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Veröffentlicht am 06.10.2020

Ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2020

Herzfaden
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Die erste Fernsehserie, die ich in meiner Kindheit atemlos verfolgt habe, war Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Ich durfte es bei einer Freundin anschauen, weil wir damals noch kein Fernsehgerät ...

Die erste Fernsehserie, die ich in meiner Kindheit atemlos verfolgt habe, war Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Ich durfte es bei einer Freundin anschauen, weil wir damals noch kein Fernsehgerät hatten, und ich erinnere mich, dass wir beide angespannt verfolgt haben, was da auf dem Bildschirm geschah. Augenblicke, die uns in unbekannte Welten mitnahmen, uns verzauberten. Die eine magische Verbindung zwischen der Marionette und dem Zuschauer schufen. Es war der Faden, der mitten unser Herz führte, vergessen ließ, dass Jim Knopf nur eine Holzpuppe war.

Hettches „Herzfaden“ wagt den Spagat zwischen einem Blick zurück in die jüngere Vergangenheit Deutschlands und einer Gegenwart, die einem phantastischen Roman entstammen könnte, verbunden mit der Geschichte der Familie Oehmichen. Bindeglied ist ein Mädchen, das nach einer Vorstellung eine unscheinbare Tür im Foyer öffnet und sich auf dem Dachboden, quasi hinter den Kulissen wiederfindet. Und dort sind nicht nur alle Marionetten der Puppenbühne lebendig sondern auch ihre Schöpferin, Hannelore (Hatü) Oehmichen, die bis zu ihrem Tod das Werk ihres Vaters fortgesetzt hat.

Hatü erzählt dem Mädchen von ihrer Kindheit, von der Angst während der Bombennächte, von der Deportation der Juden, von der Nachkriegszeit, in der die alten Nazis wieder Schlüsselpositionen besetzen, aber auch von einer Generation, die von den Erlebnissen in Krieg und Alltag traumatisiert ist. Und sie erzählt von den Anfängen der Augsburger Puppenkiste, von ihrem Vater Walter, dessen Anliegen es war, genau diese Menschen zu trösten, zu heilen, ihnen wieder Hoffnung zu geben. Ihre Herzen zu erreichen, und sei es auch nur mit Marionetten.

Thomas Hettches „Herzfaden“ ist ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2020. Meine Daumen sind gedrückt!

Veröffentlicht am 01.10.2020

Ein großartiger, ein berührender Roman

Das weite Herz des Landes
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Richard Wagamese (1955 – 2017) ist ein indigener Autor aus Kanada (vom Stamm der Ojibwe, besser bekannt in der amerikanischen Bezeichnung Chippewa), der sich in der Tradition seines Volkes als „Geschichtenerzähler“ ...

Richard Wagamese (1955 – 2017) ist ein indigener Autor aus Kanada (vom Stamm der Ojibwe, besser bekannt in der amerikanischen Bezeichnung Chippewa), der sich in der Tradition seines Volkes als „Geschichtenerzähler“ versteht. Wie so viele Kinder seines Volkes aus seiner Familie gerissen, durch zahlreiche Pflegefamilien geschleust, dann adoptiert. In Kontakt mit seiner Herkunft und den indigenen Traditionen kommt er erst im Erwachsenenalter und verarbeitet diese in seinen Romanen.

„Das weite Herz des Landes“ ist eines seiner letzten Bücher, im Original 2014 erschienen und liest sich wie die Nieerschrift eines langen Gesprächs. Im Angesicht des Todes bittet Eldon seinen Sohn Frank um einen letzten Dienst. Er möchte nach Art seiner Vorfahren auf dem Ojibway-Kriegerweg mit Blick nach Osten bestattet werden, und „der Junge“ soll ihn, obwohl er lange Zeit keinen Kontakt zu ihm hatte, dorthin begleiten, ihn führen. Dieser willigt ein, widerwillig zwar, aber gemeinsam machen sie sich auf den Weg, der für beide weit mehr als eine letzte Reise sein wird.

Väter und Söhne, das ist eh ein Kapitel für sich. Aber ein Kind, das bei einem Vormund aufwachsen muss, das seine kulturelle Identität nur im Ansatz entwickeln kann, weil mutterlos und der alkoholkranke Vater als einziges Bindeglied nicht vorhanden ist, ist verständlicherweise nicht besonders gut auf diesen zu sprechen. So ist dieser letzte Ritt auch als Versuch des Vaters zu sehen, sich zu erklären, Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten.

Ein großartiges, ein berührendes Werk der indigenen Literatur, das nachdenklich macht und lange nachhalt.

Veröffentlicht am 29.09.2020

Typische Hornby Love-Story, aber kein Brexit-Roman

Just Like You
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Um es gleich vorweg zu nehmen, für mich ist „Just like you“ nur sehr bedingt ein Brexit-Roman. Die Handlung ist zeitlich zwar rund um das Referendum angesiedelt, aber das Thema wird nur oberflächlich und ...

Um es gleich vorweg zu nehmen, für mich ist „Just like you“ nur sehr bedingt ein Brexit-Roman. Die Handlung ist zeitlich zwar rund um das Referendum angesiedelt, aber das Thema wird nur oberflächlich und lediglich in knappen Bemerkungen innerhalb der Gespräche der Protagonisten angeritzt, meist nur auf die Frage nach dem Wahlverhalten reduziert. Nur in einem kurzen Wortwechsel merkt man bei Josephs Vater die Hoffnung, die dieser mit dem Verlassen der EU verknüpft. Wobei er allerdings auch nur die Ausländer raus-Parolen nachbetet, die die Leaver im Vorfeld verbreitet haben.

Lucy (42, Lehrerin, Mutter zweier Kinder, getrennt lebend, weiß und links-liberal) trifft Joseph (22, Aushilfsverkäufer und Hobby-DJ, ungebunden, schwarz und eher unpolitisch) in dem Fleischerladen, in dem er hinter der Theke steht. Beide sind eher zurückhalten, nur bedingt auf Partnersuche, und dann sind ja da noch die unterschiedlichen Lebenswelten und nicht zuletzt der große Altersunterschied. Aber dennoch kommen sie ins Gespräch, nähern sich vorsichtig an und verlieben sich ineinander. Trennen sich und kommen wieder zusammen. Und das war’s dann auch schon.

So, und damit wäre auch das Genre geklärt, dem dieser Roman zuzurechnen ist. „Just like you“ ist eine Love Story, allerdings in der für Hornby typischen Form mit Augenzwinkern erzählt. Mitten aus dem Alltag, ohne pseudoromantischen Schmus, dafür mit jeder Menge Bedenken und Soll-ich oder Soll-ich-nicht auf beiden Seiten.

Aber leider bleibt der Autor doch sehr an der Oberfläche. Er beschreibt zwar das Leben in Lucys trendigem Viertel Islington, verliert sich aber in Äußerlichkeiten und umschifft die problematischen Aspekte, die sich aus der Verbindung der beiden Protagonisten ergeben. Meine Erwartungen wurden zwar nur teilweise erfüllt, aber alles in allem war es doch eine unterhaltsame, leichte Lektüre für zwischendurch, die gerne gelesen habe.

Veröffentlicht am 28.09.2020

Ein wichtiges Buch, aber auch harte Kost.

Meine dunkle Vanessa
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Älterer Mann begehrt junges Mädchen, ein Motiv, das wir spätestens seit Nabokovs „Lolita“ kennen. Nun sind im Zuge der #MeToo-Bewegung zahlreiche literarische Auseinandersetzungen mit dieser Thematik erschienen, ...

Älterer Mann begehrt junges Mädchen, ein Motiv, das wir spätestens seit Nabokovs „Lolita“ kennen. Nun sind im Zuge der #MeToo-Bewegung zahlreiche literarische Auseinandersetzungen mit dieser Thematik erschienen, in denen sich die Opfer, Frauen und Männer, zu Wort melden. Manches davon autobiografisch, anderes fiktional, aber dennoch mehr oder weniger von persönlichen Erfahrungen beeinflusst. So auch Kate Elizabeth Russells Debütroman, in dem Vanessa, ihre zweiunddreißigjährige Protagonistin, das Verhältnis zu ihrem ehemaligen Englischlehrer Revue passieren lässt.

Vanessa ist fünfzehn Jahre alt, als sie auf das Internat in Maine wechselt. Eine Gedichte schreibende Außenseiterin, kaum beachtet, linkisch, schüchtern, typische Postpubertät. Nur Strane, der Englischlehrer (42), schenkt ihr Beachtung, leiht ihr Bücher, lobt sie und baut so eine Verbindung zu ihr auf. Ein Wolf, der die Beute wittert, und das Vertrauen des Teenagers gnadenlos ausnutzt. Sie genießt seine Avancen, fühlt sich geschmeichelt, begehrt, stellt das, was zwischen ihnen geschieht, zu keinem Zeitpunkt in Frage. Selbst dann nicht, als 2017 eine Schülerin Strane des Missbrauchs beschuldigt und Vanessa die Anklage unterstützen soll. Sie weigert sich, will sich die Vergewaltigungen nicht eingestehen, romatisiert dieses Verhältnis noch immer. Sieht nicht, was es bei ihr angerichtet hat. Und Strane? Wie damals benutzt er sie auch heute, verpflichtet sie zu Stillschweigen.

Die Geschichte wird aus der Sicht Vanessas auf zwei Zeitebenen (2000 und 2017) erzählt und macht nicht nur betroffen sondern auch wütend, denn das klassische Täter-Opfer-Schema greift hier nur bedingt. Der Täter weiß genau, was er tut, verbrämt seine pädophile Veranlagung Vanessa gegenüber mit dem Verweis auf Nabokov. Diese hingegen verschließt die Augen, weigert sich, den körperlichen und emotionalen Missbrauch anzuerkennen, das toxische der Beziehung, entwickelt eine Art Stockholm-Syndrom. Aber vielleicht dient dieses Nicht-eingestehen-wollen, die Leugnung, auch nur ihrem eigenen Schutz. Ein wichtiges Buch, aber auch harte Kost. Lesen!

Veröffentlicht am 26.09.2020

Ein feiner Country Noir

Hope Hill Drive
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Südaustralien. Heiß, trocken, staubig und dünn bevölkert. Tiverton, die öde Kleinstadt, das Revier von Paul „Hirsch“ Hirschhausen, strafversetzter, weil zu ehrlicher Constable und Leiter der dortigen Polizeistation. ...

Südaustralien. Heiß, trocken, staubig und dünn bevölkert. Tiverton, die öde Kleinstadt, das Revier von Paul „Hirsch“ Hirschhausen, strafversetzter, weil zu ehrlicher Constable und Leiter der dortigen Polizeistation. Bagatelldiebstähle, Drogenkonsum, Alkoholismus, häusliche Gewalt, Kupferklau, entlaufene Haustiere, viel zu tun gibt es dort nicht, lauter Kleinkram. Ach ja, fast vergessen, Weihnachten steht vor der Tür und Hirsch muss nicht nur die Weihnachtsbeleuchtung prämieren sondern auch noch den Santa spielen. Aber mit dem besinnlichen Warten aufs Christkind wird es diesmal nichts werden, denn zwei ungewöhnliche Vorfälle reißen ihn aus der Routine und fordern seinen ganzen Einsatz. Wer massakriert Ponys und was hat es mit der toten Frau auf der abseits gelegenen Farm auf sich? Hirschs Einsatz ist gefordert, und schnell muss er feststellen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist.

„Hope Hill Drive“ ist ein gelungenes Beispiel für einen feinen Country Noir. Disher schreibt lebendig, liefert ein anschauliches, ein lebendiges Bild vom Kleinstadtleben im öden Outback, was sowohl die Landschaftsbeschreibungen als auch dessen Bewohner angeht. Er moralisiert und wertet nicht, verzichtet auf Effekthascherei, was aber nicht meint, dass es sich der Leser allzu gemütlich machen sollte, denn im Verlauf der Handlung offenbaren sich einige tragische Einzelschicksale. Anfangs eher gemächlich im Tempo, mit Handlungssträngen, die auf den ersten Blick keine Zusammenhänge erkennen lassen, zum Ende hin mit überraschenden Wendungen, die alle losen Fäden verknüpfen und keinerlei Fragen unbeantwortet lassen. Meisterhaft!