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Veröffentlicht am 03.11.2018

Über die Brüchigkeit der Existenz

So also endet die Welt
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Sommer in Finnland. Urlaubszeit, für viele Familien die schönste Zeit des Jahres. Für andere eine Zeit, in der sie sich durch die Loslösung vom Alltag und die erzwungene Nähe intensiver miteinander beschäftigen ...

Sommer in Finnland. Urlaubszeit, für viele Familien die schönste Zeit des Jahres. Für andere eine Zeit, in der sie sich durch die Loslösung vom Alltag und die erzwungene Nähe intensiver miteinander beschäftigen können/müssen. Oft aber auch für den einzelnen eine Zeit der Reflexion, wie sie der finnische Autor Philip Teir in seinem neuen Roman „So also endet die Welt“ beschreibt.

Die Mittdreißiger Julia und Erik machen mit ihren Kindern Alice und Anton Urlaub in dem Ferienhaus, das sie schon seit ihrer Kindheit kennt (später reisen noch Julias Eltern sowie Eriks Bruder an). Auf den ersten Blick eine ganz normale Familie, der zweite Blick offenbart die brüchigen Strukturen innerhalb dieser kleinen Gruppe. Erik, der Informatiker, hat Angst davor, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Wer soll denn dann dafür sorgen, dass Geld hereinkommt? Er wird den Job verlieren, es aber aus Scham gegenüber seiner Familie verschweigen und Trost im Alkohol suchen. Julia konnte zwar einen erfolgreichen Roman verkaufen, hat seither aber wegen einer Schreibblockade kein Wort mehr zu Papier gebracht. Sie fühlt sich allein. Als sie den unbeschwert lockeren Alltag der Kommune/WG im Nachbarhaus beobachtet, in der ihre Jugendfreundin mit Mann, Kind und diversen Aussteigern lebt, sehnt sie sich nach den Zeiten zurück, in denen sie ihr Leben ungebunden und ohne Verpflichtungen leben konnte. Alice erlebt ihre erste Liebe mit dem Nachbarsjungen. Alex merkt tief drinnen, dass die unbeschwerten Tage der Kindheit sich dem Ende zuneigen und sucht seinen Platz. Aber auch im Nachbarhaus ist nicht alles so harmonisch, wie es auf den ersten Blick scheint.

Teir schaut genau hin, legt die Brüchigkeiten der Existenzen frei. Zeigt uns die Sprachlosigkeit, die Mauern zwischen den Menschen. Gefangene ihrer Lebensentwürfe. Nicht nur ihre Unfähigkeit, sondern auch ihren Unwillen, etwas am Status Quo zu ändern. Symbol dafür ist der nasse Untergrund des Ferienhauses, in dessen Keller der Wasserpegel allmählich ansteigt und sich schließlich den Weg nach draußen bahnt. Für die Bewohner auf Zeit bleibt so nur das Verlassen der sicheren Unterkunft.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Hochspannung und Drama

Ins Dunkel
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„Ins Dunkel“ ist nach „Hitze“ (Originaltitel „The Dry“) der zweite Thriller Jane Harpers, australische Autorin mit englischen Wurzeln, die für ihr Debüt mit dem CWA Golden Dagger ausgezeichnet wurde. Und ...

„Ins Dunkel“ ist nach „Hitze“ (Originaltitel „The Dry“) der zweite Thriller Jane Harpers, australische Autorin mit englischen Wurzeln, die für ihr Debüt mit dem CWA Golden Dagger ausgezeichnet wurde. Und wie bereits der Vorgänger, für den sich Reese Witherspoon die Filmrechte gesichert hat, schreit auch „Ins Dunkel“ geradezu nach einer Verfilmung.

Aaron Falk, dem Leser im Idealfall bereits aus dem ersten Band bekannt (obwohl dessen Kenntnis für das Verständnis nicht unbedingt notwendig ist), ermittelt mit seiner Kollegin Carmen Cooper im Fall der verschwundenen Alice Russell, einer jungen Frau, die für ihn als Informantin tätig ist. Ihr Arbeitgeber, die Wirtschaftsprüfungskanzlei BaileyTennants, steht unter dem Verdacht der Geldwäsche. Und genau diese Kanzlei hat fünf ihrer Mitarbeiterinnen zum Zwecke der Teambildung auf eine Trekking-Tour in die Giralang-Berge geschickt, lediglich mit Kompass, Landkarte und Handy ausgerüstet und auf sich allein gestellt: die Chefin Jill sowie die Kolleginnen Lauren, Breanna , Beth und Alice – allesamt Städterinnen, die in der Konfrontation mit der unwirtlichen Natur des Buschlands sehr schnell an ihre Grenzen gelangen. Was als harmloses Outdoor-Abenteuer geplant war, entwickelt sich zu einem Albtraum, der den Frauen nicht nur physisch sondern auch emotional alles abverlangt.

Die Kapitel sind relativ kurz und springen zwischen den beiden Gruppen und zwei zeitlichen Ebenen hin und her, zum einen dem Handlungsstrang rund um Falk und Cooper in der Gegenwart, zum anderen der Tour der Frauen in der Vergangenheit. Gepaart mit zahlreichen fiesen Cliffhangern erzeugt das eine hoch spannende, ja dramatische Story mit durchgängig hohem Tempo, die den Leser kaum zu Atem kommen lässt. Da stört es auch kaum, dass die gruppendynamischen Prozesse, die fernab jeglicher Zivilisation das Verhalten der Frauen zunehmend verändern, das eine oder andere Mal an Goldings „Herr der Fliegen“ erinnern. Auch Autoren brauchen schließlich Vorbilder...

Veröffentlicht am 03.11.2018

Zwei Wochen im Herbst '68

Die Tote im Wannsee
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Berlin im Herbst 1968. Der Alltag in der Metropole ist ordentlich durcheinander geschüttelt. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften, aus ganz Deutschland werden Neubürger mit Kopfprämien in die Hauptstadt ...

Berlin im Herbst 1968. Der Alltag in der Metropole ist ordentlich durcheinander geschüttelt. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften, aus ganz Deutschland werden Neubürger mit Kopfprämien in die Hauptstadt gelockt, die Studenten protestieren gegen Springer und den Vietnamkrieg, haben ihrerseits aber auch Opfer in den eigenen Reihen zu beklagen. Benno Ohnesorg wird erschossen und auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Protestbewegung, wird ein Attentat verübt. APO und SDS sind die Reizwörter für die Springer-Presse, die mit ihren Artikeln die „normalen“ Bürger aufhetzen.

Die Gesellschaft ist einmal mehr im Umbruch. Das Wirtschaftswunder und der Generationswechsel nach dem Krieg in Politik, Lehre und Wirtschaft hat de facto nicht stattgefunden. Es sind noch immer die gleichen grau-braunen Eminenzen, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Korrupte Politiker, alte Nazis, dubiose Geschäftemacher. Und natürlich die Stasi, die auch im Westteil der Metropole ihre Spitzel sitzen hat.

Soweit der zeitliche Rahmen und gesellschaftspolitische Hintergrund für „Die Tote im Wannsee“, den ersten Kriminalroman des Trios Lutz, Kellerhof (beides Journalisten) und Wilhelm (Autor und Produzent), wobei letzterer Krimi-/Thriller-Lesern wahrscheinlich kein Unbekannter ist.

Die Krimihandlung wird durch den Leichenfund einer jungen Frau am Ufer des Wannsee eingeläutet. Wolf Heller, der junge sympathische Kommissar, momentan in Bereitschaft beim Kriminalreferat M, wird zum Fundort beordert und mit den Ermittlungen beauftragt. Die Recherchen ergeben, dass es sich um eine kleine Angestellte in der Kanzlei des Rechtsanwalts Horst Mahler handelt, was nun aber nicht weiter beachtenswert wäre. Wären da nicht die 12.000 DM auf ihrem Sparbuch, die Heidi Gent, zweimalige Mutter und mit einem Trinker verheiratet, unmöglich zur Seite gebracht haben kann. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden, aber als seine Vorgesetzten Heller nahelegen, den Fall abzuschließen, wird er misstrauisch und schaut noch einmal genauer hin. Er verbeißt sich regelrecht in den Fall und je tiefer er gräbt, desto mehr Schmutz schaufelt er nach oben. Geheimnisse, Lügen und Politik – es ist letztendlich dieses Dreigestirn, das Hellers Ermittlungen zum Erfolg führt.

Bei diesem Kriminalroman fällt als erstes das Zeitkolorit ins Auge. Da wird die politische Situation im 68er Berlin mit Bezügen zu realen Personen thematisiert, es gibt Gastarbeiter, die genannten Zigaretten- und Automarken rufen Erinnerungen wach, und der ermittelnde Kommissar Heller hat kein schickes Apartment, sondern wohnt bei Paula, einer alleinerziehenden Mutter, zur Untermiete (und sein außergewöhnliches Geburtstagsgeschenk für sie ist ein gebrauchter Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher, über den ihre Zwillinge in Verzückung geraten). Für mich in hohem Maße authentisch.

Mir fällt zu diesem Kriminalroman nur ein Wort ein: Gelungen, zumindest was, wie zuvor schon thematisiert, die zeitliche Einordnung sowie die sich daraus ergebende, spezielle geografische Verortung angeht. Wenn man mit Berlin einigermaßen vertraut ist, kann man durch detaillierte Orts- und Wegbeschreibungen Heller durch die Metropole folgen.

Die Story an sich ist gut geplottet, tritt aber meiner Meinung nach etwas in den Hintergrund, was mit Sicherheit dadurch bedingt ist, dass die Autoren ihren Schwerpunkt auf die zeitgeschichtlichen Aspekte gelegt haben. Für mich kein Manko, ich liebe Krimis, die mir neben einer spannenden Handlung auch etwas über die gesellschaftspolitischen Hintergründe verraten. Deshalb gibt es von mir für „Die Tote im Wannsee“ auch die volle Punktzahl!

Und wer mit den im Buch genannten Begriffe nichts anfangen kann: am Ende gibt es ein umfassendes Glossar mit ausführlichen Erläuterungen.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Eine satte Milieustudie

Glorreiche Ketzereien
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Cork. Hafenstadt im Süden Irlands. Bischofssitz. Erzkatholisch. Lisa McInerney erzählt in ihrem Erstling „Glorreiche Ketzereien“ von Menschen am Rand der Metropole. Von unten. Aus der Sozialbausiedlung. ...

Cork. Hafenstadt im Süden Irlands. Bischofssitz. Erzkatholisch. Lisa McInerney erzählt in ihrem Erstling „Glorreiche Ketzereien“ von Menschen am Rand der Metropole. Von unten. Aus der Sozialbausiedlung. Sie erzählt von Familien, von Erwartungen, von Reue und der Suche nach Erlösung. Von dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Von den Auswirkungen der Religion auf die irische Gesellschaft.

Zwei Personen dominieren den Roman, dessen Handlungszeitraum sich über starke fünf Jahre erstreckt: Maureen, knapp sechzig, Mutter des lokalen Gangsterbosses Jimmy „JP“ Phelan, erst seit kurzem wieder zurück in Cork. Als junge Frau von ihrer Familie nach der Geburt eines unehelichen Kindes nach London abgeschoben. Nicht ohne ihr vorher das Neugeborene wegzunehmen. Die voll Wut auf alles ist, was mit der Kirche zu tun hat. Die einem Einbrecher mit einem „Heiligen Stein“ den Schädel einschlägt und so eine unheilvolle Spirale in Gang setzt.

Und Ryan Cusack, guter Schüler, talentierter Klavierspieler, aber auch ältester Sohn von Tony, einem alleinerziehenden Vater von sechs Kindern, einem Säufer, Kleinkriminellen und Handlanger von JP, der seinen Ältesten misshandelt. Ryan, der sich nichts sehnlichster wünscht, als gesehen zu werden. Den eine große Liebe mit Karine, dem Mädchen aus der Mittelschicht, verbindet, die ihn zu verschlingen droht. Der zu einem wütenden jungen Mann heranwächst. Der aus den richtigen Gründen die falschen Entscheidungen trifft. Der eine Gefängnisstrafe verbüßen muss. Der aus den falschen Gründen die richtigen Entscheidungen trifft und so, zumindest auf Zeit, ein Leben rettet, dem aber sein eigenes Leben nichts wert ist.

Für den Fortgang der Handlung sind außerdem noch bereits erwähnter Gangsterboss, eine jungen Prostituierte sowie die unsympathische Nachbarin der Cusacks von Bedeutung. Jeder hat mit jedem zu tun und greift auf die eine oder andere Art und Weise in deren Leben ein.

Eine satte Milieustudie sind diese „Glorreichen Ketzereien“, aber auch ein Roman über das Erwachsenwerden unter schwierigsten Umständen. Plus dazugehörige Love-Story. Aber auch eine Abrechnung mit der Bigotterie der Kirche und der irischen Gesellschaft: „Die Kirche will Macht, mehr als alles andere, die Macht über alles Lebende. Die Kirche hat ein Ideal, und sie merzt alles aus, was sich dem in den Weg stellt. Die Kirche braucht blinde Hingabe…sie alle machen da mit. Ihnen ist eine Klasse zugeteilt worden, und an die klammern sie sich. Die Kirche schafft sich ihre Sünder, damit sie jemanden hat, den sie retten kann.“ Aber was geschieht mit denen, die nicht gerettet werden wollen?

McInerney nimmt kein Blatt vor den Mund. Sei es die Sprache oder auch die Themenfelder, die sie beackert. Schnappt euch das Buch und lest es, ihr werdet es nicht bereuen. Denn unter den Neuerscheinungen 2018 ist Lisa McInereys Debüt ein „Diamond in the Rough“!

Übrigens gibt es im Original bereits den Folgeband „The Blood Miracles“, in dem wir Ryan Cusack Wege weiterverfolgen können. Ich freue mich darauf.

Veröffentlicht am 03.11.2018

Dunkles Manchester

Dreckiger Schnee
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„Dreckiger Schnee“, das Debüt des englischen Autors Joseph Knox, wird von der britischen Tageszeitung „The Guardian“ mit Ian Rankins Edinburgh-Krimis auf eine Stufe gestellt. Nicht die schlechteste Referenz, ...

„Dreckiger Schnee“, das Debüt des englischen Autors Joseph Knox, wird von der britischen Tageszeitung „The Guardian“ mit Ian Rankins Edinburgh-Krimis auf eine Stufe gestellt. Nicht die schlechteste Referenz, aber dennoch gewagt, denn Rankin ist, zumindest für mich, das Maß aller Dinge in der Gattung des „Urban Noir“.

Manchester als Handlungsort ist interessant, wurde die Stadt doch noch nicht zig Mal in Krimis/Thrillern beackert (mir fällt hier nur die Mark Heckenburg-Reihe von Paul Finch ein). Ist aber eigentlich auch egal, könnte auch Buxtehude sein, denn die Unterwelt funktioniert überall nach den gleichen dreckigen Regeln. Im Zentrum der Handlung DC Aidan Waits, kein strahlender Held, sondern ein abgestürzter Polizist, der Drogen konsumiert und auch dem Alkohol nicht abgeneigt ist. Aber gerade diese Eigenschaften prädestinieren ihn nach Meinung seiner Vorgesetzten für einen Undercover-Job im Drogenmilieu. Isabell, Tochter eines hochrangigen Politikers, ist verschwunden und hat sich offenbar mit Zain Carver zusammengetan. Großdealer, ein schlimmer Finger, der immer wieder minderjährige Mädchen für seine schmutzigen Geschäfte einspannt. Sie verschwinden spurlos von der Bildfläche, bleiben unter dem Radar, und sollten sie doch wieder auftauchen, sind sie üblicherweise tot. Keine leichte Aufgabe für Waits, denn wie er bei seinem Ausflug in Manchesters Unterwelt feststellen muss, hat er es nicht nur mit den Drogenbossen zu tun. Denn es geht nicht nur um verschwundene Mädchen sondern auch um korrupte Politiker und bestechliche Kollegen.

Flüssig geschrieben, Spannung ab Beginn, ordentlich Tempo in der Geschichte, interessantes Personal, eine Hauptfigur mit Kanten und zahlreichen Narben auf der Seele. Sympathisch, mitfühlend, der aber auch ordentlich zulangen kann, wenn’s denn sein muss. Und sein muss es oft. Für meinen Geschmack insgesamt etwas zu ausschweifend erzählt, hier hätte man ohne Probleme das eine oder andere Mal den Rotstift ansetzen können, um die Handlung zu straffen.

Aber dennoch ist „Dreckiger Schnee“ alles in allem ein guter, solider Reihenauftakt, der zwar noch Luft nach oben hat, aber hoffen lässt. Denn auch Ian Rankin benötigte für seine Rebus-Krimis eine gewisse Anlaufzeit, bis sich deren Qualität entfaltete.