Wenn man nichts zu verlieren hat...
Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die ...
Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die Blumen verwelkt sind, das Gras hüfthoch in den Vorgärten steht und die ausrangierten Hummerfallen vor sich hin rosten.
Es sind diese Gegensätze, die gesellschaftlichen Verwerfungen, für die Stewart O’Nan ein Auge hat und sie in fast allen seiner Romane zum zugrunde liegenden Thema macht. So auch in seinem neuen Roman, der uns schon mit dem ersten Satz mitten hinein in die Story katapultiert: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“
2009, Ashaway, ein heruntergekommenes Haus nahe der stillgelegten Mühle. Neuer Wohnort der Olivieras. Carol, die alleinerziehende Mutter, arbeitet als Hilfspflegerin in einem Altenheim und lebt mit ihren Teenagertöchtern Angel und Marie in einem heruntergekommenen Haus draußen bei der alten Fabrik. Was ihre Männerbekanntschaften angeht, ist sie nicht sonderlich wählerisch, jeder einzelne stellt sich als Fehlgriff heraus. Auch wenn sie ihnen kein gutes Vorbild ist, liebt sie doch ihre Mädchen und sorgt für sie, würde ihnen gerne mehr bieten. Marie, die dreizehnjährige Erzählerin, fühlt sich als die Außenseiterin der Familie. Zu pummelig, zu unbeholfen, zu unbeliebt. Ganz anders Angel, ihre große Schwester, die sie vergöttert und die all das ist, was sie gern wäre. Groß, hübsch, beliebt und selbstbewusst. Angel wiederum macht sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Zu schlecht sind ihre Startbedingungen, da bleibt nach dem Schulabschluss nur ein schlechtbezahlter Job, Mann und Kind. Kein Platz für Träume, ausgeschlossen ein gemeinsames Leben mit ihrem High School Sweetheart, dem Jungen aus reichem Hause, der das College besuchen, eine passende Frau finden und Angel vergessen wird. Myles, der sie bereits jetzt schon mit Birdy betrügt, die einen ähnlichen familiären Hintergrund wie Angel hat und alles daran setzt, Myles für sich zu gewinnen, womit die Tragödie ihren Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist.
Mit feinem Gespür für die Lebenssituation der vier Frauen erzählt O’Nan eine Geschichte von großen Erwartungen, enttäuschter Hoffnung, falschen Entscheidungen und der Gewissheit, dass auch in Amerika nicht jede Frau ihres Glückes Schmied ist. Einzig Myles bleibt blass, ist nur ein verwöhnter Schnösel.
Es sind die beiden alternierenden Erzählstränge, die das Geschehene so eindringlich wirken lassen. Das Wissen um ein Leben ohne Perspektive, aus dem es kein Entkommen gibt, man nichts zu verlieren hat und deshalb alles riskieren kann. Eine Handlung, die wie der Blick auf einen Zug wirkt, der in hohem Tempo ungebremst auf ein Hindernis zurast, weil eine Weiche falsch gestellt wurde.