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Veröffentlicht am 21.09.2024

Familiengeschichte aus Indien

Der Gott der kleinen Dinge
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Nachdem mir vor Jahren >Das Ministerium des äußersten Glücks< von Arundhati Roy sehr gut gefallen hatte, wollte ich unbedingt ihr Debüt lesen, das ebenfalls von vielen Lesern für gut befunden wurde. Doch ...

Nachdem mir vor Jahren >Das Ministerium des äußersten Glücks< von Arundhati Roy sehr gut gefallen hatte, wollte ich unbedingt ihr Debüt lesen, das ebenfalls von vielen Lesern für gut befunden wurde. Doch die Autorin hat es mir nicht leicht gemacht. Zu viele Zeitsprünge, Ausschmückungen und dadurch entstandene Längen erschwerten mir das Lesen. Die Struktur der gesamten Textes erinnerte mich an ein in sich verschlungenes Paisley-Muster.

Lange war mir nicht klar, worum es in der Geschichte geht, die um 1970 im ländlichen Indien spielt. Esthappen und Rahel sind zweieiige Zwillinge einer geschiedenen Mutter. Sie leben im Haus der Großmutter, ebenso wie ihr ebenfalls geschiedener Onkel Chacko. Sie bekommen Besuch von dessen, zum zweiten Mal verheirateten, englischen Exfrau und seiner Tochter Sophie Mol. Die ist mit ihren acht Jahren gerade mal ein wenig älter als ihr Cousin und die Cousine. Nachdem ein schrecklicher Unfall passiert ist, wird Esta zu seinem Vater geschickt („zurückgegeben“). Nun müssen die bisher unzertrennlichen Zwillinge die nächsten 23 Jahre ohne einander auskommen. Dieses Buch erzählt die gesamte Familiengeschichte; ehe zum Schluss klar wird, wie das Unglück zustande kam.

Auffallend ist die Lust der Autorin am Fabulieren:

„Nachdem die Stille erst einmal da war, blieb sie und breitete sich in Esta aus. Sie wucherte aus seinem Kopf heraus und nahm ihn in ihre morastigen Arme. Sie sandte ihre unsichtbaren mit Saugnäpfen versehenen Tentakeln in seinem Gehirn aus, wo sie die Kuppen und Täler seines Gedächtnisses absaugten, als Sätze entfernten, sie von seiner Zungenspitze fegte.“ (Seite 21)

Um die Fremdheit in Indien zu begreifen, sind zwar Erklärungen zum Verständnis von Land und Leuten unumgänglich, forderten mich als Leserin aber gewaltig heraus. Zu leicht verlor ich zwischendurch den Faden, weil die Autorin vom Hundertsten ins Tausendste kam. Die Personen blieben mir sehr lange merkwürdig fremd, so manches konnte ich nicht nachvollziehen.

Doch es gab auch Abschnitte, die mich fesselten und am Aufgeben hinderten. Ich lasse mich von meiner Lektüre gerne in fremde Länder mitnehmen und gerade Indien zeigte mir mit seinem Kastendenken, Aberglauben und seinen verschiedenen Göttern eine Welt, die mich fasziniert. Auch der immer wieder aufblitzende Humor der Autorin gefiel mir. Doch endgültig für sich eingenommen hat mich das ergreifende Ende des Buches. Das hat bewiesen, dass sich das Durchhalten gelohnt hat. Es trieb mir vor Entsetzen und Wut Tränen in die Augen.

Fazit: ein Buch für geduldige Leser, die an Längen nicht scheitern.

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Veröffentlicht am 16.09.2024

Phantasie versus Schönheit

Miss Island
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„Man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“

Nachdem mir vor ein paar Monaten „Hotel Silence“ von Auður Ava Ólafsdóttir recht gut gefallen hat, wollte ich unbedingt ein weiteres ...

„Man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“

Nachdem mir vor ein paar Monaten „Hotel Silence“ von Auður Ava Ólafsdóttir recht gut gefallen hat, wollte ich unbedingt ein weiteres Buch dieser Autorin lesen, die als eine der besten Islands gilt. Und ich muss sagen, es hat sich gelohnt, dieses Buch zur Hand zu nehmen!

Wir werden entführt ins Island der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und rattern mit der Erzählerin Hekla, die den Namen eines Vulkans trägt, in einem alten Bus über steinige Straßen nach Reykjavík. Dort will sie ihre Schriftstellerkarriere starten, was zur damaligen Zeit ein schwer zu verwirklichendes Unterfangen für eine Frau ist. Sie hält sich mit Aushilfsjobs über Wasser und bekommt ein Angebot zur Teilnahme an der Miss-Island-Wahl. Wir lernen ihre Freundin Ísey und ihren schwulen Freund Jón John kennen. Auch die haben es nicht leicht. Während Ísey als verheiratete Mutter ein recht einsames Leben frönt, kämpft Heklas Freund wegen seiner sexuellen Ausrichtung um Anerkennung. Und Hekla kann ihre Texte nur unter einem männlichen Synonym veröffentlichen, da bei Frauen Schönheit mehr zählt als Kopfarbeit.

Sehr gut gefallen haben mir die Beschreibungen des Lebens auf der Insel, der Natur und der Schwierigkeiten beim Fischfang. So manches isländische Wort war für mich allerdings unlesbar. Sogar ein Juror bei einer Misswahl meinte einst: „der Name der Schönheitskönigin klinge so, als stürze ein Wasserfall aus Kieselsteinen in einen isländischen Fjord.“
Das ist ein Buch zum Verschlingen! Ich hatte die über 200 Seiten innerhalb von zwei Tagen ausgelesen.

Auður Ava Ólafsdóttir wurde 1958 in Reykjavík geboren. Die Bestsellerautoin studierte an der Sorbonne Kunstgeschichte und lebte in Frankreich und Italien. Laut Wikipedia lehrt sie an der Universität Reykjavík und ist Direktorin des Museums der Universität Islands. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Gedichte. Ihre Bücher, in über 25 Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet. Für ihren Roman Miss Island erhielt sie in Frankreich 2019 den Prix Médicis étranger für den besten ausländischen Roman des Jahres.

Fazit: Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 14.09.2024

Freundschaften

Bei Licht ist alles zerbrechlich
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Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erzählt Davide, der Schweinehirt ohne Schulbildung, aber voller Wissensdrang, über seine Freundschaft mit Teresa und Nicolas, dem Judenjungen, der ...

Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erzählt Davide, der Schweinehirt ohne Schulbildung, aber voller Wissensdrang, über seine Freundschaft mit Teresa und Nicolas, dem Judenjungen, der 1942 auf Anordnung von Mussolini ins Dorf kam. Da sein mit strenger Hand herrschender Vater Davide den Schulbesuch nicht gestattete, lernt er heimlich bei seinen Freunden das Schreiben und Lesen, sowie einen menschlichen Umgang miteinander.
„Seit ich auf der Welt war, hatte ich noch nie zwei Menschen miteinander reden hören, ohne dass der eine den anderen niedermachte oder recht haben wollte“

Wie es Davide erging, nachdem er schon recht früh seine Familie und das Dorf verlassen hatte, um in Neapel Fuß zu fassen, erfahren wir im zweiten Teil des Buches. Erstaunlich, was für eine Entwicklung er hinlegt! Seine Jugendfreunde hat er dabei nie ganz vergessen.

Während einer Schaffenskrise kehrt er im dritten Teil des Romans zurück in seine alte Heimat, die er nach dem Krieg weniger verändert vorfindet, als er dachte. Hier schließt sich der Erzählkreis auf eine unerwartete Art und Weise:
„… abermals überlagerten sich unsere Leben wie ganz am Anfang ...“


Ich habe Davides Erzählungen gern gelesen. Sie sind in einem lockeren Stil gehalten, eben so, wie man sich die Stimme eines einfachen Dorfjungen vorstellt. Je älter er wird, desto mehr denkt er über sein Leben und dessen positive Wendungen nach. Sein neuer Beruf als Schauspieler hilft ihm dabei. Wie sehr Freundschaften das Leben beeinflussen können, ist sehr schön herausgearbeitet – auch wenn so manche Entwicklung unglaublich ist. Aber das muss jeder Leser und jede Leserin für sich selbst beurteilen.


Gianni Solla ist Jahrgang 1974 und lebt mit seiner Familie in Neapel. Er schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ich kann dieses Buch, das in zwölf Sprachen erschienen ist, auf jeden Fall empfehlen.

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Veröffentlicht am 09.09.2024

Rückzug aus dem Leben

In den Wald
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Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert ...

Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert gewesen.
„Giovanna fühlte sich, als hätte sie jemand reingelegt. Sie hatte nicht absichtlich angefangen zu wachsen; getrieben, versuchte sie, sich im Gleichgewicht zu halten, es war nicht ihre Schuld, wenn sie stolperte. An einem Tag steckte sie sich eine Kippe in den Mund, am nächsten fügte sie sich folgsam dem Nachhilfeunterricht der Lehrerin“ (Seite 41)
Silvia hatte sich dem Mädchen besonders angenommen, fühlte sich jetzt jedoch schuldig. Während die Menschen aus ihrem Heimatdorf sie erfolglos suchten,
„tat sie gar nichts, sie blieb sogar völlig reglos, sie verwandelte sich langsam in eine Pflanze, ein Stück Wald.“ (Seite 107)
Als Martino, ein aus Turin zugezogener Junge sie zufällig fand, bat sie ihn, nichts zu verraten und brachte ihn damit in schwere Gewissenskonflikte.


Der Blick ins Innenleben der Protagonisten ist die Stärke dieses ungewöhnlichen, in Piemont spielenden Debüts. Wie die Autorin am Ende anmerkt, hat sie sich von realen Geschehnissen inspirieren lassen.

Für mich war es ein ungewohntes Leseerlebnis. Die kurzen Kapitel erleichterten und erschwerten das Lesen gleichzeitig, da sie mich jedes mal in andere Situationen warfen. Doch ebenso schnell stellte sich die neuerliche Orientierung wieder ein. Die bildhafte Sprache ließ mich die Gefühle der Personen nachvollziehen und baute gleichzeitig eine diffuse Spannung auf, die es mir schwer machte, das Buch zur Seite zu legen.

Fazit: Ein Buch, das einen guten Einblick in die Köpfe von Menschen gibt, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind und Familienbeziehungen beleuchtet. Für Leser, die neben der Natur eine poetische Sprache lieben!

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Veröffentlicht am 06.09.2024

Frauenleben in Afghanistan

Hinter dem Regenbogen
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Kürzlich hat mir eine junge afghanische Frau – sie war gerade mit ihrem ersten Kind schwanger – gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber nur, wenn sie einen Sohn bekäme. ...

Kürzlich hat mir eine junge afghanische Frau – sie war gerade mit ihrem ersten Kind schwanger – gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber nur, wenn sie einen Sohn bekäme. Verstanden habe ich diese Aussage nicht.

Doch nach der Lektüre dieses Buches hat sich meine Sicht auf das Leben in Afghanistan etwas geklärt. Denn ebenso wie Jenny Nordberg in ihrem 2015 erschienenen Reportage-Buch „Afghanistans verborgene Töchter“ erzählt Nadia Hashimi in ihrem Roman von „basha posh“. Das sind Mädchen, die von ihren Eltern als Jungen verkleidet werden, weil ihnen kein Sohn geboren wurde. Nur Jungen dürfen sich frei auf der Straße bewegen, können regelmäßig in die Schule gehen und das tun, was ihnen gefällt. Die Mädchen dagegen haben sittsam zu Hause zu sitzen, ihren Mund zu halten und der Mutter zu helfen, die traditionsgemäß das Eigentum des Mannes ist, der allein das Recht hat, über ihr Leben zu entscheiden.

Wenn man diesen Roman liest, könnte man der Meinung sein, dass dies die amerikanische Sicht auf das Land am Hindukusch ist. Denn die Autorin hat zwar einen arabisch klingenden Namen, kam aber im Dezember 1977 als Tochter afghanischer Eltern in den USA zur Welt. Mit 25 Jahren reiste sie das erste Mal in das Heimatland ihrer Eltern. Das hat die Kinderärztin auch zu diesem, ihrem Debütroman veranlasst. Inzwischen sind von ihr drei internationale Beststeller erschienen.

Sobald man sich mit der afghanischen Kultur näher beschäftigt, wird klar, dass viele Frauen dort auch heute wie vor hundert Jahren leben. Eben so, wie es hier in diesem Buch beschrieben wird. Dabei werden zwei Frauen abwechselnd betrachtet: einmal wird von Shekiba erzählt, die, nachdem ihre Eltern und Geschwister gestorben waren, durch ihre Verwandten aller Rechte beraubt wurde. Sie war die Ur-ur-Großmutter von Rahima, die selbst von ihrem Leben erzählt. Wir erfahren, weshalb sie zum „bacha posh“ gemacht wurde und wie frei sie bis zu ihrer viel zu früher Heirat aufwachsen durfte.

Fazit: Das Buch ist eine niederschmetternde Reise in eine fremde Kultur. Vor meinen Augen hat sich ein Bild von einem Land entwickelt, in dem Frauen nichts zu sagen haben. Nicht nachvollziehbar war für mich, dass Männer immer noch mehrere Frauen haben dürfen, die als primäre Aufgabe haben, möglichst viele Jungen zu gebären. Nur wenige Frauen sind in der Lage, für sich selbst zu kämpfen.
Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen, auch wenn mich der Schreibstil nicht sehr angesprochen hat. Aber das könnte auch an der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schumacher liegen.

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