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Veröffentlicht am 17.05.2022

Von Taormina nach München und zurück

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen
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Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, ...

Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, diese weitergesponnen und mit der ihm eigenen Lust und Fähigkeit am Fabulieren zu einem großen Familienepos zusammengefügt. Herausgekommen ist dabei ein höchst unterhaltsamer Schmöker, der in allen Bereichen überzeugen kann.

Wer nun aber glaubt, dass wir es hier einer typischen Migrantengeschichte der fünfziger Jahre zu tun haben, in der die Männer aus dem italienischen Süden um der Arbeit willen nach Deutschland gekommen sind, wird enttäuscht sein, denn Barnaba Carbonaro, die zentrale Person dieses Romans, derjenige um den sich alles dreht, ist zu dieser Zeit längst schon wieder zurück in die Heimat gereist und wird erst in den sechziger Jahren zurück nach Deutschland kommen.

Von Sizilien nach Deutschland und zurück, von der Orangenplantage in Taormina bis zum Münchner Großmarkt, vom kleinen Buben ohne Schuhe bis zum geachteten Geschäftsmann. Wir begleiten Barnaba durch die Jahrzehnte. Von 1880 bis 1960. Den Tausendsassa mit den vielen Talenten und dem unbändigen Willen nach Reichtum und dem Wunsch, ein Imperium zu schaffen. Den Analphabeten mit der herausragenden Begabung für Zahlen. Den Netzwerker vor dem Herrn, der die Gesellschaft der Einflussreichen sucht, um im Fall des Falles selbst daraus einen Vorteil ziehen zu können. Mutig, leidenschaftlich und geschäftstüchtig, aber manchmal auch zu gutgläubig und risikobereit. Den, der alles auf eine Karte setzt, und wieder von vorne beginnt, wenn er verliert.

Atmosphärisch, mit genauem Blick auf die archaische Gesellschaft Siziliens und die italienische Geschichte, eine wendungsreiche Story samt liebevoll und detailliert ausgearbeitetem Personentableau. Mitreißend und empathisch erzählt. Absolut empfehlenswert!

Mario Giordano hat bereits angekündigt, dass es eine Fortsetzung geben wird, in der dann die in diesem Band eher zu kurz gekommenen Frauen der Familie Carbonaro die Hauptrolle spielen werden. Ich freue mich darauf!

Veröffentlicht am 16.05.2022

Der Verlust der Unschuld

Amelia
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„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich ...

„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich kann man diese beiden Romane als Einheit sehen. Wo „Milchmann“ eher vage in den Beschreibungen der täglichen Gewalt während der nordirischen „Troubles“ bleibt, wird diese in „Amelia“ schonungslos präsentiert. Und wenn manche Leser*innen monieren, dass die Autorin in diesem Buch kaum Informationen zu den Ursachen des Nordirlandkonflikts anbietet, kann man ihnen grundsätzlich zwar zustimmen, aber bei Interesse kann man sich diese Informationen problemlos selbst beschaffen.

Allerdings geht es in diesem Roman nicht um die gewaltsame Besetzung der Insel durch die Engländer im 12. Jahrhundert, die Aufteilung Irlands in die Republik und Nordirland im Jahr 1921, noch um die politische und wirtschaftliche Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die Protestanten, die in dem Nordirland-Konflikt zwischen 1968 und 1998 ihren blutigen Höhepunkt findet. Es geht um die Auswirkungen, die dieser Bürgerkrieg nicht nur auf Familien, sondern auf eine ganze Generation hat.

Burns (1962 geboren) nimmt uns in „Amelia“ in den nordirischen Alltag dieser Jahre mit, die sie selbst erlebt hat, und zeigt schonungslos und unsentimental die Gewalt, die das Aufwachsen der Kinder prägt. Bombenanschläge, Schießereien, zwielichtige Gruppierungen, tote Familienangehörige, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, häusliche Gewalt. Eine Spirale, aus der es kein Entkommen gibt. Die Flucht in Drogen und Alkohol schafft kurzzeitiges Vergessen des trostlosen Alltags. Die Hoffnung auf Normalität bleibt ein unerfüllter Wunschtraum.

Ein schwer verdaulicher Coming-of-Age Roman, in dem die kindliche Unschuld Stück für Stück auf der Strecke bleibt, und die Verletzungen an Geist und Seele keine Heilung erfahren. Harte Kost.

Veröffentlicht am 15.05.2022

Wenn man nichts zu verlieren hat...

Ocean State
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Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die ...

Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die Blumen verwelkt sind, das Gras hüfthoch in den Vorgärten steht und die ausrangierten Hummerfallen vor sich hin rosten.

Es sind diese Gegensätze, die gesellschaftlichen Verwerfungen, für die Stewart O’Nan ein Auge hat und sie in fast allen seiner Romane zum zugrunde liegenden Thema macht. So auch in seinem neuen Roman, der uns schon mit dem ersten Satz mitten hinein in die Story katapultiert: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“

2009, Ashaway, ein heruntergekommenes Haus nahe der stillgelegten Mühle. Neuer Wohnort der Olivieras. Carol, die alleinerziehende Mutter, arbeitet als Hilfspflegerin in einem Altenheim und lebt mit ihren Teenagertöchtern Angel und Marie in einem heruntergekommenen Haus draußen bei der alten Fabrik. Was ihre Männerbekanntschaften angeht, ist sie nicht sonderlich wählerisch, jeder einzelne stellt sich als Fehlgriff heraus. Auch wenn sie ihnen kein gutes Vorbild ist, liebt sie doch ihre Mädchen und sorgt für sie, würde ihnen gerne mehr bieten. Marie, die dreizehnjährige Erzählerin, fühlt sich als die Außenseiterin der Familie. Zu pummelig, zu unbeholfen, zu unbeliebt. Ganz anders Angel, ihre große Schwester, die sie vergöttert und die all das ist, was sie gern wäre. Groß, hübsch, beliebt und selbstbewusst. Angel wiederum macht sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Zu schlecht sind ihre Startbedingungen, da bleibt nach dem Schulabschluss nur ein schlechtbezahlter Job, Mann und Kind. Kein Platz für Träume, ausgeschlossen ein gemeinsames Leben mit ihrem High School Sweetheart, dem Jungen aus reichem Hause, der das College besuchen, eine passende Frau finden und Angel vergessen wird. Myles, der sie bereits jetzt schon mit Birdy betrügt, die einen ähnlichen familiären Hintergrund wie Angel hat und alles daran setzt, Myles für sich zu gewinnen, womit die Tragödie ihren Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist.

Mit feinem Gespür für die Lebenssituation der vier Frauen erzählt O’Nan eine Geschichte von großen Erwartungen, enttäuschter Hoffnung, falschen Entscheidungen und der Gewissheit, dass auch in Amerika nicht jede Frau ihres Glückes Schmied ist. Einzig Myles bleibt blass, ist nur ein verwöhnter Schnösel.

Es sind die beiden alternierenden Erzählstränge, die das Geschehene so eindringlich wirken lassen. Das Wissen um ein Leben ohne Perspektive, aus dem es kein Entkommen gibt, man nichts zu verlieren hat und deshalb alles riskieren kann. Eine Handlung, die wie der Blick auf einen Zug wirkt, der in hohem Tempo ungebremst auf ein Hindernis zurast, weil eine Weiche falsch gestellt wurde.

Veröffentlicht am 15.05.2022

Unausgegoren

Der Mann aus dem Schatten
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Lagercrantz hat auf Bitten der Erben Stieg Larssons Millenium Trilogie fortgeschrieben, und das hat er auch ganz ordentlich gemacht. Kein Wunder, waren sowohl die Charaktere als auch die grundlegende Handlungsrichtung ...

Lagercrantz hat auf Bitten der Erben Stieg Larssons Millenium Trilogie fortgeschrieben, und das hat er auch ganz ordentlich gemacht. Kein Wunder, waren sowohl die Charaktere als auch die grundlegende Handlungsrichtung von Larsson bereits weitgehend angelegt. Ein Grundgerüst, an dem er sich entlang hangeln konnte.

Allerdings trugen diese Vorschusslorbeeren nur dazu bei, dass meine Erwartungen enttäuscht wurden. Warum?

In "Der Mann aus dem Schatten" hingegen musste er sich allein auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen, und bei denen hakt es leider an allen Ecken und Enden. Das Personal wirkt hölzern, auch wenn er versucht, es mit einigen Alleinstellungsmerkmalen aufzupeppen, die Story ist unausgegoren, nimmt kaum Fahrt auf und animiert durch unnötiges Füllmaterial in keinster Weise zum zügigen Weiterlesen. Im Gegenteil. Bei mir hat sie viele Male für Augenrollen und die Frage nach dem Was-soll-denn-das gesorgt.

Kein Autor, dessen Werk ich weiterverfolgen werde.

Veröffentlicht am 10.05.2022

Krimi mit Corona

Der gute Samariter
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„Der gute Samariter“ ist Band 7 der Reihe, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden Autoren diesmal über das Ziel hinausgeschossen sind. Zwar könnte dann die Konzentration auf das ...

„Der gute Samariter“ ist Band 7 der Reihe, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden Autoren diesmal über das Ziel hinausgeschossen sind. Zwar könnte dann die Konzentration auf das Schicksal der Hauptfigur/en dann eine Weile helfen, aber das ist mir in diesem Genre zu dürftig, denn das reicht in der Regel nicht, um mein Interesse aufrecht zu halten. Vor allem dann, wenn keine neuen Impulse gegeben werden.

Drei unterschiedliche Ebenen bestimmen die Story, die jeweils den bekannten Protagonisten zuzuschlagen sind. Ausgangspunkt ist die Entführung von Olivia Rönning (Nr. 1) und die Suche nach ihr. Und hier greift Tom Stilton (Nr. 2) in die Handlung ein, der die selbstgewählte Isolation in Zeiten der Pandemie aufgibt und sich dem Suchteam anschließt. Es gibt zwar einen Hinweis auf den Ort, aber die Suche wird erschwert durch den Brand des Hauses, in dem Olivia gefangen gehalten wurde, denn in den Trümmern findet man eine verkohlte Leiche. Olivia taucht wieder auf, aber wer hat das Feuer gelegt und warum? Mette (Nr. 3), die Ex-Chefin, ist gelangweilt und freut sich, als man ihr eine neue Aufgabe anbietet. Sie soll als Sicherheitskoordinatorin für die Impfstofflieferungen tätig werden. Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass es jemanden gibt, der ein Interesse an der Sabotierung der Transporte hat.

Man sieht es schon, die Pandemie ist ein wiederkehrendes Thema dieses Krimis und überlagert leider streckenweise die durchaus klug und spannend angelegten und souverän verschränkten Handlungsebenen über Gebühr. Wer die Vorgänger gelesen hat, weiß, dass in dieser Reihe immer wieder zeitgenössische Probleme angesprochen werden. Das habe ich in der Vergangenheit durchaus honoriert. Aber nach den beiden zurückliegenden Corona-Jahren hält sich meine Bereitschaft, davon auch noch in Krimis zu lesen, sehr im Rahmen.