schlaflosigkeit etc. haben müssen, sondern sich auch ganz anders zeigen können. Und es geht um die Auswirkungen dieser sekundären Traumatisierungen auf die Betroffenen und deren Leben.

Sehr geschickt entwirft die Autorin hier einen Roman, der zwar mit wenigen Seiten und knappen Worten daherkommt, allerdings sehr präzise oben genannte Kettenreaktionen beschreibt. Die Idee das ganze als einen Brief an den Anwalt, mit welchem Kayleigh klarstellen will, dass sie keineswegs so traumatisiert ist, wie ihre Kolleg:innen, ist grundsätzlich sehr gut umgesetzt. Nur manchmal zwischendrin fragt man sich, ob eine Person tatsächlich so ausführlich auch private Ereignisse geschildert hätte, sodass das Ganze nicht mehr 100%ig authentisch in seiner Entstehungsgeschichte wirkt. Die Schilderungen als solches sind jedoch vollkommen authentisch und natürlich auch subjektiv, was sie noch authentischer wirken lässt. Denn daran liegt die Crux an dem Buch. Welche Wahrnehmung ist „die korrekte“, was ist hier wirklich passiert. Die Lesenden müssen sich selbst dazu ein Bild machen und auch um die Ecke denken können. Der Roman endet sehr abrupt, was zunächst unbefriedigend wirkt. Aber gerade das Ende macht sehr viel Sinn und führt zu einer noch tiefgreifenderen Beschäftigung mit diesem selten beleuchtetem Thema. Dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt, kann man den Quellenangaben des Anhangs entnehmen. Wichtig ist hier auch die Erklärung der Autorin: „Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, die Figuren und ihre Erlebnisse sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind jedoch alles andere als zufällig.“

Bervoets möchte die Schattenseite der digitalen Welt von Social Media Firmen anprangern und vor allem aufrütteln. Das hat sie meines Erachtens mit ihrem Roman eindeutig geschafft. Eindringlich schreibt sie über ein Thema, was selten beleuchtet wird, und verdient dafür ein großes Publikum. Eine unkonventionelle, äußerst empfehlenswerte Lektüre. Somit wird dieses Buch keinesfalls aus meinem Bücherschrank entfernt, sondern wird dort definitiv verbleiben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Wenn Wes Anderson ein Buch schreiben würde

Was geschieht in der Nacht
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Während und nach der Lektüre von „Was geschieht in der Nacht“ ist es wenig überraschend, dass man ständig an verschiedenste Regisseure denken muss. Erinnert der Name des Autors „Peter Cameron“ sowohl an ...

Während und nach der Lektüre von „Was geschieht in der Nacht“ ist es wenig überraschend, dass man ständig an verschiedenste Regisseure denken muss. Erinnert der Name des Autors „Peter Cameron“ sowohl an Peter Jackson als auch James Cameron, so ist es der Stil und Inhalt des Buches, die eher an David Lynch und Wes Anderson erinnern lassen. Warum ist das so?

Man kann sich den skurrilen Plot sowie dessen Figuren einfach am besten verfilmt vorstellen. Da kommt ein amerikanisches Ehepaar per Zug in der Nacht in einer nicht näher bezeichneten nordeuropäischen Stadt an, um ein Baby aus dem Waisenhaus zu adoptieren. Aber schon die Ankunft verläuft verquer und erst recht der gesamte Aufenthalt. Da gibt es einen Geschäftsmann, der dem Ehemann des Paares einreden will, man hätte bereits eine homoerotische Nacht miteinander verbracht und kenne sich aus New York; eine ältere, schillernde Sängerin/Schauspielerin/Schaustellerin mischt sich in die Befindlichkeiten der Eheleute ein; der ortsansässige Heiler scheint die Rettung für die krebskranke Ehefrau; der Leiter des Waisenhauses scheint hingegen unerreichbar; und der stille Barmann wird dann doch noch ganz gesprächig. Alles läuft darauf hinaus, dass dieses Ehepaar den Ort so schnell nicht verlassen wird, ob mit oder ohne Kind ist sowieso fraglich.

Peter Cameron legt seine abgedrehte Story in einem sehr interessanten Setting an. Er erfindet einen Ort, der scheinbar prototypisch als Konglomerat aus verschiedenen nordischen Begrifflichkeiten, Namen, Sprachen und Gebräuchen zusammengesetzt ist. Schon die Ankunft ist düster inszeniert und lässt vermuten, dass wir uns in einer merkwürdigen Zwischenwelt befinden. Nie weiß man beim Lesen so genau, was hier real und was surreal ist. Denn das ist der Grundton des gesamten Romans: Surrealismus mit viel Skurrilität und Absurdität.

Während die Hauptfiguren (das Ehepaar) namenlos und auch meines Erachtens konturlos bleibt, wartet Cameron mit allen möglichen Absurditäten bezüglich der Nebenfiguren auf. Das liest sich über die erste Hälfte des Romans recht spritzig und „anders“, wird jedoch im weiteren Verlauf zu einer ständigen Wiederholung und verblasst somit immer mehr. Leider konnte ich den Entscheidungen und Motivationen der Ehepartner kaum mehr folgen. Sie wirkten nicht mehr nachvollziehbar und ebenso wenig realistisch wie das gesamte Setting. Nun könnte man sich damit abfinden und sagen, gut, dann ist eben der gesamte Roman unrealistisch konstruiert. Aber an dieser Stelle verliert mich der Autor. Bei Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“, ein Film, an welchen ich ständig bei der Lektüre denken musste, machen die Protagonisten auch die verrücktesten Sachen, keine Frage. Aber dort konnte ich trotzdem nachvollziehen, was sie zu ihren Handlungen bewogen hat. Das fehlt mir hier komplett. Die Beziehungsentwicklung zwischen den Ehepartnern nimmt innerhalb von wenigen Tagen bzw. Nächten einen Verlauf, der viel zu schnell und in Richtungen geht, die einfach unglaubwürdig und zweifelhaft sind.

Somit stellt das Buch durchaus für mich eine solide Leseerfahrung dar. Aber ich finde, ein unrealistisches, surreales Setting mit skurrilen Figuren sollte immer noch einigermaßen nachvollziehbare menschliche Reaktionen beinhalten, um als Leserin weiterhin mit Interesse dabeizubleiben. Die Geschichte verläuft sich zum Ende hin. Ja, man könnte sogar sagen sie „plätschert“ so dahin, natürlich soweit man die Koordinaten für dieses Wort in den Bezugsrahmen einer abgedrehten Story setzt.

Nach anfänglicher Freude über dieses unkonventionelle Setting - für ein Buch, denn im Film gab es dies durchaus schon häufiger -, verlor ich zunehmend die Geduld mit dem Roman und er konnte meines Erachtens nicht auf voller Länge mit seiner tollen Grundidee mithalten. Als kurioser Arthouse-Film könnte diese Geschichte sicherlich über eine Filmlänge hinweg funktionieren, in Buchform konnte sie mich nicht vollends überzeugen.

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Veröffentlicht am 30.11.2023

You made a Fool of Death

Du bist so schön, sogar der Tod erblasst
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Bisher kenne ich von Akwaeke Emezi nur den Debütroman "Süßwasser", welcher sowohl inhaltlich als auch stilistisch nur schwer zu lesen, dennoch sehr gehaltvoll war. Ja, fast durchkämpfen musste ich mich ...

Bisher kenne ich von Akwaeke Emezi nur den Debütroman "Süßwasser", welcher sowohl inhaltlich als auch stilistisch nur schwer zu lesen, dennoch sehr gehaltvoll war. Ja, fast durchkämpfen musste ich mich damals durch die Lektüre. Das war bei "Du bist so schön, sogar der Tod erblasst" (im englischsprachigen Original "You made a Fool of Death with your Beauty") komplett anders. Emezi scheint sich hier ganz und gar in die Unterhaltungsliteratur begeben zu haben, denn nun liest es sich eingängig und scheinbar auch recht oberflächlich.

Es geht um eine junge Frau, Ende Zwanzig, die vor fünf Jahren bei einem gemeinsam erlebten Autounfall ihren Ehemann verloren hat. Die Trauer hat sich in ihr Dasein und auch ihre Arbeit als Künstlerin eingebrannt und nun geht sie die ersten Schritte und öffnet sich wieder (sexuellen) Beziehungen. Davon ist auch der Beginn des Romans geprägt. Wir bekommen einige Sexszenen zu lesen, die aber erst einmal nur dem Stillen der körperlichen Lust der Protagonistin Feyi dienen. Mit Nasir könnte es mehr werden, weshalb sie zunächst enthaltsam bleibt und ihn als gute Freundin in seine Heimat auf eine nicht näher bezeichnete karibische Insel begleitet, um an einer Gruppenausstellung von Künstler:innen der afrikanischen Diaspora teilzunehmen. Schon beim ersten Blick, den sie auf Nasirs Vater Alim wirft erwecken lang verschüttete Gefühle, umso mehr als sie erkennt, dass er einen ähnlichen Verlust wie sie in seinem Leben zu verkraften hatte. Ein Mechanismus beginnt sich in Gang zu setzen, der zu viel Leid aber potentiell auch zu viel Liebe führen kann.

Mir hat der Roman von Emezi unter der Prämisse, dass es sich um eine leicht zugänglich angelegte Geschichte um Trauer, Trauerbewältigung und neue Liebe handelt, sehr gut gefallen. Mit farbenprächtigen Bildern erzählt Emezi von dem Heraustreten aus der grauen Zeit der Trauer in eine neue (Gefühls-)Welt. Hier wird das Thema Trauer einmal von einer neuen Seite beleuchtet und literarisch umgesetzt. So findet das Voranschreiten im Trauerprozess sein Äquivalent in der immer reichhaltiger werdenden Umgebung und dem Leuchten der Figuren. Das karibische Setting weiß Emezi detailliert zu beschreiben, sodass vor dem inneren Auge eine ganz neue Welt auftut, in welche man selbst eintauchen möchte. Ebenso nutzt sie den gustatorischen Sinn, um das Aufblühen von Feyi zu beschreiben, ist doch Alim ein Sternekoch, der sein Können immer wieder unter Beweis stellt. Weiterhin wird die Beschreibung der Installationen Feyis genutzt, um Trauerarbeit darzustellen. Und letztlich gefällt mir einfach am Roman, dass er ganz selbstverständlich in einer Schwarzen gehobenen Klasse spielt. Dieser Roman braucht keine weißen Menschen, um sich zu verorten, auch wenn die beste Freundin von Feyi an einer Stelle ihr ins Gewissen redet, das Ausstellungsangebot durch Beziehungen zu nutzen, wie es genügend weiße Menschen der Kunstwelt jeden Tag tun. Es ist angenehm endlich eine Geschichte zu lesen, die in der Welt von Schwarzen Reichen und Schönen spielt.

Insgesamt konnte mich der Roman von Akwaeke Emezi abholen und in diese wunderschöne. karibische Welt mitnehmen. Nicht nur optisch und gustatorisch sondern auch emotional. "Nur" vier Sterne gibt es für den Roman, weil ich von Emezi einfach literarisch etwas Anspruchsvolleres erwartet hatte und sie stilistisch keine Sprünge in dem vorliegenden Roman macht. Emezi kann das eigentlich, wollte hier aber scheinbar einen eingängigeren Roman schreiben. Egal, mir hat es gefallen.

4/5 Sterne

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