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Veröffentlicht am 17.04.2025

Ein literarisches Kleinod

Die Kolonie
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Audrey Magee verbindet in ihrem Roman „Die Kolonie“ (2022 auf der Longlist des Booker Prize) auf ungewöhnliche Weise die nordirischen „Troubles“ mit dem Leben auf einer übersichtlichen, namenlosen Insel ...

Audrey Magee verbindet in ihrem Roman „Die Kolonie“ (2022 auf der Longlist des Booker Prize) auf ungewöhnliche Weise die nordirischen „Troubles“ mit dem Leben auf einer übersichtlichen, namenlosen Insel vor der westlichen Küste der irischen Republik. Beschreibungen des Inselalltags wechseln sich ab mit Meldungen über die Todesopfer, die die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf beiden Seiten in Nordirland fordern. Diese Einschübe sind zu Beginn kurz, meist nur wenige Zeilen, was ihnen aber nicht die Eindringlichkeit nimmt. Im Verlauf des Romans nimmt die Länge der Terrormeldungen zu und sie werden auch in den Gesprächen zwischen den Inselbewohnern thematisiert. Aber das ist nur die Klammer, die alles zusammenhält.

Wir schreiben 1979, die Bevölkerung auf der kleinen Insel ist mittlerweile stark geschrumpft, nur noch zweistellig. Wer der englischen Sprache mächtig ist, verlässt das Eiland und versucht, sich in England eine Existenz aufzubauen, während die Zurückgebliebenen ihrem traditionellen Tagwerk nachgehen. Die Männer fahren zum Fischen aufs Meer, die Frauen kümmern sich um Haus, Hof und die Kinder. So, wie es schon immer war. Im Sommer 1979 treffen dort zwei Besucher ein, die diese beiden Pole verkörpern und zwischen denen ein Kampf der Kulturen entfacht wird.

Mr Lloyd, ein erfolgloser, mittelmäßig talentierter englischer Maler, der sich von der ursprünglichen, rauen Natur und dem Inselleben neue Inspirationen erhofft, ist zum ersten Mal vor Ort. Egoistisch beharrt er auf seinem Bedürfnis nach Einsamkeit, ist er doch zahlender Gast, und sucht den Kontakt zu den Bewohnern nur dann, wenn sie ihm von Nutzen sind. Er bewohnt ein isoliertes Cottage und empfängt dort Mairéad, deren Mann, Vater und Bruder dem Meer zum Opfer gefallen sind. Dass sie ihm heimlich Modell sitzt, muss ihr Geheimnis bleiben. Und auch James, ihr 15-jähriger Sohn, ist von dem Maler fasziniert und freundet sich mit ihm an. Lloyd zeigt ihm die Basics und ermuntert ihn, es auch einmal zu versuchen. Es dauert nicht lange, bis er erkennt, dass der Junge sehr talentiert und viel besser als er selbst ist. Und nicht ohne Eigennutz schildert Lloyd James die Möglichkeiten, die James Umzug nach England und die Vermarktung seiner außergewöhnlichen Gemälde dort mit sich bringen könnte. Gleichzeitig ermuntert er ihn, eigene Wege zu gehen, die Insel und deren kulturelles Erbe hinter sich zu lassen.

Jean-Pierre Masson, ein französischer Linguist mit einer algerischen Mutter, hat quasi Heimrecht, war er doch im Zuge seiner Habilitation über die gälische Sprache schon öfter auf der Insel. Er ist fast schon besessen davon, diese zu bewahren, weshalb er sich auch über die Anwesenheit des Engländers ärgert, der des Gälischen nicht mächtig ist und deshalb in seiner englischen Muttersprache kommuniziert. Und deshalb muss sich Lloyd immer wieder mit der Anschuldigung Massons auseinandersetzen, dass er die Reinheit des Experiments gefährde und auch nicht besser als die britischen Kolonialisten sei. Masson ist ihm gegenüber ruppig und übergriffig, gleichzeitig aber im Umgang mit James‘ Großmutter mitfühlend und empathisch. Jemand, dessen Verhalten man erst dann einordnen kann, wenn man mehr über seinen persönlichen Hintergrund erfährt.

Es ist eine Vielzahl von Themen, die in diesem Roman ihren Platz finden. Es geht um Leben und Zusammenleben, um Identität und Selbstverwirklichung, um das Bewahren von Traditionen und Neuanfänge, um Sprache und künstlerischen Ausdruck und um die leidvolle Geschichte eines zerissenen Landes. Last but not least ist „Die Kolonie“ vor allem wegen der sprachlichen Qualität ein Juwel, wie man es nur selten findet. Deshalb geht ein dickes Dankeschön auch an Nicole Seifert, die eine großartige Übersetzung abgeliefert hat.

Ein Highlight, das man nicht verpassen sollte. Lesen. Unbedingt!

Veröffentlicht am 10.04.2025

Tödliches Halali im Wendland

Der Wolf im dunklen Wald
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Nach jahrzehntelanger Abwesenheit kehrt Gutsbesitzer Heiko von Boenning ins Wendland zurück und veranstaltet anlässlich seiner Rückkehr eine Treibjagd mit geladenen Gästen. Es soll das gesellschaftliche ...

Nach jahrzehntelanger Abwesenheit kehrt Gutsbesitzer Heiko von Boenning ins Wendland zurück und veranstaltet anlässlich seiner Rückkehr eine Treibjagd mit geladenen Gästen. Es soll das gesellschaftliche Ereignis der Saison werden, endet aber schockierend anders als geplant. Tommi Winkels, ein ehemaliger Schulfreund von Boennings wird vermisst, kurze Zeit später im Dragahner Forst erstochen aufgefunden. Die Messerstiche sind tief und zahlreich, die spätere Obduktion wird ergeben, dass der Täter in rasender Wut auf ihn eingestochen hat.

Ein neuer Fall für Carla Seidel, die erfolgreiche Mordermittlerin, die samt ihrer Tochter Lana wegen ihres gewalttätigen Ehemanns Hamburg den Rücken gekehrt hat und nun als Kommissarin in Dannenberg ihre Fähigkeiten unter Beweis stellt. Ein Fall, der sie fordert, denn Winkels wird nicht der einzige Tote bleiben. Und auch im privaten Bereich stehen Probleme ins Haus. Lanas Volljährigkeit steht an, und sie möchte unbedingt Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen, was dazu führt, dass Carla wieder vermehrt zur Flasche greift. Sie ist eine kompetente Ermittlerin, aber gleichzeitig auch eine Frau mit Ecken, Kanten und einer schmerzhaften Vergangenheit, die sie zwar durch den Ortswechsel hinter sich lassen wollte, von der sie aber doch immer wieder einholt wird. Und Vergangenheit ist auch in den vorliegenden Mordfällen der Schlüssel zur Entlarvung des Täters.

Wie bereits in „Die Sehenden und die Toten“, dem ersten Band der Reihe, merkt man auch in „Der Wolf im dunklen Wald“ die Handschrift des Profis. Die ehemalige Verlagsleiterin weiß, was einen erfolgreichen Kriminalroman ausmacht: Ein gelungenes Setting, eine interessante Protagonistin, eine gut geplottete Story, hohes Tempo durch unterschiedliche Sichtweisen auf den Fall und schlussendlich ein Motiv, das zwar lange verborgen bleibt, aber zum Miträtseln einlädt. Definitiv ein spannender Krimi und eine Reihe, die ich weiterverfolgen werde. Gut gemacht, Sia Piontek!

Veröffentlicht am 09.04.2025

Kein Heimatroman

Wild wuchern
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Eine einfache Hütte in den Tiroler Bergen. Mitten im Nirgendwo. Natur pur, soweit man schauen kann. Unglaublich schön, aber auch unberechenbar. Stille, ein Refugium, fernab vom hektischen Leben im Tal. ...

Eine einfache Hütte in den Tiroler Bergen. Mitten im Nirgendwo. Natur pur, soweit man schauen kann. Unglaublich schön, aber auch unberechenbar. Stille, ein Refugium, fernab vom hektischen Leben im Tal. Heimat für Johanna, die sich in diese selbstgewählte Einsiedelei vor Jahren zurückgezogen hat. In und mit den Jahreszeiten, mit der Natur. Es ist beschwerlich, karg, aber es ist das Leben, für das sich Johanna entschieden hat. Und sie ist damit zufrieden, vermisst nichts, ruht in sich.

Das ändert sich, als unerwartet Marie auftaucht, ihre Cousine, die in Wien lebt. Sie muss verzweifelt sein, hat sie doch die Strapazen auf sich genommen und den Berg heraufgequält. Aber Johanna interessiert das Warum nicht, in erster Linie ist sie wütend über den Eindringling, der ihre Ruhe stört, ungewollte Veränderungen mit sich bringt, weshalb sie Marie nicht in ihrem Leben haben will.

Die beiden Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein. Johanna, die Einsiedlerin, wortkarg, zupackend und mit dem wenigen zufrieden, das sie hat. Im Gegensatz dazu Marie, die Städterin aus gesicherten Verhältnissen, deren Eheleben anders als geplant verlaufen ist, weshalb sie Schutz bei Johanna sucht. Beide auf der Flucht vor einer Vergangenheit, die beiden tiefsitzende Wunden zugefügt hat. Beide von dem Verlangen getrieben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Es ist nicht das typische Alpenidyll mit Blumenwiesen und glücklichen Kühen, das den Hintergrund für „Wild wuchern“ bildet. Es ist die Beschreibung eines Lebens voll endloser Plackerei, täglichen Routinen, die Sicherheit und Schutz vor der Außenwelt gewähren. Ein Schutz, der allmählich bröckelt, wenn die anfängliche Schroffheit einem Verstehen, einem Miteinander weicht und Rettung für beide bereithält.

Veröffentlicht am 08.04.2025

Wer sucht, der findet

Sonnenhang
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Ungewollte Kinderlosigkeit, ein Thema, das für viele Frauen sehr schmerzhaft sein kann, speziell dann, wenn die biologische Uhr langsam an zu ticken beginnt und im Freundeskreis eine Freundin nach der ...

Ungewollte Kinderlosigkeit, ein Thema, das für viele Frauen sehr schmerzhaft sein kann, speziell dann, wenn die biologische Uhr langsam an zu ticken beginnt und im Freundeskreis eine Freundin nach der anderen Mutter wird. So geht es Katharina in Kathrin Weßligs Roman „Sonnenhang“.

Der Single-Frau ist zwar der passende Mann noch nicht begegnet, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Doch dann die heftigen Schmerzen im Bauchraum, die Diagnose und die Hysterektomie. Und dann die Gewissheit, nie mehr ein Kind gebären zu können. Eine Situation, die ihre Zukunftsplanung komplett auf den Kopf stellt, sie in eine Krise stürzt. Torschlusspanik in allen Bereichen. Anfangs wechseln sich Trauer, Scham und Galgenhumor ab, aber jeder persönliche Tiefpunkt birgt in sich auf die Möglichkeit, den Status Quo zu verändern und damit dem Leben Sinn zu verleihen.

Wie es der Zufall so will, bekommt sie vom Wirt ihrer Stammkneipe einen Tipp. Ein Altenheim für Gutbetuchte sucht eine ehrenamtliche Hilfskraft, die das Freizeitprogramm der Bewohner an den Wochenenden managt. So kommt sie in die Seniorenresidenz „Sonnenhang“. Die anfängliche Befangen- und Distanziertheit legt sich dank Würfelspiel, Prosecco und Eierlikör ziemlich schnell. Es sind die „verbotenen“ Aktionen, die zusammenschweißen. Gespräche, in denen die Senioren ihre Lebenserfahrung, aber auch ihren Humor in die Waagschale werfen. Die gegenseitige Akzeptanz, die ohne Wertung auskommt. All das sorgt dafür, dass Katharina ihrer Stärke und ihren Lebensmut wieder findet und diese Phase der Perspektivlosigkeit hinter sich lassen, sich neu sortieren und die richtige Entscheidung treffen kann.

Anders als in ihren bisherigen Romanen schreibt Weßling diesmal aus einer auktorialen Perspektive, wechselt anfangs zwischen Trauer und Verzweiflung der Protagonistin, aufgelockert von Passagen, in denen der Galgenhumor Katharinas durchscheint, kappt damit die Spitzen, die die Schwere des Themas mit sich bringt. Fast komplett ändert sich dann der Tonfall an den Samstagen, die die Protagonistin in der Residenz verbringt. Zwar schrammen diese von Wärme und Verständnis getragenen Beschreibungen manchmal nur haarscharf am Klischee vorbei, wirken aber durch die vielen kleinen Schritte hin zu Freundschaft und Vertrautheit (trotz der einen oder anderen verzichtbaren Albernheit) überwiegend stimmig, aber dennoch vorhersehbar.

Veröffentlicht am 02.04.2025

Viel zu viel Drama

Wie Risse in der Erde
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Hemston, Nord-Dorset, Mitte der fünfziger Jahre. Beth und Gabriel, eine Teenager-Liebe und ein verheißungsvoller Sommer. Wäre da nicht Gabriels Mutter, der diese Verbindung ein Dorn im Auge ist, und die ...

Hemston, Nord-Dorset, Mitte der fünfziger Jahre. Beth und Gabriel, eine Teenager-Liebe und ein verheißungsvoller Sommer. Wäre da nicht Gabriels Mutter, der diese Verbindung ein Dorn im Auge ist, und die alles daran setzt, diese erste Liebe zu zerstören. Es gelingt ihr, zumal Gabriel Hemston Richtung Oxford verlässt, um dort ein Studium zu beginnen. Beth bleibt desillusioniert zurück.

Die Lücke, die Gabriel hinterlässt, füllt Frank, ein Bauer, aus. Beth und Frank verlieben sich ineinander, heiraten, bekommen einen Sohn. Alles scheint perfekt, bis zu dem Tag Mitte der sechziger Jahre, an dem ein schreckliches Unglück über die kleine Familie hereinbricht und ihr Sohn bei Baumfällarbeiten ums Leben kommt. Eine Tragödie. Für beide. Was macht der Verlust eines Kindes mit Eltern? Wohin sollen sie mit der Liebe zu ihrem Kind, das plötzlich nicht mehr da ist?

Zwei Jahre sind vergangen. Gabriel, mittlerweile Schriftsteller und Vater eines Sohnes, wurde von seiner Frau verlassen und kehrt mit diesem nach Hemston zurück. Natürlich läuft sich das ehemalige Liebespaar in dem kleinen Ort über den Weg und Gabriel zögert nicht, Beth um Hilfe bei der Betreuung seines Sohnes zu bitten. Es kommt wie es kommen muss. Die alten Gefühle flammen wieder auf, und es entwickelt sich die klassische Dreiecksgeschichte, in deren Mittelpunkt Beth steht. Aber dann geschieht das Unerwartete. Ein Toter, ein Prozess, ein Urteil. Und wieder ist nichts mehr so, wie es einmal war.

„Wie Risse in der Erde“ ist eine Mischung aus Liebesgeschichte und Kriminalroman, die alle Register zieht und die Leser lange im Unklaren darüber lassen möchte, wer hier Täter und wer Opfer ist. Das gelingt der Autorin aber leider nur in Ansätzen, denn die Entwicklungen hin zum Höhepunkt sind leider ziemlich vorhersehbar. Das Gefühlschaos der Protagonisten kam zwar interessant daher, war mir allerdings unterm Strich dann doch viel zu viel Drama, komplett überzeichnet, deshalb unglaubwürdig und nicht wirklich überzeugend. Hier wäre weniger mehr gewesen. Schade. Kann man lesen, muss man aber nicht.