Profilbild von Havers

Havers

Lesejury Star
offline

Havers ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Havers über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.12.2020

Historischer Kriminalroman mit Mehrwert

Lange Nacht (Darktown 3)
0

Thomas Mullens Darktown-Trilogie ist mit dem abschließenden Band „Lange Nacht“ im Jahr 1956 angekommen. Es brodelt in Atlanta, nicht zuletzt, weil sich mittlerweile eine Bürgerrechtsbewegung formiert hat, ...

Thomas Mullens Darktown-Trilogie ist mit dem abschließenden Band „Lange Nacht“ im Jahr 1956 angekommen. Es brodelt in Atlanta, nicht zuletzt, weil sich mittlerweile eine Bürgerrechtsbewegung formiert hat, angeführt von einem charismatischen jungen Pastor, Martin Luther King, der dazu aufruft, mit gewaltfreien Mitteln das Ende der Rassentrennung herbeizuführen. Zwar können die Aktivisten erste kleine Erfolge verbuchen, doch prinzipiell hat sich an der Lage der Schwarzen in den Südstaaten nicht verändert. Noch immer müssen sie sich tagtäglich mit Vorurteilen auseinandersetzen, werden in ihren Möglichkeiten eingeschränkt.

Die Protagonisten sind aus den vorherigen Bänden bekannt: Joe McInnis, seit acht Jahren Leiter von Atlantas „Negro Police“, der einzige Weiße in der Truppe. Lucius Boggs, Sohn eines Predigers und seit Beginn Teil von McInnis‘ Team, und Tommy Smith, mittlerweile aus dem Dienst ausgeschieden und nun Polizeireporter bei der Atlanta Daily Times, der einzigen schwarzen Tageszeitung Amerikas. Als er Bishop, seinen Chef, tödlich verletzt im Büro auffindet, alarmiert er McInnis, den einzigen Polizisten, dem er traut, denn er ist sich dessen sicher, dass allein schon die Hautfarbe reicht, um verdächtigt zu werden. Dass er damit richtig liegt, zeigt sich spätestens dann, als sich das FBI in die Ermittlungen einmischt. Offenbar war Bishop einer brisanten Story auf der Spur, deren Enthüllung mit aller Macht verhindert werden sollte. Und plötzlich sind nicht nur Bundesagenten sondern auch korrupte Schnüffler und politische Gruppierungen aus den verschiedensten Gründen an dem Fall interessiert...weiter in den Kommentaren

„Lange Nacht“ ist mehr als ein historischer Kriminalroman. Natürlich ist dieser Blick zurück ein Stück Zeitgeschichte, aber gleichzeitig auch eine aktuelle gesellschaftspolitische Bestandsaufnahme des amerikanischen Alltags. Und das betrifft nicht nur die Südstaaten, was einmal mehr die jüngsten Ereignisse in den USA beweisen. America the beautiful und Land of the Free ? Das gilt offenbar nur für diejenigen, die eine weiße Hautfarbe haben. Alle anderen haben mit einer Realität zu kämpfen, in der Diskriminierung, Behördenwillkür und Polizeibrutalität an der Tagesordnung sind. Mullens Trilogie zeigt uns in erschreckender Weise die moralische Verkommenheit eines Landes, das durch tief verwurzelten Rassismus geprägt ist, inklusive der dazugehörigen politischen Interessen und Einflussnahmen. Und das hat sich seit 1948 bis heute kaum verändert.

Veröffentlicht am 13.12.2020

Ein Kochbuch, das Lust auf Gemüse macht

all‘orto
0

Claudio del Principe ist nicht nur ein Koch sondern auch ein Purist, der unsere Geschmacksknospen wieder empfänglich für die einfachen Genüsse machen möchte. Bewiesen hat er das in seinen bisher erschienen ...

Claudio del Principe ist nicht nur ein Koch sondern auch ein Purist, der unsere Geschmacksknospen wieder empfänglich für die einfachen Genüsse machen möchte. Bewiesen hat er das in seinen bisher erschienen Kochbüchern „a casa“, „al forno“ und „a mano“, allesamt höchst empfehlenswert. Nun also „all‘ orto“, in dem er das Hauptaugenmerk auf die Erzeugnisse des Gemüsegartens lenkt.

Vorausschicken sollte man aber auch noch, dass er ein Verfechter des Slow Food-Kochens ist d.h. kurz mal auf die Schnelle ein paar Zutaten zusammengerührt ist nicht sein Stil. Man sollte sich Zeit nehmen, nicht nur zum Essen sondern auch zum Kochen, was mit Sicherheit für den einen oder anderen problematisch ist. Und auch die Beschaffung der Zutaten, oft nur in Italien weit verbreitet, ist nicht immer einfach, vor allem dann, wenn man keine gut sortierten Läden oder Märkte vor der Haustür hat, sondern nur in den üblichen Supermärkten einkaufen kann. Wir haben glücklicherweise einen gut sortierten Hofladen, der zur Saison die meisten der vorgestellten Gemüse vorrätig hat. Im besten Fall hat man natürlich einen eigenen Garten, in dem man die eher schwer zu beschaffenden Gemüsesorten selbst anbaut.

Del Principe nimmt uns mit in den Garten und zeigt uns Rezepte, die quer durch dessen Vielfalt führen. Die Ordnung ist alphabetisch, von Artischocke bis Zwiebel ist alles vorhanden. Im Mittelpunkt des Rezepts steht das jeweilige Gemüse, zu Beginn kurz einleitend und mit schönen Fotos vorgestellt. Besondere Fähigkeiten für die Zubereitung werden nicht vorausgesetzt, der Zeitaufwand variiert von „geht schnell“ bis hin zu „ist unter der Woche kaum zu realisieren“. Inspiriert von der italienischen Küche wechseln sich alltagstaugliche, bodenständige und saisonale Gerichte mit eher überflüssigen, weil kapriziösen und immens zeitaufwändigen Rezepten, insbesondere bei den Rote Bete, ab. Diese vermitteln eher den Eindruck von dekorativem Beiwerk, so dass der Teller dann weniger wie ein Mittagessen als vielmehr wie ein ambitioniertes Gesamtkunstwerk daherkommt.

„All’orto“ macht Lust auf Gemüse, ist aber mit Sicherheit nicht für jeden Hobbykoch geeignet. Dennoch, es ist eine Empfehlung für all diejenigen, die Freude am Kochen haben und sich dafür auch gerne etwas mehr Zeit nehmen, sei es bei der Beschaffung, aber auch bei der Zubereitung der erforderlichen Zutaten.

Veröffentlicht am 08.12.2020

Ein uneingeschränktes Lesevergnügen

Real Tigers
0

Gleich zu Beginn ein Geständnis: Ich bin kein Fan von Spionagethrillern. Deshalb wundere ich mich darüber, dass mir Mick Herrons Reihe mit Jason Lamb und seinen „Slow Horses“ solch großen Spaß macht, ich ...

Gleich zu Beginn ein Geständnis: Ich bin kein Fan von Spionagethrillern. Deshalb wundere ich mich darüber, dass mir Mick Herrons Reihe mit Jason Lamb und seinen „Slow Horses“ solch großen Spaß macht, ich das Erscheinen der nachfolgenden Bände kaum erwarten kann und sie deshalb auch im Original lese.

Die Kenntnis der beiden Vorgänger ist nicht zwingend erforderlich, um dieses Buch genießen zu können, deshalb hier nur eine kurze Zusammenfassung: Die „Slow Horses“ sind ein Team von ehemaligen Agenten des MI5, die entweder bei ihren Einsätzen gravierende Fehler gemacht haben oder wegen persönlicher Probleme für den britischen Geheimdienst nicht mehr tragbar sind. Entlassen kann man sie nicht, also wurden sie weit ab vom Schuss im „Slough House“, deshalb auch „Slow Horses“, untergebracht und verbringen dort ihre Tage mit langweiligen und völlig überflüssigen Routinearbeiten. Die Leitung hat Jackson Lamb, ein unkultivierter, nicht teamfähiger Ehemaliger mit üblen Manieren, aber einem messerscharfen Verstand. Soweit zu den Rahmenbedingungen.

Nach den „Dead Lions“ bekommen es die Slow Horses nun mit „Real Tigers“ zu tun, die ihre Krallen ausfahren und die Macht sowohl im Geheimdienst als auch im Land an sich reißen wollen. Zum einen sind da Ingrid Tearney, noch Leiterin des MI5, und Diana „Lady Di“ Taverner, die diese mit hinterhältiger Höflichkeit von ihrem Posten verdrängen möchte, zum anderen Peter Judd, der neue Innenminister, der in Downing Street 10 einziehen möchte. Ein machiavelistischer Strippenzieher, dessen Charakterisierung jedem Vergleich mit Boris Johnson standhält.

Und was hat das mit den Slow Horses zu tun? Nun, Catherine, trockene Alkoholikerin und diejenige aus Slough House, die Lamb am nächsten ist, wird von einem ehemaligen Weggefährten entführt. Einer ihrer Kollegen erhält den Auftrag, ein geheimes Dossier im Austausch für Catherine zu beschaffen, was allerdings in einem Desaster endet. Aber Lamb wäre nicht der schlaue Fuchs, der er zweifelsfrei ist, wenn er die Manipulationen seines Teams und die Hintergründe nicht durchschauen würde.

Das Buch ist eine gelungene Mischung aus spannendem Spionagethriller und ätzender Satire, das nicht mit gelungenen Seitenhieben auf die britischen Politiker geizt. Die Personen sind allesamt außergewöhnlich, interessant und stimmig charakterisiert, obwohl man keine davon zum Freund haben möchte. Außerdem kann Herron mit Sprache umgehen, seine Formulierungen sind treffend und intelligent, und auch das macht nicht nur „Real Tigers“ sondern die gesamte Reihe zu einem uneingeschränkten Lesevergnügen.

Veröffentlicht am 07.12.2020

Leben und Sterben in Mexiko

Der erste Tote
2

Andrew und Carlos sind ein Paar, beides Journalisten. Der eine schreibt, der andere schießt die Bilder dazu. Für eine Reportage über die Fracking-Industrie sammeln sie Material in Poza Rica, der heruntergekommenen ...

Andrew und Carlos sind ein Paar, beides Journalisten. Der eine schreibt, der andere schießt die Bilder dazu. Für eine Reportage über die Fracking-Industrie sammeln sie Material in Poza Rica, der heruntergekommenen Erdölmetropole in Veracruz. Auf dem Heimweg nach Mexico City finden sie in einer Nebenstraße die grässlich zugerichtete Leiche eines jungen Mannes, laut Ausweis ein Student namens Julián Gallardo, der, wie sich später herausstellen wird, der führende Kopf einer Gruppe von Umweltaktivisten ist. Carlos will letzte Fotos machen, als auch schon ein Wagen der Guardia Civil mit drei Cops eintrifft, die dies mit roher Gewalt verhindern. Nachdem sie Carlos’ Personalien festgestellt haben, packen sie den Toten und transportieren ihn ab. Carlos hat Blut geleckt, will vor Ort bleiben, weiter recherchieren. In Andrews Augen keine gute Idee, und so fährt er alleine zurück. Es kommt, wie es kommen muss, Carlos bezahlt für seine Neugier mit dem Leben. Und Andrew? Fühlt sich schuldig und setzt nun alles daran, die Hintergründe um Carlos‘ und Juliáns Ermordung aufzuklären. Die Vermutung, dass er damit in ein Wespennest sticht und auch sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, liegt nah, denn um das große Geld zu kommen, geht die unheilvolle Allianz zwischen Industrie, Politik, Polizei und organisiertem Verbrechen über Leichen.

In Tim MacGabhanns Debütroman „Der erste Tote“ zeigt sich Mexiko von seiner dreckigen, brutalen Seite. Der Autor ist Ire, Journalist, lebt und arbeitet dort seit vielen Jahren und hat nun seine persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Recherchen in diesem Roman verarbeitet, der Auftaktband einer Trilogie ist.

Hierfür wählt er, wie er im Nachwort ausführlich erläutert, die Form der mexikanischen "Crónica", einer Mischform aus objektiver Reportage und Fiktionalität. Einerseits die Stärke, andererseits aber auch die Schwäche des Romans. Der langwierige Prozess von Andrews Recherche und dessen Beschreibung zieht sich, unzählige Gespräche und Informationen, die in Zusammenhang gebracht werden müssen. Allerdings punktet er durch detaillierte atmosphärische Beschreibungen, die eine Ahnung des Alltags vermitteln, die permanente Bedrohung schildern, denen diejenigen Journalisten ausgesetzt sind, die sich mit Kartellen und der mexikanischen Korruption beschäftigen.

Aber all das habe ich schon in wesentlich eindrücklicherer Aufbereitung gelesen. Nichts Neues über die kriminellen Machenschaften der Fracking-Industrie, über deren Verflechtung mit korrupten Politikern, Staatsorganen und gekauften Polizisten, über die Verfolgung und Ermordung kritischer Journalisten, eher eine unbefriedigende Gemengelage aus Reportage und Roman/Thriller, die mich leider nicht vollständig überzeugen konnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Spannung
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.12.2020

Ein großes Lesevergnügen

60 Kilo Sonnenschein
0

Hallgrímur Helgasons „60 Kilo Sonnenschein“ ist eine höchst vergnügliche Mischung aus Schelmenroman, Coming of Age-Geschichte und historischem Epos. Er beginnt an einem Heiligabend, die zeitliche Einordnung ...

Hallgrímur Helgasons „60 Kilo Sonnenschein“ ist eine höchst vergnügliche Mischung aus Schelmenroman, Coming of Age-Geschichte und historischem Epos. Er beginnt an einem Heiligabend, die zeitliche Einordnung lässt Ende19. /Anfang 20. Jahrhundert vermuten, verortet ist er an einem einsam gelegenen Fjord.

Ein Bauer ist auf dem Heimweg, kämpft sich durch einen Schneesturm und findet bei seiner Ankunft den Hof unter Schneemassen begraben. Frau und Tochter sind tot, Gestur, der uneheliche Sohn, hat wie durch ein Wunder überlebt. Ohne Frau und bettelarm beschließt der Bauer, das Kind wegzugeben. Und so beginnt Gesturs Odysee, auf der wir ihn begleiten und so Einblicke in die isländische Gesellschaft und das Denken der damaligen Zeit erhalten, das von Unwissenheit geprägt ist.

So wie Gestur erwachsen wird und sich verändert, so verändert sich auch seine isländische Heimat, macht die ersten zögerlichen Schritte hin zu einer modernen Gesellschaft. Dreh- und Angelpunkt ist der Heringsfang, sind die ausländischen Schiffe, die in den Fjord kommen und die weite Welt auf die verschlafene Insel bringen. Und es sind nicht nur die in Island bis dato unbekannten Waren sondern auch die neuen Ideen und Werte, die urplötzlich Einzug in das Denken und Handeln der Inselbewohner halten und die wirtschaftliche und kulturelle Isolation aufbrechen.

Unvergessliche Personen in inflationärer Zahl fordern durchaus die Aufmerksamkeit der Leserin/des Lesers, aber dennoch kommt man nie in Versuchung, den Roman zur Seite zu legen, und das ist mit Sicherheit den schriftstellerischen Fähigkeiten dieses routinierten Autors geschuldet. Er mag zwar hier und da sehr ins Detail gehen, erzählt dabei aber so anschaulich und vor allem humorvoll, dass selbst in den tragischen Momenten noch jede Menge absurdes Potenzial steckt. Eine gelungene Mischung, die aus diesem umfangreichen Roman ein großes Lesevergnügen macht.