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Veröffentlicht am 06.12.2023

Dieses Buch wird nicht entfernt

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Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen ...

Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen Netzwerken gibt es dies leider zuhauf und es braucht Menschen (sog. Content-Moderator:innen), die sich diese Kommentare, Bilder und Videos anschauen, um entscheiden zu können, ob ein Beitrag gelöscht wird oder nicht. Diese Menschen werden noch so lange benötigt, bis ein Algorithmus die mitunter heiklen Entscheidungen selbst treffen kann. Bis dahin, werden unzählige Arbeiter:innen traumatisiert sein.

Hanna Bervoets Roman beschäftigt sich mit genau diesen Menschen im Schatten der Sozialen Medien. Er stellt den Bericht einer ehemaligen Mitarbeiterin dar, die unter belastenden Bedingungen allerlei belastende Beiträge gesichtet hat, deren Kolleg:innen traumatisiert die Firma verlassen haben und welche nun eine Klage gegen den Konzern anstrengen. Kayleigh, besagte Ex-Mitarbeiterin, verweigert sich jedoch einer Beteiligung an der Klage. Warum, beschreibt sie in ihrem Bericht, der für den aufdringlichen Anwalt der Kläger gedacht ist. Eigentlich, um diesem zu erläutern, warum sie keinesfalls so traumatisiert ist, wie ihre ehemaligen Kolleg:innen. So lesen wir nun die 122seitige Schilderung Kayleighs mit großer Spannung und auch Anspannung, ob der beschriebenen Kettenreaktion, die die Aufnahme der Arbeitsstelle in der besagten Firma für Kayleighs Leben und das ihrer Nächsten hatte.

In diesem Buch geht es keinesfalls allein darum, Katastrophentourismus zu betreiben und möglichst viele abartige, verstörende und schreckliche Szenen des Internets und damit menschlicher Abgründe zu erforschen. Dieser Schrecken ist nur ein Nebenprodukt der Lektüre, sofern man bisher in seinem Leben um derartige Beiträge drum herumgekommen ist. Hauptsächlich geht es darum aufzudecken, unter welchen Bedingungen Menschen dafür sorgen müssen, damit die ahnungslosen Nutzer:innen diverser Plattformen ihr sorgenfreies Surferlebnis genießen können. Es geht um sog. sekundäre Traumatisierungen, dass diese nicht immer die bekannten Symptome von Alpträumen, Gereiztheit, Schlaflosigkeit etc. haben müssen, sondern sich auch ganz anders zeigen können. Und es geht um die Auswirkungen dieser sekundären Traumatisierungen auf die Betroffenen und deren Leben.

Sehr geschickt entwirft die Autorin hier einen Roman, der zwar mit wenigen Seiten und knappen Worten daherkommt, allerdings sehr präzise oben genannte Kettenreaktionen beschreibt. Die Idee das ganze als einen Brief an den Anwalt, mit welchem Kayleigh klarstellen will, dass sie keineswegs so traumatisiert ist, wie ihre Kolleg:innen, ist grundsätzlich sehr gut umgesetzt. Nur manchmal zwischendrin fragt man sich, ob eine Person tatsächlich so ausführlich auch private Ereignisse geschildert hätte, sodass das Ganze nicht mehr 100%ig authentisch in seiner Entstehungsgeschichte wirkt. Die Schilderungen als solches sind jedoch vollkommen authentisch und natürlich auch subjektiv, was sie noch authentischer wirken lässt. Denn daran liegt die Crux an dem Buch. Welche Wahrnehmung ist „die korrekte“, was ist hier wirklich passiert. Die Lesenden müssen sich selbst dazu ein Bild machen und auch um die Ecke denken können. Der Roman endet sehr abrupt, was zunächst unbefriedigend wirkt. Aber gerade das Ende macht sehr viel Sinn und führt zu einer noch tiefgreifenderen Beschäftigung mit diesem selten beleuchtetem Thema. Dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt, kann man den Quellenangaben des Anhangs entnehmen. Wichtig ist hier auch die Erklärung der Autorin: „Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, die Figuren und ihre Erlebnisse sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind jedoch alles andere als zufällig.“

Bervoets möchte die Schattenseite der digitalen Welt von Social Media Firmen anprangern und vor allem aufrütteln. Das hat sie meines Erachtens mit ihrem Roman eindeutig geschafft. Eindringlich schreibt sie über ein Thema, was selten beleuchtet wird, und verdient dafür ein großes Publikum. Eine unkonventionelle, äußerst empfehlenswerte Lektüre. Somit wird dieses Buch keinesfalls aus meinem Bücherschrank entfernt, sondern wird dort definitiv verbleiben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Wenn Wes Anderson ein Buch schreiben würde

Was geschieht in der Nacht
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Während und nach der Lektüre von „Was geschieht in der Nacht“ ist es wenig überraschend, dass man ständig an verschiedenste Regisseure denken muss. Erinnert der Name des Autors „Peter Cameron“ sowohl an ...

Während und nach der Lektüre von „Was geschieht in der Nacht“ ist es wenig überraschend, dass man ständig an verschiedenste Regisseure denken muss. Erinnert der Name des Autors „Peter Cameron“ sowohl an Peter Jackson als auch James Cameron, so ist es der Stil und Inhalt des Buches, die eher an David Lynch und Wes Anderson erinnern lassen. Warum ist das so?

Man kann sich den skurrilen Plot sowie dessen Figuren einfach am besten verfilmt vorstellen. Da kommt ein amerikanisches Ehepaar per Zug in der Nacht in einer nicht näher bezeichneten nordeuropäischen Stadt an, um ein Baby aus dem Waisenhaus zu adoptieren. Aber schon die Ankunft verläuft verquer und erst recht der gesamte Aufenthalt. Da gibt es einen Geschäftsmann, der dem Ehemann des Paares einreden will, man hätte bereits eine homoerotische Nacht miteinander verbracht und kenne sich aus New York; eine ältere, schillernde Sängerin/Schauspielerin/Schaustellerin mischt sich in die Befindlichkeiten der Eheleute ein; der ortsansässige Heiler scheint die Rettung für die krebskranke Ehefrau; der Leiter des Waisenhauses scheint hingegen unerreichbar; und der stille Barmann wird dann doch noch ganz gesprächig. Alles läuft darauf hinaus, dass dieses Ehepaar den Ort so schnell nicht verlassen wird, ob mit oder ohne Kind ist sowieso fraglich.

Peter Cameron legt seine abgedrehte Story in einem sehr interessanten Setting an. Er erfindet einen Ort, der scheinbar prototypisch als Konglomerat aus verschiedenen nordischen Begrifflichkeiten, Namen, Sprachen und Gebräuchen zusammengesetzt ist. Schon die Ankunft ist düster inszeniert und lässt vermuten, dass wir uns in einer merkwürdigen Zwischenwelt befinden. Nie weiß man beim Lesen so genau, was hier real und was surreal ist. Denn das ist der Grundton des gesamten Romans: Surrealismus mit viel Skurrilität und Absurdität.

Während die Hauptfiguren (das Ehepaar) namenlos und auch meines Erachtens konturlos bleibt, wartet Cameron mit allen möglichen Absurditäten bezüglich der Nebenfiguren auf. Das liest sich über die erste Hälfte des Romans recht spritzig und „anders“, wird jedoch im weiteren Verlauf zu einer ständigen Wiederholung und verblasst somit immer mehr. Leider konnte ich den Entscheidungen und Motivationen der Ehepartner kaum mehr folgen. Sie wirkten nicht mehr nachvollziehbar und ebenso wenig realistisch wie das gesamte Setting. Nun könnte man sich damit abfinden und sagen, gut, dann ist eben der gesamte Roman unrealistisch konstruiert. Aber an dieser Stelle verliert mich der Autor. Bei Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“, ein Film, an welchen ich ständig bei der Lektüre denken musste, machen die Protagonisten auch die verrücktesten Sachen, keine Frage. Aber dort konnte ich trotzdem nachvollziehen, was sie zu ihren Handlungen bewogen hat. Das fehlt mir hier komplett. Die Beziehungsentwicklung zwischen den Ehepartnern nimmt innerhalb von wenigen Tagen bzw. Nächten einen Verlauf, der viel zu schnell und in Richtungen geht, die einfach unglaubwürdig und zweifelhaft sind.

Somit stellt das Buch durchaus für mich eine solide Leseerfahrung dar. Aber ich finde, ein unrealistisches, surreales Setting mit skurrilen Figuren sollte immer noch einigermaßen nachvollziehbare menschliche Reaktionen beinhalten, um als Leserin weiterhin mit Interesse dabeizubleiben. Die Geschichte verläuft sich zum Ende hin. Ja, man könnte sogar sagen sie „plätschert“ so dahin, natürlich soweit man die Koordinaten für dieses Wort in den Bezugsrahmen einer abgedrehten Story setzt.

Nach anfänglicher Freude über dieses unkonventionelle Setting - für ein Buch, denn im Film gab es dies durchaus schon häufiger -, verlor ich zunehmend die Geduld mit dem Roman und er konnte meines Erachtens nicht auf voller Länge mit seiner tollen Grundidee mithalten. Als kurioser Arthouse-Film könnte diese Geschichte sicherlich über eine Filmlänge hinweg funktionieren, in Buchform konnte sie mich nicht vollends überzeugen.

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Veröffentlicht am 30.11.2023

You made a Fool of Death

Du bist so schön, sogar der Tod erblasst
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Bisher kenne ich von Akwaeke Emezi nur den Debütroman "Süßwasser", welcher sowohl inhaltlich als auch stilistisch nur schwer zu lesen, dennoch sehr gehaltvoll war. Ja, fast durchkämpfen musste ich mich ...

Bisher kenne ich von Akwaeke Emezi nur den Debütroman "Süßwasser", welcher sowohl inhaltlich als auch stilistisch nur schwer zu lesen, dennoch sehr gehaltvoll war. Ja, fast durchkämpfen musste ich mich damals durch die Lektüre. Das war bei "Du bist so schön, sogar der Tod erblasst" (im englischsprachigen Original "You made a Fool of Death with your Beauty") komplett anders. Emezi scheint sich hier ganz und gar in die Unterhaltungsliteratur begeben zu haben, denn nun liest es sich eingängig und scheinbar auch recht oberflächlich.

Es geht um eine junge Frau, Ende Zwanzig, die vor fünf Jahren bei einem gemeinsam erlebten Autounfall ihren Ehemann verloren hat. Die Trauer hat sich in ihr Dasein und auch ihre Arbeit als Künstlerin eingebrannt und nun geht sie die ersten Schritte und öffnet sich wieder (sexuellen) Beziehungen. Davon ist auch der Beginn des Romans geprägt. Wir bekommen einige Sexszenen zu lesen, die aber erst einmal nur dem Stillen der körperlichen Lust der Protagonistin Feyi dienen. Mit Nasir könnte es mehr werden, weshalb sie zunächst enthaltsam bleibt und ihn als gute Freundin in seine Heimat auf eine nicht näher bezeichnete karibische Insel begleitet, um an einer Gruppenausstellung von Künstler:innen der afrikanischen Diaspora teilzunehmen. Schon beim ersten Blick, den sie auf Nasirs Vater Alim wirft erwecken lang verschüttete Gefühle, umso mehr als sie erkennt, dass er einen ähnlichen Verlust wie sie in seinem Leben zu verkraften hatte. Ein Mechanismus beginnt sich in Gang zu setzen, der zu viel Leid aber potentiell auch zu viel Liebe führen kann.

Mir hat der Roman von Emezi unter der Prämisse, dass es sich um eine leicht zugänglich angelegte Geschichte um Trauer, Trauerbewältigung und neue Liebe handelt, sehr gut gefallen. Mit farbenprächtigen Bildern erzählt Emezi von dem Heraustreten aus der grauen Zeit der Trauer in eine neue (Gefühls-)Welt. Hier wird das Thema Trauer einmal von einer neuen Seite beleuchtet und literarisch umgesetzt. So findet das Voranschreiten im Trauerprozess sein Äquivalent in der immer reichhaltiger werdenden Umgebung und dem Leuchten der Figuren. Das karibische Setting weiß Emezi detailliert zu beschreiben, sodass vor dem inneren Auge eine ganz neue Welt auftut, in welche man selbst eintauchen möchte. Ebenso nutzt sie den gustatorischen Sinn, um das Aufblühen von Feyi zu beschreiben, ist doch Alim ein Sternekoch, der sein Können immer wieder unter Beweis stellt. Weiterhin wird die Beschreibung der Installationen Feyis genutzt, um Trauerarbeit darzustellen. Und letztlich gefällt mir einfach am Roman, dass er ganz selbstverständlich in einer Schwarzen gehobenen Klasse spielt. Dieser Roman braucht keine weißen Menschen, um sich zu verorten, auch wenn die beste Freundin von Feyi an einer Stelle ihr ins Gewissen redet, das Ausstellungsangebot durch Beziehungen zu nutzen, wie es genügend weiße Menschen der Kunstwelt jeden Tag tun. Es ist angenehm endlich eine Geschichte zu lesen, die in der Welt von Schwarzen Reichen und Schönen spielt.

Insgesamt konnte mich der Roman von Akwaeke Emezi abholen und in diese wunderschöne. karibische Welt mitnehmen. Nicht nur optisch und gustatorisch sondern auch emotional. "Nur" vier Sterne gibt es für den Roman, weil ich von Emezi einfach literarisch etwas Anspruchsvolleres erwartet hatte und sie stilistisch keine Sprünge in dem vorliegenden Roman macht. Emezi kann das eigentlich, wollte hier aber scheinbar einen eingängigeren Roman schreiben. Egal, mir hat es gefallen.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 12.11.2023

Magischer Realismus in Belfast

Firestarter
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Vieles hätte ich von diesem Roman erwartet, aber nicht das, was ich letztlich bekommen habe. Sehr positiv wurde ich überrascht von den unerwarteten Inhalten des Romans der nordirischen Autorin Jan Carson.

Immer ...

Vieles hätte ich von diesem Roman erwartet, aber nicht das, was ich letztlich bekommen habe. Sehr positiv wurde ich überrascht von den unerwarteten Inhalten des Romans der nordirischen Autorin Jan Carson.

Immer am 12. Juli eines Jahres feiern die Protestanten Nordirlands den historischen Sieg WilhelmIII. über Jakob II. Als Sieg der Protestanten über die Katholiken. Immer wieder ist es in der Vergangenheit bei den Märschen der Mitglieder des sogenannten Oranier-Ordens zu Ausschreitungen mit Katholiken und der Polizei gekommen. So auch im Roman von Jan Carson, welcher in 2014 spielt. Dort sorgt ein maskierter Unruhestifter mit Online-Videos dafür, dass schon Wochen vor dem 12. Juli die ersten Gebäude brennen. Er nennt sich der „Firestarter“, spielt im Hintergrund seiner Videos den gleichnamigen, wohl bekanntesten Song von The Prodigy ab und lässt die Gewalt immer mehr ansteigen. Sammy vermutet, dass sein Sohn hinter den Videos steckt. Zeigte der doch schon sein gesamtes Leben lang psychopathische Verhaltensweisen. Sammy, um die 50 Jahre alt, war als Jugendlicher in den 1980ern selbst einer der aggressiven Unruhestifter in Belfast. Hinzu kommt noch die Geschichte von Jonathan, welcher erst vor wenigen Wochen Vater geworden ist und ebenso mit der Gefahr, welche potentiell von seiner Tochter ausgeht, hadert.

Carson überrascht in ihrem Roman mit ganz unerwarteten Wendungen. So ist der vorliegende Roman keiner, der den Nordirlandkonflikt historisch aufarbeiten oder erklären will, er spielt ganz einfach in Belfast und hier gehören die ständigen Unruhen und die terroristischen Akte einfach zum Alltag der Menschen dazu. So beschreibt sie die „Vorbereitungen“ auf den 12. Juli mit lakonischer Art und lässt dabei immer wieder trockenen Humor durchblitzen. So wird man vielleicht, wenn man in diesem krisengebeutelten Landstrich aufgewachsen ist und nun selbst in Belfast lebt. Gerade im ersten Teil des Romans bekommen wir also einige Alltagseindrücke beschrieben. Alles andere als alltäglich sind die eingeschobenen Kapitel in Kursivdruck, die die Schicksale von ganz ungewöhnlichen Kindern mit angeborenen, übernatürlichen Fähigkeiten beschreiben. Diese Kinder leben unter den Menschen und müssen mit ihren ganz eigenen Problemen kämpfen. Jonathans Tochter scheint auch eine dieser Kinder zu sein, ist ihre Mutter doch eine Sirene gewesen. Ein weibliches Fabelwesen, welches durch ihren betörenden Gesang Männer anlockt, um sie zu töten. Die Mutter lockte jedoch Jonathan an, nicht um ihn zu töten, sondern um sich fortzupflanzen. Nun steht Jonathan mit seiner neugeborenen Tochter allein da und muss mit jedem ihrer Entwicklungsschritte befürchten, dass sie beginnt zu sprechen und damit die Bevölkerung Belfasts in Lebensgefahr bringen wird.

Carson schlüsselt durch die beiden Vaterfiguren, Sammy und Jonathan, auf, wie konfliktbeladen Vaterschaft ganz grundsätzlich, aber auch im Speziellen sein kann, wenn sich das eigene Kind als potentielle Gefahr für die Allgemeinheit herausstellt. Wie damit umgehen? Was tun als Vater, der sowohl das Beste für die Allgemeinheit aber auch für das eigenen Kind erreichen möchte? Wir folgen den beiden Protagonisten mithilfe von ganz unterschiedlichen Erzählperspektiven, die manchmal eine Ich-Perspektive sein kann, manchmal aber auch auktorial, wenn der Alltag der Bevölkerung in Belfast beschrieben wird. Letztlich fokussieren wir immer stärker auf die beiden Einzelschicksale und den entsprechenden Weg, den die Väter als Umgang mit der belastenden Situation für sich wählen. Das ist geschickt gemacht und überrascht einfach immer wieder.

Letztlich konnte mich das Ende von Sammys Erzählstrang nicht gänzlich überzeugen. Zu unplausibel erscheinen hier die Geschehnisse im Finale. Trotzdem ist der vorliegende Roman für mich die Überraschung des Jahres. Somit bekommt „Firestarter“ eine klare Leseempfehlung von mir für alle, die etwas Unerwartetes lesen möchten und gleichzeitig schon ein paar Vorkenntnisse zum Nordirlandkonflikt mitbringen, denn man sollte nicht erwarten, hier alle Zusammenhänge noch einmal erklärt zu bekommen.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 12.11.2023

Im Prinzip ist das Buch okay

Im Prinzip ist alles okay
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Miryam Topal - sicherlich nicht nur zufällig fast ein Anagramm des Namens der Autorin Yasmin Polat – bekommt in 2019 ein Kind und meint zusammen mit ihrem Partner Robert nun endlich ein gutes leben zu ...

Miryam Topal - sicherlich nicht nur zufällig fast ein Anagramm des Namens der Autorin Yasmin Polat – bekommt in 2019 ein Kind und meint zusammen mit ihrem Partner Robert nun endlich ein gutes leben zu führen. Das der Schein nur trügt, bekommen wir sehr schnell mit. Denn zunächst durch Rückblenden und später auch Gedankenkreise und Verhaltensweisen in der „Gegenwart“ 2019 erfahren wir, dass Miryam bereits seit sieben Jahren immer wieder depressive Episoden durchmacht und sich die Zeit nach der Geburt ihres Kindes nur in seinen Symptomen von anderen, älteren Episoden unterscheidet. Wir begleiten die Protagonistin nun in ihrer Erkenntnisgewinnung und in der Suche nach Auswegen aus ihren depressiven Symptomen und ihrem festgefahrenen Leben.

Zu Beginn stellt sich die Ich-Erzählerin noch wie eine leicht überforderte, an sich selbst zweifelnde Mutter dar, die aber eigentlich doch alles im Griff zu haben scheint. Dabei geht sie einem beim Lesen ihrer ewigen selbstkritischen Gedankenkreisel doch relativ schnell auf die Nerven und stellt dies sogar selbst im Text fest: (S.53)

„…, und ich bin eine miserable, bittere Nervkuh. […] Mir läuft eine weitere Träne die rechte Wange herunter, sein [Roberts] Stress-Kommentar hat mich verletzt. Ich bin für alle einfach immer nur Stress, meine Gefühle sind ja offenbar kleine Vulkanausbrüche, die mein Umfeld umschiffen muss.“

Wenn Protagonistinnen trotzdem sympathisch angelegt sind, würde man an so einer Stelle in einem Bericht ihnen am liebsten zuflüstern „Nein, das bist du nicht, die anderen nehmen dich nur falsch wahr.“ Leider ist es hier aber anders. Miryam ist tatsächlich unglaublich nervig, zeigt damit aber auch gut, wie stark depressive Menschen mit ihren ewigen Selbstzweifeln ihr soziales Umfeld belasten. In diesem Falle hier, sind auch wir, die Lesenden, das soziale Umfeld und bekommen nun mal alles, aber auch alles, was Miryam durchmacht mit. Dafür muss man die entsprechenden Nerven haben. Gleichzeitig liegt aber auch ein gewisser Reiz darin, denn es ist nun einmal eine recht realistische Darstellung. Dies könnte auch daran liegen, dass die Autorin den Roman recht nahe an ihrem eigenen Leben angelegt hat und daher aus eigener Erfahrung berichten kann. Sehr interessant und auch psychologisch plausibel leitet sie mithilfe der Rückblenden her, aus welchem Milieu die Protagonistin stammt, welche Beziehungserfahrungen (sowohl innerhalb der Ursprungsfamilie als auch in früheren Liebesbeziehungen) sie gemacht hat und wie ihre Depression dadurch entstehen und sich aufrechterhalten konnte.

Sprachlich und vom Aufbau her habe ich hingegen mehr mit dem Roman gehadert. Zum einen nutzt die Autorin über das gesamte Buch hinweg immer wieder hippe, englischsprachige Füllworte wie „seriously?“, „literally“, „obviously“, „caps lock“ (als jemand spricht wie „in Großbuchstaben“) usw. usf. Diese Worte könnte ich innerhalb von direkter Rede gut nachvollziehen, wenn die Autorin ein Milieu, in welchem sich die Protagonistin bewegt, darstellen möchte. Da diese Formen aber auch durchgängig im Fließtext genutzt werden und gegen Ende auch ein Paartherapeut als wäre es das Normalste auf der Welt von sog. „Daddy Issues“ spricht, muss ich unterm Strich sagen, dass mir die Nutzung der Anglizismen im Text eher nicht gefallen haben und ich sie mir literarisch nicht vollständig herleiten konnte. Dadurch wirkt es eher, als ob die Autorin ihren eigenen Alltagssprachgebrauch in den Roman hat einfließen lassen. Kurioserweise wirken die genutzten Anglizismen, als ob sie eigentlich besser zu einer zehn bis 15 Jahre jüngeren Person passen würden. Die Protagonistin wie auch die Autorin ist 1989 geboren, klingt aber wie eine Teenagerin oder eine Mitte Zwanzigjährige. Nun ja. Zum anderen wird gegen Ende die Konstruktion der Geschichte durch Rückblenden, die früher als im Jahre 2019 liegen, aufgebrochen und wir springen auf den letzten 60 Seiten noch einmal wild hin und her, in die Zukunft und doch wieder per „Rückblende“, die aber dann nach 2019 liegt, zurück in eine zukünftige Vergangenheit, relativ gesehen zu unserer bisher angenommenen „Gegenwart“ 2019. Und wenn man gerade denkt, jetzt hat die Autorin einen Schlusspunkt gefunden, kommt noch einmal ein Epilog hintendran, der irgendwie unpassend rangeklatscht wirkt. Auf den Seiten vor dem Epilog wird inhaltlich dann auch noch angedeutet, dass eine Depression mithilfe von einem guten, klärenden Gespräch sowie der Hilfe von Ein-Satz-Weisheiten aus den sozialen Medien überwunden werden könnten. Eine Passage, die ich fachlich äußerst kritisch sehe.

Insgesamt finde ich den Roman durchaus gut geschrieben und auch inhaltlich lesenswert. Vor allem die Rückblenden, die die tief verwurzelten Ursachen der Depression von Miryam aufzeigen sind prägnant geschrieben und aufschlussreich. Die Gegenwartsebene empfand ich hingegen häufig als anstrengend und mitunter auch etwas zu weitschweifig in ihren Beschreibungen, hier hätte etwas mehr Verdichtung dem Text gutgetan. Im Prinzip ist das Buch also okay und auch lesenswert für Interessierte, die die oben genannten Kritikpunkte tolerieren können.

3/5 Sterne

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