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Veröffentlicht am 15.12.2021

O tempora, o mores

Silverview
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Ein Kaff in East Anglia, in dem sich Julian Lawndsley einen Lebenstraum verwirklicht und eine Buchhandlung eröffnet, obwohl von Literatur und Autoren gänzlich unbeleckt. Unterstützung bekommt er von Edward ...

Ein Kaff in East Anglia, in dem sich Julian Lawndsley einen Lebenstraum verwirklicht und eine Buchhandlung eröffnet, obwohl von Literatur und Autoren gänzlich unbeleckt. Unterstützung bekommt er von Edward Avon, einem seiner wenigen Kunden. Avon ist ein smarter älterer Herr, der sowohl über die entsprechende Bildung verfügt als auch Ideen hat, wie man das Geschäft ankurbeln könnte. Aber Avon hat auch einen Vergangenheit, früher aktiver Topagent, hat er sich mit seiner todkranken Frau Deborah auf den nahe gelegenen Landsitz „Silverview“ zurückgezogen. Auch sie hat für den Auslandsgeheimdienst MI6 gearbeitet, und ihren Scharfsinn hat die ehemalige Nahost-Analystin trotz ihrer schweren Erkrankung nicht verloren. Offenbar gibt es einen Maulwurf in den Reihen des Dienstes, und Deborah befürchtet, dass ihr polnischstämmiger Mann den Geheimnisverrat begangen haben könnte. Sie informiert den MI6 von ihrem Verdacht, woraufhin die hektische Suche nach dem Leck beginnt.

„Silverview“ ist aus einem Manuskript aus John Le Carrés Nachlass entstanden, das von seinem Sohn fertiggestellt wurde, was sich aber glücklicherweise nicht auf die Qualität ausgewirkt hat. Es ist das sanfte Resümee eines Autors, der sich zeit seines Lebens aktiv in Agentenkreisen bewegt und darüber geschrieben hat. Allerdings richtet er hier seinen Blick nicht auf die Vorgehensweise und Arbeit der Spione, sondern auf deren Wirken in Zeiten des Wandels. Die Schlapphüte und die konspirativen Treffen haben ausgedient, heutzutage beschafft man sich die benötigten Informationen auf anderen Wegen. Keine toten Briefkästen oder dunkle Ecken mehr, diese Zeiten sind endgültig vorbei.

Ungewissheiten, Rückblicke, verflossene Liebschaften, moralische Grauzonen und die über weite Strecken sinnfreien Aktivitäten der Geheimdienste, die nirgendwo hinführen, all das beschreibt Le Carré elegant, mit feiner Ironie und herrlich britischen Dialogen. Und das wirkt nicht altersmilde oder resignativ, sondern gespeist aus den Erkenntnissen und Erfahrungen eines langen Lebens.

Veröffentlicht am 12.12.2021

Manchmal bedarf es nicht vieler Worte

Eifersucht
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Ich bin kein Fan von Kurzgeschichten, sind diese doch meist zu sehr auf eine Person bzw. eine wesentliche Aussage reduziert, so dass für eine feine Ausarbeitung der Charaktere kaum Platz ist. Deshalb bin ...

Ich bin kein Fan von Kurzgeschichten, sind diese doch meist zu sehr auf eine Person bzw. eine wesentliche Aussage reduziert, so dass für eine feine Ausarbeitung der Charaktere kaum Platz ist. Deshalb bin ich auch mit einer gehörigen Portion Skepsis an das neue Buch von Jo Nesbø herangegangen, dessen Kriminalromane um und mit Harry Hole, dem einzelgängerischen Ermittler mit den unkonventionellen Methoden, ich sehr schätze.

Sieben Short Stories, ein Motiv, so der Untertitel von Nesbøs „Eifersucht“, in dem er diese Empfindung und ihre Auswirkungen, schon so oft in der Literatur thematisiert, in den vielen Facetten beschreibt. Was löst dieses Gefühl aus und was macht es mit dem Menschen? Richtet es sich gegen das Objekt oder entfaltet es gar eine selbstzerstörerische Wirkung? Kann man damit leben oder führt es zu unberechenbaren Konsequenzen? Das sind die Kernfragen, denen sich der Autor stellt und differenziert zu beantworten versucht.

Eine junge Frau, die ihre eigene Tötung in Auftrag gibt. Ein Brüderpaar, das sich wegen der Liebe zu einer Frau entzweit und das geschwisterliche Band durchtrennt, was für einen von ihnen tödliche Konsequenzen hat. Ein Ohrring auf dem Rücksitz eines Taxis, der eine Ehe Richtung Abgrund treibt. Alles so ähnlich schon einmal gelesen, aber von dem Autor durch die komprimierte Form äußerst intensiv und stellenweise auch unerwartet verstörend beschrieben.

Im Gegensatz zu den Kriminalromanen wirken diese Kurzgeschichten wesentlich literarischer, ausgefeilter und konzentrieren sich stärker auf die psychologische Komponente, verzichten aber dennoch nicht auf unerwartete Wendungen und bieten somit auch die Spannung, die wir von dem Autor gewohnt sind.

Manchmal bedarf es eben nicht vieler Worte, um auf den Punkt zu kommen. Lesen!

Veröffentlicht am 10.12.2021

Ein Ärgernis!

NATRIUM CHLORID
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Wieder einmal muss sich das Sonderdezernat Q um einen Cold Case kümmern, der weite Kreise zieht. Ausgangspunkt ist die Explosion in einer Autowerkstatt vor über dreißig Jahren, bei der nicht nur sämtliche ...

Wieder einmal muss sich das Sonderdezernat Q um einen Cold Case kümmern, der weite Kreise zieht. Ausgangspunkt ist die Explosion in einer Autowerkstatt vor über dreißig Jahren, bei der nicht nur sämtliche Mechaniker ums Leben kommen sondern auch das Kind einer Kundin getötet wird, die ihren Wagen abholen möchte. Die Mutter überlebt, begeht aber an ihrem 60. Geburtstag Selbstmord, was dazu führt, dass sich das Sonderdezernat den zurückliegenden Fall genauer anschaut. Die Untersuchungsberichte lassen nichts Ungewöhnliches erkennen, mit Ausnahme eines Häufchens Salz, das am Unglücksort gefunden wurde.

Was folgt ist die detaillierte Beschreibung der Arbeit von Mørcks Mitarbeitern Assad, Rose und Gordon, die alte Unterlagen nach diesem seltsamen Detail durchforsten und erkennen, dass es in regemäßigen Abständen Todesfälle gibt, in denen am Fundort der Leiche Salz zu finden ist. Offenbar gibt es eine/n Serienmörder/in, der/die unbehelligt seit dreißig Jahren in regelmäßigen Abständen mordet. Aber welche Bedeutung hat das titelgebende „Natriumchlorid“ an den Tatorten?

Das ist auch schon die interessanteste Frage, denn sowohl Täterschaft als auch Motiv sind bereits nach der Hälfte des Buches eindeutig geklärt. Die verbleibenden 250 Seiten widmen sich der Jagd nach dem Täter, schildern die Gefangenschaft des neuesten Opfers und lassen als Nebenhandlung einen neuen alten Fall aufploppen, in den Mørck involviert war und der ihn jetzt seine Karriere kosten könnte…

Die fast ausschließlich positiven Besprechungen dieses neuen Bandes aus der Sonderdezernat Q-Reihe kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ist das „…ein hochspannender Thriller, bei dem sich Jussi Adler Olsen selbst übertroffen hat“, wie ein Rezensent schreibt? Diese Frage muss ich für mich mit einem klaren Nein beantworten. Ein Thriller? Nein. Ein durchsichtiger Plot, durch das frühzeitige Entlarven des Täters auch null Spannung, keine unerwarteten Wendungen, keine Weiterentwicklung der Personen, der Stil zäh und langatmig.

Der größte Kritikpunkt ist für mich allerdings die Sprache, die von mangelndem Respekt gegenüber den Charakteren zeugt (ob das der Autor oder der Übersetzer zu verantworten hat, kann ich nicht beurteilen) und absolut nicht in die heutige Zeit passt. Da wird etwas „herausklamüsert“, Gordon von seiner Kollegin als eine „blasse Bohnenstange“ angesehen, und, als ob das noch nicht genug wäre, nennt Mørck seine Mitarbeiterin Rose in Gedanken abwechselnd „dumme Gans“, „dumme Schachtel“ und „Waschweib“. Ein Ärgernis!

Veröffentlicht am 09.12.2021

Spannender Blick gen Osten

Nebeltage
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Dass eine Literaturnobelpreisträgerin einen Kriminalroman empfiehlt, ist selten, deshalb ist die Aussage von Olga Tokarczuk über „Nebeltage“ durchaus bemerkenswert: „Ein hervorragender Kriminalroman, maßgefertigt ...

Dass eine Literaturnobelpreisträgerin einen Kriminalroman empfiehlt, ist selten, deshalb ist die Aussage von Olga Tokarczuk über „Nebeltage“ durchaus bemerkenswert: „Ein hervorragender Kriminalroman, maßgefertigt für die heutige Zeit“. Mit diesen Worten hat sie zumindest mich auf Kaja Malanowskas „Nebeltage“ neugierig gemacht.

Die Autorin ist promovierte Biologin, schreibt Kolumnen für das linke Magazin Krytyka Polityczna und hat bereits zwei Romane und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht, in denen sie unbequeme Themen anpackt, die nicht nur für Polen sondern auch für unseren Alltag relevant sind. In Kombination mit Tokarczuks Aussage reicht das für mich schon als Empfehlung.

Eine junge Frau wird hinterrücks in ihrem Badezimmer mit einem Hammer erschlagen. Das Motiv scheint unklar, könnte aber ein missglückter Raubmord sein. Verdächtigt wird – natürlich – die tschetschenische Putzfrau, eine Illegale mit Geldsorgen. Soweit, so bekannt. Mit den Ermittlungen werden Marcin Sawicki und seine neue Kollegin Ada Rochniewicz betraut, letztere erst kürzlich aus Wrocław nach Warschau versetzt, wobei der Grund dafür im Dunkeln bleibt. Eine interessante Konstellation, hier der akribische Ermittler alter Schule mit Eheproblemen, dort die intuitive Kommissarin mit traumatischer Vergangenheit (?), die dem Machogehabe, dem Misstrauen und der Geringschätzung der männlichen Kollegen ausgesetzt ist und sich ihren Platz erst noch erkämpfen muss.

„Nebeltage“ ist im winterlich grauen Warschau angesiedelt, eindrücklich von der Autorin beschrieben, die damit die passende Atmosphäre für diesen düsteren Polizeiroman kreiert. Die Ermittlungen gehen langsam voran, werden auch stellenweise für mein Empfinden zu ausführlich beschrieben, gerade dann, wenn das persönliche Umfeld des Opfers unter die Lupe genommen wird. Wesentlich interessanter sind die Innenansichten, der Blick auf die polnische Gesellschaft mit ihrem Rechtsextremismus, der Misogynie, den verheerenden Auswirkungen einer sektiererischen Religiosität, dem Filz in Politik und Polizei. Eine absolut lohnenswerte Lektüre, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt. Lesen!

Veröffentlicht am 08.12.2021

Schwärende Wunden

Mitgift
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Es ist ein eindringliches Stück Familiengeschichte, das Henning Ahrens in seinem für den Deutschen Buchpreis 2021 nominierten Roman „Mitgift“ beschreibt. Aber im Gegensatz zu den trivialen Werken dieses ...

Es ist ein eindringliches Stück Familiengeschichte, das Henning Ahrens in seinem für den Deutschen Buchpreis 2021 nominierten Roman „Mitgift“ beschreibt. Aber im Gegensatz zu den trivialen Werken dieses Genres hüllt er den Leser/die Leserin nicht in die wohlige Decke von Liebe, Verständnis und Zuckerguss, sondern zeigt das bäuerliche Familienleben, reduziert und konzentriert auf ein problematisches Vater-Sohn-Verhältnis. Das ist aber längst nicht das einzige Thema, er schaut auch mit dem Brennglas in die Seelen der einzelnen Familienmitglieder, zeigt die Auswirkungen, die der Zweite Weltkrieg auf sie hatte. Hoffnungen, Wünsche und Träume, die sich nicht erfüllten. Enttäuschungen, die bis in die Gegenwart hinein wirken und Leben zerstören.

Ahrens verkneift sich jegliche Sentimentalität, beschreibt nüchtern, präzise und mit einer gehörigen Portion Distanz diese toxischen innerfamiliären Verhältnisse. In alternierenden Kapiteln zwischen den Jahren 1944 und 1962 wechselt er die Perspektiven, lässt er aber nicht nur die verschiedenen Familienmitglieder sondern auch die Totenfrau Gerda zu Wort kommen, deren Leben ebenfalls mit der Bauernfamilie verbunden ist. Einst die Jugendliebe des alten Wilhelm, von diesem aber zugunsten der Mitgift der Bauerntochter Käthe verlassen, damit Scholle zu Scholle kommt. Es ist dieser Hunger nach Land, das Versprechen der Nationalsozialisten, den Bauern neue Gebiete im Osten zur Verfügung zu stellen, die ihn in die Wehrmacht treibt und schließlich dazu führt, dass er bis 1949 in Kriegsgefangenschaft gerät. Zuhause muss die Familie, heißt im Klartext der älteste Sohn, dafür sorgen, dass der Betrieb weiterläuft. Doch von dem heimkehrenden Vater bleibt die Anerkennung aus, denn jeder hat seinen Platz in der Familie, das ist schon seit Generationen so geregelt, muss wissen, wohin er gehört, wieder zurück ins Glied rücken. Das konfliktbeladene Verhältnis zwischen dem tyrannischen Vater, der sich noch immer nicht von dem Gedankengut der Nationalsozialisten abgewandt hat, und dem Sohn, der für sich einen Ausweg aus diesem bäuerlichen Leben sucht, schaukelt sich allmählich auf, bis es schließlich zu dem finalen Ereignis kommt, das einen der beiden das Leben kostet. Lesen!